Das Buch des Vergessens – Douwe Draaisma

51sxdmwa4ulDouwe Draaisma wurde 1953 geboren und ist Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen. Sein Interesse liegt vor allem in der Erforschung des Gedächtnisses und 1999 wurde er für seine Leistungen auf diesem Gebiet mit dem Heymanspreis ausgezeichnet. Bisher sind auf Deutsch von ihm “Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird”, “Geist auf Abwegen” und “Die Heimwehfabrik” erschienen.

“Wer hegt nicht das Ideal eines Gedächtnisses, in dem seine Erinnerungen sicher sind?”

“Das Buch des Vergessens” trägt den Untertitel Warum unsere Träume so schnell verloren gehen und sich unsere Erinnerungen ständig verändern. In dreizehn Kapiteln beschäftigt sich Douwe Draaisma mit Erinnerungen und dem Gedächtnis und nähert sich diesen zentralen Themen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Eine zentrale Perspektive ist dabei natürlich, der Titel suggeriert dies bereits, das Vergessen.

“Angenommen, Ihr Gedächtnis sähe so aus: ein geräumiges Zimmer. Das Licht fällt durch hohe Fenster. Sauber und ordentlich ist es. Ihre Erinnerungen stehen geordnet in langen Regalreihen an der Wand, sorgfältig gepflegt, aufgezeichnet, registriert. Treten Sie ruhig näher, nehmen Sie ein Buch, einen Ordner heraus. Sie lösen die Bänder, blättern ein wenig, und schon bald halten Sie das Gesuchte in Händen. Sie begeben sich damit an den Tisch und breiten Ihren Fund auf der glänzenden Oberfläche aus. Setzen Sie sich hin, Sie haben alle Zeit der Welt. Es ist still hier, niemand wird Sie stören. Wenn Sie zu Ende gelesen haben, falten Sie die Papiere wieder zusammen, schnüren die Bänder zu und stellen den Ordner ins Regal zurück. Sie schauen sich noch kurz im Zimmer um, Ihr Blick gleitet über die Bände, die dezent aufleuchten, und dann ziehen Sie die Tür gelassen hinter sich zu, im Bewusstsein, dass alles, was hier steht, bis zu Ihrem nächsten Besuch unberührt bleiben wird. Denn Sie wissen: Wenn Sie nicht hier sind, ist niemand da.”

Dies ist der erste Absatz des Vorwortes, das den Titel Über das Vergessen trägt und in dem Douwe Draaisma mit leichter Feder, aber dennoch auf einem literarisch ansprechenden Niveau in die zentrale Thematik seines Buches einführt. Zunächst ist Draaisma darum bemüht, den Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis und dem Vergessen aufzuzeigen. Über beides spricht man häufig in Metaphern. Für das Gedächtnis gibt es viele Metaphern, die die Archivfunktion betonen: die Festplatte oder auch der Computer sind einige davon. Die Metaphern für das Vergessen dagegen sind negativ konnotiert.

“Gedächtnismetaphern versinnbildlichen in ihrem Kern Archive. Sie vermitteln die Vorstellung, dass das Gedächtnis etwas zu bewahren vermag, und zwar im besten Fall intakt und vollständig. Dass dies vollkommen logisch klingt, ist jedoch genau das Problem. Denn das Gedächtnis wird vom Vergessen beherrscht.”

Douwe Draaismas Hauptinteresse ist das Vergessen und die Funktion, die Vergessen haben kann. Im Mittelpunkt der kurzen Kapitel stehen zwei Fragen: wodurch vergessen wir und warum vergessen wir? Für Draaisma gehören diese beiden Aspekte untrennbar zusammen, Vergessen und Erinnerung sind so miteinander verwoben, dass man das eine kaum ohne das andere betrachten kann.

“Warum gibt es zwar ein Gedächtnistraining, aber keine Technik für das Vergessen? Und wenn es sie gäbe, wäre es dann empfehlenswert, sie zu nutzen? Welches Schicksal haben verdrängte Erinnerungen – und wo halten sie sich auf? Existiert so etwas wie ‘Verdrängen’ überhaupt?”

