Lieblingskinder – Traudl Bünger

Traudl Bünger gehört zu einer ganzen Reihe von jungen Autorinnen, die in diesem Jahr debütieren. Für Traudl Bünger, die in Köln Literaturwissenschaft und Mathematik studiert hat und über das Thema “Narrative Computerspiele” promovierte, ist dies jedoch eigentlich kein wirkliches Debüt mehr in der Buchbranche. Nach einem Volontariat beim Verlag Kiepenheuer & Wietsch ist sie bereits seit mehreren Jahren Programmredakteurin des internationalen Literaturfestivals lit.Cologne und Kritikerin im Literaturclub.

Traudl Bünger erzählt die Geschichte von Rosalie, die als Staatsanwältin arbeitet. An einem Sonntag im Frühsommer trifft sie sich mit ihrem Vater zum Schweinebratenessen. Schon während der ersten Passagen wird dem Leser deutlich, dass etwas mit Rosalies Vater nicht stimmt. Das Gespräch ist geprägt von wahnhaften und fixen Ideen – es geht um die pazifische Auster und den asiatischen Buschmoskito. Am nächsten Tag ist Rosalies Vater verschwunden und Rosalie wird dazu gezwungen, sich mit ihrer Kindheit, mit ihrer Vergangenheit, auseinanderzusetzen. Beides kommt einem Minenfeld gleich.

“Und ich bin zu einem Rendezvous gebeten worden. Einem Rendezvous mit der kleinen Rosalie, der Rosalie, die glaubte, die Welt retten zu können, der Rosalie, die frei von Zynismus war und der es möglich gewesen ist, mehr als fünf Minuten mit ihrem Vater zu sprechen, ohne wütend oder traurig oder beides zu werden. Und die niemals drei Tage lang untätig geblieben wäre, wenn ihr Vater verschwunden wäre.”

In der Folge springt die Erzählung zwischen der Vergangenheit – ausgehend vom Jahr 1978, als Rosalie noch ein Kind war – und der Gegenwart hin und her. Rosalie ist zusammen mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Lily aufgewachsen. Das Verhalten ihres Vaters hat das Familienleben schon früh geprägt. Die Mutter und Lily leiden unter dem wahnhaften Verhalten des Vaters, der in endlosen statistischen Tabellen die Brenndauer von Glühbirnen dokumentiert. Für Rosalie, die noch sehr jung ist, ist der Vater ein wichtiger Bezugspunkt, ein Orientierungspunkt. Auch wenn es schon damals immer wieder zu Situationen kommt, in denen sie unglücklich ist. Es gibt ganze Abende, die sie mit ihrem Vater auf dem Dachboden verbringt, um ihm Zahlenkolonnen zu diktieren – während der Rest der Familie Abendbrot isst.

“Rosalie fühlt sich wie nach dem Kinderturnen, wenn alle schon laut schreiend rausgelaufen sind und niemand wartet, bis sie sich die Schuhe zugebunden hat.”

Mit der Zeit wird das Verhalten von Rosalies Vater immer neurotischer, immer krankhafter. Während die Mutter und Lily sich distanzieren und abwenden, hat Rosalie weiterhin ein enges Verhältnis zu ihrem Vater, dem sie glaubt und den sie dafür bewundert, dass er versucht die Welt zu verändern. Dies führt immer wieder zu Streit und Schwierigkeiten, in deren Zentrum häufig Rosalie steht.

“Wenn man seine Ohren verschließen könnte, dann hätte Rosalie ihre Ohren am Abend ihres siebten Geburtstages ganz fest um all die Aufregung, das Glück und die Erschöpfung verschlossen und sie hätte nicht gehört, wie sich ihre Eltern in der Küche anschrien. […] Sie hätte nicht Lilys vorwurfsvollen Blick ertragen müssen, als sie hörten, dass es um Rosalie ging. Ein Blick, der sie prüfte, als die Mutter sagte, dass der Vater Rosalie mit seinen Verrücktheiten gefährde. Der verächtlich wurde, als die Mutter weitersprach: Rosalie sei allzu empfänglich für Fantastisches und könne sich zwischen seinen Geschichten und der wirklichen Welt nicht orientieren. Der sich in reinen Hass verwandelte, als der Vater der Mutter entgegnete, dass sie nur eifersüchtig sei, weil er diese besondere Verbindung zu Rosalie habe und nicht sie.”

Rosalie glaubt lange daran, die Arbeit ihres Vaters fortsetzen zu können und möchte deshalb Journalistin werden. In der neunten Klasse hält sie ein Referat über den AIDS-Virus und die Theorie ihres Vaters, dass dieser von der amerikanischen Regierung gezüchtet worden ist. Im Anschluss organisiert Rosalie eine Ausstellung in der Schule zum dem Thema “AIDS – Dichtung und Wahrheit”. Erst spät gelingt es Rosalie zu erkennen, dass ihr Vater sich auch irren konnte. In einem Beitrag im Radio erfährt sie die Wahrheit über den AIDS-Virus. Wenn sie heutzutage an diesen Moment denkt, kommen ihr immer noch die Tränen. Es war der Moment, in dem sie sich entschieden hat, Jura zu studieren und nicht mehr Journalistin werden wollte.

“[…] und muss erfahren, dass die Wahrheit, die der kleinen Rosalie erzählt wurde, eine Kindergeschichte war. Eine Schnittfassung, eine zensierte Version der Wirklichkeit, bereinigt um die gruseligen Details. Dass damals alles darangesetzt wurde, die kleine Rosalie in dem Glauben zu lassen, dass das Gute am Ende triumphiert.”

