Chucks – Cornelia Travnicek

Download (89)Von der jungen österreichischen Autorin Cornelia Travnicek sind 2009 bereits die Erzählungen “Fütter mich” im Verlag Skarabaeus erschienen. “Chucks” – im März 2012 erschienen – kann aber sicherlich dennoch als ihr Romandebüt bezeichnet werden. Cornelia Travnicek wurde 1987 geboren. Sie studierte Sinologie und Informatik und arbeitet heutzutage als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Trotz ihres noch jungen Alters hat sie bereits zahlreiche Arbeits- und Aufenthaltsstipendien erhalten. Beim FM4 Wortlaut Wettbewerb 2009, einem Nachwuchswettbewerb in Österreich, hat sie mit Auszügen aus “Chucks” den dritten Platz belegt. Cornelia Travnicek hat eine eigene Homepage, einen Blog und ist daneben auch bei Twitter aktiv.

“Wir sind eine Collage […], wir setzen uns zusammen aus sehr vielen kleinen Einzelheiten, physisch und psychisch, und jeden Tag müssen wir darum kämpfen, dass wir nicht auseinanderfallen, dass davon nichts verloren geht, dass wir bleiben, wer wir sind.”

Mae heißt eigentlich Maeva, “das sagt aber niemand”. Sie ist Anfang zwanzig, hat die Schule noch nicht abgeschlossen, wobei es auch unklar ist, ob es dazu noch mal kommen wird und zieht als Punk durch die Straßen von Wien. Ihre Zeit verbringt sie am liebsten mit Tamara, die von allen nur Mara genannt wird.

“Mae und Mara, das waren wir, nicht mehr ganz unbeschadet, der einen fehlte die erste, der anderen die letzte Silbe. Dafür hatten wir einander.”

Mit Tamara diskutiert Mae gerne über Moleküle und Metaphysik und eine ganze Weile gibt es zwischen den beiden etwas, das mehr ist als Freundschaft. Doch während Mae in ihrer Freizeit gerne Vorlesungen an der Uni besucht – auch wenn sie noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hat – experimentiert Tamara bereits mit harten Drogen. Als Mae eines Tages während einer Hausbesetzung den zukünftigen Architekten Jakob kennen lernt, werden beide ein Paar. Mae zieht zu ihm in die Wohnung, doch auch wenn der wesentlich ältere Jakob ihr ein Zuhause und damit verbunden sehr viel Sicherheit bieten kann, fängt Mae schnell an, sich zu langweilen.

Ablenkung findet Mae im Aids-Hilfe-Haus, in dem sie Sozialstunden ableisten muss. Dort lernt sie Paul kennen, der an Aids erkrankt ist. Der Kontakt zu Paul weckt in Mae viele Erinnerungen. Erinnerungen an ihren Bruder Sebastian. Von ihrem Bruder sind ihr nur die roten Chucks geblieben, die sie am Tag nach seinem Todangezogen hat. Seitdem hat sie nie wieder andere Schuhe getragen. Sebastian ist an Krebs gestorben. Sein Tod hat Mae nicht nur ihren Bruder genommen, sondern auch die Familie geraubt, die daran zerbrochen ist.

“Seit jenem Tag, an dem mein Vater über eine Stunde lang vor der Tür unseres Hauses den Namen meiner Mutter gebrüllt, zuerst mit der Faust und dann mit der flachen Hand dagegengeschlagen hatte, war alles anders. Nicht viel, nur wie wenn man beim Radfahren das Gefühl hat, dass der Reifen eiert, man stehen bleibt, sich hinunterbeugt, aber keine Veränderung erkennen kann. Nicht dass vorher alles normal gewesen wäre. Aber nach dem, was geschehen war, war das Wort ‘normal’ in Bezug auf uns relativ geworden. Meine Mutter und ich hatten gemeinsam überlebt, im Schweigen, mit dieser verschlossenen Tür im ersten Stock.”

Auch wenn Mae ihren Bruder nicht häufig besuchen durfte, hat sie doch miterleben müssen, wie er langsam gestorben ist. Wie die Ärzte versucht haben, mit einer Chemotherapie den Krebs zu töten, doch dabei eigentlich ihren Bruder langsam aufgelöst haben. Bis er verschwunden ist und nichts mehr von ihm übrig geblieben ist. Die Tür zu seinem Zimmer blieb nach seinem Tod verschlossen, es wurde nie wieder betreten.

“Sebastian. Se-bas-ti-an. Jede Silbe dieses Namens nahm in meinem Kopf Anlauf, stieß mir von hinten gegen die Augäpfel wie ein Meißel, wollte Tränen absprengen wie kleine Gesteinssplitter. Das ist ein unaussprechlicher Name.”