In “Das Buch des Vergessens” stehen vier Aspekte von Vergessen und Erinnerung im Mittelpunkt: das Vergessen im autobiographischen Gedächtnis, pathologische Formen des Vergessens, heutige Auffassungen über das Vergessen und die Veränderung von Erinnerungen. Den letzten Aspekt, die Veränderung von Erinnerungen, die im Rückblick manchmal – weil sich die Situation geändert haben mag – eine andere Form und Gestalt annehmen, hat mir persönlich am besten gefallen. Draaisma bezieht sich in seinen Ausführungen auf den ungarischen Schriftsteller Peter Esterházy, der in einem Buch mit dem Titel “Verbesserte Ausgabe”, seine Erinnerungen an seinen Vater umschreiben und neu interpretieren musste. Unterlagen des ungarischen Geheimdienstes, zu denen er erst spät Zugang erhalten hat, haben ihn zu diesem schmerzhaften und traurigen Prozess gezwungen. Geliebte Erinnerungen an den geschätzten Vater verändern plötzlich ihre Gestalt und erzeugen einen bitteren Nachgeschmack.

“Das ist auch eine Form des Vergessens: keinen Zugang mehr zu dem zu haben, was Erinnerungen ursprünglich für einen selbst bedeutet haben.”

Der Roman schließt mit einer Anregung für heikle Fragen, beispielsweise über die erste Erinnerung, die der Autor – in Anlehnung an Max Frisch – unbeantwortet lässt, die aber dazu einladen, sich mit ihrer Beantwortung zu beschäftigen oder auch mit anderen darüber zu diskutieren.

Douwe Draaisma hat mich mit seinem Buch des Vergessens nicht nur anschaulich und nachvollziehbar informiert und dabei neueste psychologische Kenntnisse vermittelt, sondern er konnte mich dabei auch noch begeistern, mitreißen und immer wieder auch persönlich berühren. Ihm gelingt es, das ungeliebte Vergessen, auf das wir häufig keinen Einfluss nehmen können, aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten. Trotz der literarischen Qualität seines Buches, erfüllt es einen wissenschaftlichen Anspruch: ich habe mich einerseits gut unterhalten gefühlt, hatte andererseits aber auch immer den Eindruck, verlässliche und interessante Informationen aufzunehmen und abzuspeichern. Ich habe zum ersten Mal von Henry M. und Soldat S. gelesen und etwas über das Korsakow-Syndrom erfahren. Berührt hat mich die Lebensgeschichte von Peter Esterházy, einem Autor, von dem ich bisher leider noch nichts gelesen hatte.

Ein unheimlich spannendes und anregendes Leseerlebnis, das mich neugierig auf die weiteren Bücher dieses Autors macht.

10 Comments

  • Reply
    Jarg
    January 13, 2013 at 1:33 pm

    Hallo Mara,
    das klingt nach einem wunderbaren, anregenden Buch von der Art, die Wissen mit Niveau und doch sprachlich ansprechend und lesbar vermittelt. Dazu noch zu einem Thema, dass mich immer wieder umtreibt … In diesem Sinne: Danke für den Tipp!!
    Liebe Grüsse von
    Jarg

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2013 at 7:34 pm

      Hallo Jarg,
      freut mich sehr, dass meine Buchbesprechung dich ansprechen konnte. Mich hat “Das Buch des Vergessens” sehr begeistert, auch wenn ich sonst eigentlich nicht häufig Sachbücher lese. Ich bin gespannt, wie es dir gefällt, wenn du es lesen solltest. Interessant finde ich, dass so viele Interesse an diesem Thema haben (Laura schrieb das ja auch), mich selbst interessiert dieses Thema auch schon länger. Bei Draaisma fasziniert mich vor allem die gelungene Mischung, da er sowohl auf neueste Traumatherapien eingeht, als auch auf schon länger zurückliegende Patientenschicksale und Gehirnoperationsmethoden.
      Liebe Grüße und einen schönen Abend
      Mara

      • Reply
        Jarg
        January 13, 2013 at 8:05 pm

        Eben das finde ich spannend: den Bezug zur aktuellen Hirnforschung, den er offenbar auch zieht. Da hat sich so immens viel an neuen Erkenntnissen über unseren Denkmuskel ergeben, dass man Staunen kann …
        Auch Dir einen zauberhaften Abend!
        Jarg

  • Reply
    Gaby
    January 13, 2013 at 3:48 pm

    Ich kann mich Jarg nur anschließen. Du hast mein Interesse für das Buch geweckt… schon wieder…. wenn das so weiter geht, kann ich einen eigenen Stapel SuBTvM = Stapel ungelesener Bücher Tip von Mara anlegen… aber erstaunlicherweise ist das auch der Stapel, der am schnellsten schrumpft… 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2013 at 7:39 pm

      Liebe Gaby,
      hach, ich freue mich, dass ich dein Interesse wecken konnte und scheinbar ja nicht nur mit diesem Buch. 🙂 Falls du es lesen solltest, wünsche ich dir ganz viel Spaß dabei: ich hatte das Gefühl unheimlich viel Interessantes zu lernen und gleichzeitig gut unterhalten zu werden.