Neben der Vergangenheit gibt es auch immer wieder den Sprung zurück in die Gegenwart und zu der Suche von Rosalie und Lily nach ihrem Vater. Unterstützt werden die beiden von Tobias Ochsenmeyer, einem Nachbar des Vaters. Tobias hatte schon während Rosalies Kindheit im Nachbarhaus gelebt. Er hat sein Elternhaus umbauen lassen und ist als erwachsener Mann dorthin zurückgekehrt. Es musste umgebaut werden, da Tobias im Rollstuhl sitzend in sein Elternhaus zurückkehrt. Es gelingt ihm, Zugriff auf den Computer von Rosalies Vater zu bekommen und beide durchsuchen gemeinsam die angelegten Ordner und Dokumente. Am Ende der dreiundzwanzigtägigen Suche ist Rosalie nicht nur Tobias näher gekommen, sondern glaubt schon wieder fast daran, dass ihr Vater tatsächlich einer heißen Spur auf der Fährte gewesen ist.

Doch am Ende war Rosalie wahrscheinlich nur sich selbst auf der Spur, der Beziehung zu ihrem Vater, der eine Vergangenheit generiert hat, die der Realität heute nicht mehr Stand halten kann, der ihre Kindheit bestimmt hat, die sich mittlerweile als Illusion herausgestellt hat. Bestimmt ist die Beziehung heutzutage durch ein Gefühl der Schuld, den Vater in seinem Wahn zurückgelassen zu haben.

„Ich will nicht dahin. Von dort ist es nicht mehr weit zu dem Ort, wo die kleine Rosalie wohnt. Die kleine Rosalie, die mich verachtet, weil ich den Kampf aufgegeben habe. Nicht nur den Kampf mit meinem Vater, auch den Kampf um meinen Vater.“

Doch dann ist da auch immer noch Tobias, mit dem Rosalie eine gemeinsame Vergangenheit hat. Auch diese Vergangenheit ist bestimmt von einem diffusen Gefühl der Schuld.

Ich glaube, dass die Geschichte über Rosalies Vater nicht unbedingt im Zentrum des Romans steht. Am Ende rückt die Beziehung zwischen Rosalie und Tobias immer stärker in den Mittelpunkt, die sich sehr sanft und vorsichtig entwickelt. Doch für mein Empfinden ist auch diese Beziehung nicht zentral für den Roman. Für mich steht eindeutig Rosalie im Mittelpunkt. Rosalies Kindheit und damit verbunden natürlich auch das Schuldgefühl, das Rosalie in sich trägt. Schuld habe ich als ein ganz zentrales Thema empfunden. Kann man für das Tun anderer Menschen verantwortlich sein, kann man sich an den Taten anderer Menschen mitschuldig machen? Macht man sich schuldig, wenn man jemanden aufgibt, um sein eigenes Leben führen zu können? Wie verantwortlich kann man für einen anderen Menschen sein?

Mir hat der Roman von Traudl Bünger ausgesprochen gut gefallen. “Lieblingskinder” ist ein rasanter Roman, der sehr pointiert und humoristisch erzählt wird. Eigentlich gefallen mir humoristische Texte häufig nicht, doch Traudl Bünger gelingt es, dass Rosalie genau den richtigen, den passenden Ton trifft. Rosalie ist eine tolle Figur mit einem hohen Identifikationspotential. Sehr gut gefallen hat mir auch die wirklich rasante Entwicklung am Ende des Romans, über die ich jedoch nicht zu viel schreiben möchte, aus Angst zu viel zu verraten.

Für mich ist “Lieblingskinder” eine Parabel dafür, dass eine kindliche Märchenwelt irgendwann zwangsläufig Gefahr läuft, an der Realität zu zerbrechen. Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass ich am liebsten zu Rosalie gehen, sie umarmen und ihr ein bisschen von ihrer Schuld abnehmen würde.

5 Comments

  • Reply
    Mariki
    June 21, 2012 at 1:08 pm

    Danke für den Tipp, das Buch kommt gleich auf meine Wunschliste!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 23, 2012 at 2:11 pm

      Liebe Mariki,

      hach, ich freue mich sehr, dass zu hören und bin schon gespannt darauf, wie es dir gefällt, solltest du es dir kaufen. 🙂

  • Reply
    haushundhirschblog
    June 22, 2012 at 6:33 pm

    Herzlichen Dank für diese Besprechung!

    Was ich teile: “Eigentlich gefallen mir humoristische Texte häufig nicht ..”.
    Schön, dass Du (auch) das erwähnt hast.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 23, 2012 at 2:10 pm

      Hallo lieber haushundhirschblog,

      danke für deinen lieben Kommentar. Ich freue mich, dass du meine Einschätzung von humoristischen Texten teilst. Ich habe damit einfach Schwierigkeiten, deshalb war ich um so überraschter, dass die Stimme von Rosalie mich bis ins Mark getroffen hat.

      Ich habe lange überlegt, ob ich diese Abneigung erwähnen soll, nachdem ich schon mit meiner Abneigung von Krimis daneben gelegen habe. Ich freue mich aber, dass das bei dir zumindest nicht falsch angekommen ist.

  • Reply
    Traudl Bünger: Lieblingskinder | Bücherwurmloch
    July 15, 2013 at 11:50 am

    […] habe ich das Buch bei Mara von buzzaldrins Bücher, die es jedoch um einiges euphorischer besprochen hat als […]

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