Kurz nachdem Mae Paul kennenlernt, zieht sie bei Jakob aus und bei Paul ein. Paul geht es zu diesem Zeitpunkt bereits schlecht. Obwohl sie am Anfang noch gemeinsame Ausflüge machen können, verschlechtert sich sein Zustand in den kommenden Wochen zunehmend. Bis Mae eines Tages entscheidet, einen Krankenwagen zu rufen, damit Paul in ein Krankenhaus kommen kann.

Maes Bruder Sebastian ist  einfach verschwunden, er hat sich aufgelöst und zurückgeblieben sind lediglich die roten Chucks, die sich wie ein Leitmotiv durch den Roman ziehen. Mae möchte verhindern, dass dasselbe noch einmal mit Paul geschieht. Auf einer Tupperparty bei ihrer Mutter bestellt sie 13 kleine Tupperdöschen. Nach Ausbruch der Krankheit beginnt sie damit, Paul in diesen Döschen zu sammeln. Unter dem Sofa findet sie abgeschnittene Fußnägel, im Krankenhausbett schneidet sie Paul eine Haarsträhne ab oder fängt die Luft in seinem Krankenhauszimmer ein. Die kleinen Döschen lagert sie in dem Gefrierschrank. In den kleinen Döschen befindet sich ein Stück von Paul, ein Stück der gemeinsam verbrachten Zeit, eine Erinnerung, die man immer wieder herausholen und befühlen kann. Ein Stück von Paul.

“Auf dem Heimweg stelle ich mir vor, wie das sein wird, wenn ich alleine in unserem Bett liege und darauf warte, dass die kleinen Döschen langsam warm werden in meinen Händen. Wie ich Paul aus ihnen herausnehme, immer wieder.”

Paul löst sich auf und verschwindet, aber Mae sammelt ihn in dreizehn kleinen Tupperdöschen, um sich ein Teil von ihm bewahren zu können. So wie sie seit dem Tod ihres Bruders dessen Chucks trägt.

Cornelia Travnicek ist mit “Chucks” ein beeindruckendes Romandebüt gelungen. “Chucks” wird sehr flott, sehr rasant erzählt. Die Sprache ist einfach und eingängig, doch zwischen den Zeilen verbirgt sich sehr viel mehr. Es gibt viele beeindruckende Passagen, dementsprechend viele Postits musste ich auch bei dieser Lektüre wieder verwenden. Der Schreibstil von Cornelia Travnicek ist außergewöhnlich, obwohl nüchtern und sachlich, vermittelt der Roman dennoch sehr intensive Gefühle. Beim Lesen fühlt sich das, was man liest einfach nur echt und authentisch an, was sicherlich auch an den interessanten Figuren, besonders an Mae, liegt. Trotz des traurigen Inhalts, strahlt das Buch eine gewisse Leichtigkeit aus. Mae, die durch Pauls Krankheit mit dem Tod, mit der Tatsache, das Paul jederzeit sterben kann, konfrontiert ist, beginnt damit, sich viele Fragen zu stellen. Paul ist trotz seiner Erkrankung sehr lebensfroh. Die Idee, Stücke von Paul in den Tupperdöschen zu sammeln fand ich wunderschön traurig.

Schwierig sind die vielen zeitlichen Sprünge, da die Handlung immer wieder zwischen der Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringt und mir beim Lesen nicht immer klar war, wo ich mich gerade eigentlich befinde. Das Ende des Romans ist offen gehalten und ich bin mir noch nicht sicher, ob es mir gefällt – es lässt auf jeden Fall Raum für eigene Spekulationen und Interpretationen.

Eine reine Randbemerkung, die ich aber interessant fand, ist die Tatsache, dass Paul als Haustier zwei Axolotls besitzt – was ich als kleinen Verweis auf Helene Hegemann gelesen habe.

“Chucks” ist ein schöner, ein eingängiger Roman, dem es gelingt, ein schwieriges Thema sehr nüchtern und sachlich und dennoch mit viel Gefühl zu erzählen. Mae ist eine tolle Protagonisten, eine Figur, mit der man sich identifizieren kann und die ihre eigene Stimme hat.

2 Comments

  • Reply
    Doris
    June 24, 2012 at 7:05 am

    Liebe Mara,
    ich bin noch ganz am Anfang mit dem Buch und weiß ehrlich gesagt noch nicht so richtig was ich davon halten soll.
    So richtig gepackt hat mich die Geschichte noch nicht

    Beste Grüße
    Doris

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 24, 2012 at 9:10 am

      Liebe Doris,
      ich bin über das Buch zunächst in der “buch aktuell” gestolpert. Ein paar Tage später wurde es in der Büchereule von Herrn Palomar empfohlen. Mir hat es gut gefallen, auch wenn ich zu Beginn auch leichte Anlaufschwierigkeiten hatte, aufgrund der vielen zeitlichen Sprünge. Begeistert hat mich vor allem die Sprache, die Stimme von Mae.
      Ich bin schon gespannt auf dein Fazit. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

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