      Ich hoffe, wir sehen uns spätestens zur Lesung von Vea Kaiser, auf die ich mich schon total freue! 🙂

  • Reply
    laura
    January 13, 2013 at 5:20 pm

    Auch ich bin dir dankbar für diesen “literarisches-Sachbuch-Tipp” 🙂 Das Thema treibt mich gedanklich auch schon lange um, vor allem die Frage, was Vergessen wirklich bedeutet, bzw. ob es verschiedene Formen des Vergessens gibt? Man vergisst manchmal Begebenheiten, und erinnert sich dann – ausgelöst durch einen Duft, durch ein Lied bspw. – doch wieder daran… Dann haben wir doch eigentlich nur “temporär vergessen”. Oder fällt das dann in die Kategorie : Verdrängung? Und wo in uns befand sich die Erinnerung in der Zwischenzeit?…. Spannend! Schönen Sonntagabend wünscht Laura von aboutsomething

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2013 at 7:27 pm

      Liebe Laura,
      herzlichen Dank für deinen spannenden Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe. Die Fragen, die du dir stellst, stellt sich auch Douwe Draaisma in seinem Buch und zeigt ganz unterschiedliche Forschungsansätze auf. Du spielst mit deinem Kommentar sicherlich auch auf Proust und seine Madeleine-Episoden an, oder? Ein Forscher namens Penfield hat in den 60er Jahren viel dazu geforscht und war überzeugt, durch elektronische Stimulation des Gehirns “vergessene Erinnerungen” wecken zu können. Bezeichnet wurde das damals übrigens als “eine elektrische recherche du temps perdu”. Proust auf dem Operationstisch. Ich finde diese Fragen sehr spannend, in eine ähnliche Richtung gehen ja auch die “Tagesreste” bei Freud. Faszinierend fand ich auch den Fall von Henry M., der aufgrund schwerer epileptischer Anfälle operiert wurde. Danach hatte er keine Erinnerungen mehr an die Vergangenheit und auch keine Vorstellung mehr von der Zukunft, er konnte Erinnerungen und Eindrücke einfach nicht mehr im Gedächtnis speichern. Er hat ein Leben innerhalb von einer Zeitspanne von nicht einmal einer Minute gelebt.
      Mich haben diese Themen – Erinnerung, Vergessen und Gedächtnis – schon immer fasziniert und finde Draaismas Buch deshalb auch unheimlich spannend. Ich bin sehr gespannt, wie dir das Buch gefallen wird, falls du es liest.

  • Reply
    Susanne Haun
    January 13, 2013 at 7:41 pm

    Liebe Mara,
    ich freue mich schon, dieses Buch zu lesen. Es steht nicht nur auf meiner Wunschliste sondern ganz oben auf meiner Wunschliste und ich bin sehr gespannt.
    Es ist erstaunlich, wie man das Gedächtnis trainieren kann und welche Tricks zum Bewahren von Erinnerungen es gibt.
    Einen schönen Abend wünscht dir Susanne

  • Reply
    Klausbernd
    January 14, 2013 at 2:50 pm

    Liebe Mara,
    ich halte das Vergessen für einen kreativen Akt des Gedächtnisses wie auch die Bearbeitung der Gedächtnisinhalte, mit denen ich mich als einer, der an Träume interessiert ist, beschäftigt habe. Herzlichen Dank für die Vorstellung dieses Buchs, das ich nicht kannte. Das wird sich ändern.
    Liebe Grüße vom Meer
    Klausbernd

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 15, 2013 at 2:44 pm

      Lieber Klausbernd,
      schön, dich hier zu lesen. Beim Lesen des Buches habe ich schon immer wieder gedacht, dass das doch ein Buch für dich sein könnte, denn auch Träume spielen bei Draaisma eine wichtige Rolle. Mir fällt auf, dass ich dieses in meiner Besprechung gar nicht erwähnt habe. Das Buch enthält so vieles, das ich leider nicht alle Aspekte nennen konnte. Ich bin gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefallen wird.

      Liebe Grüße aus dem verschneiten und kalten Bremen.

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