Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag – Gabriele Goettle

Die Autorin Gabriele Goettle wurde 1946 geboren und hat Bildhauerei, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Seit mehr als zwanzig Jahren schreibt sie Reportagen, die überwiegend in der taz veröffentlicht werden. 1995 wurde sie mit dem Ben-Witter-Preis und vier Jahre später mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet. Heutzutage lebt die Autorin in Berlin.

“Der Augenblick” versammelt sechundzwanzig Reportagen der Autorin, deren zentrales und vereinigendes Thema – der Untertitel des Buches deutet bereits darauf hin – eine Reise durch den unbekannten Alltag ist. Gabriele Goettle besucht Frauen, reist durch Deutschland und gewinnt Einblicke in das Leben unterschiedlicher Menschen: einer Buchhändlerin, einer Körperhistorikerin, einer Sozialarbeiterin, einer Arbeitslosen, einer Rechtsmedizinerin. Insgesamt sechsundzwanzig Frauen erzählen authentisch und unverfälscht aus ihrem Leben, ihrem Alltag und dem, was sie in ihrem Beruf erleben. Die Frauen werden in einer kurzen Einleitung vorgestellt, in der ihre wichtigsten Lebensdaten zusammengefasst werden. In den Reportagen kommen die Frauen dann überwiegend selbst zu Wort, unterbrochen lediglich von Eindrücken und Beobachtungen der Autorin, die sich ansonsten jedoch sehr zurücknimmt und die Rolle einer Beobachterin einnimmt.

Als ich das Buch aufschlug, um die erste Reportage zu lesen, war ich überrascht, denn es handelt sich um ein Porträt der Bremer Buchhändlerin Bettina Wassmann. Bettina Wassmann betreibt seit 1969 ihre eigene Buchhandlung Wassmann in der Bremer Innenstadt. Neben ihrer Arbeit als Buchhändlerin ist sie auch als Verlegerin tätig und für die Veröffentlichung mehrere bibliophiler Bücher verantwortlich. Bettina Wassmann war mit Alfred Sohn-Rethel verheiratet, einem marxistischen Philosophen und Wirtschaftssoziologen.

“Der Buchladen von Bettina Wassmann liegt in der Innenstadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlagen, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage übrigens war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands.”

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In dem Porträt, das unter dem Motto “Hand- und Kopfarbeiterin”  steht, spricht Bettina Wassmann über ihre Arbeit als Buchhändlerin. Ihre Buchhandlung musste mittlerweile verkleinern, nachdem sie sich zu Beginn noch über zwei Etagen erstreckte. Überhaupt beklagt sie, dass sich die Zeiten seit der Eröffnung des Buchladens geändert haben. Früher hatte sie noch Kunden, wie den ehemaligen Werdertrainer Otto Rehhagel oder die Leiterin des Bremer Tanztheaters, heutzutage ist das alles schwieriger geworden und Bettina Wassmann muss sich diesen modernen Entwicklungen anpassen und “flexibel” bleiben.

“600 Euro habe ich hier, und noch mal 600 Euro zu Hause. Also, machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mußten hier raus. Mit dem Verlag – naja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition – , das habe ich einfach im Moment eingestellt.”

Ich habe es als unheimlich spannend empfunden, nicht nur von der Arbeit einer Buchhändlerin und Verlegerin zu lesen, sondern mich mit dem Buch in der Hand auf den Weg machen zu können und die Orte zu besuchen, die im Buch beschrieben werden. Auch wenn ich zeit meines Lebens in Bremen wohne, habe ich diese Buchhandlung zuvor nicht gekannt – zu versteckt liegt sie zwischen Bettengeschäften und Designermöbelläden. Am Tag meines Besuches hatte die Buchhandlung leider bereits geschlossen, doch es wird wohl nicht mein letzter Abstecher dorthin gewesen sein.

Auch die anderen Reportagen von Gabriele Goettle sind sowohl spannend, als auch lebensnah geschildert. Sie porträtiert die bekannte Körperhistorikerin Barbara Duden, aber auch ganz unbekannte Menschen und deren Berufe. Einige der vorgestellten Berufe und unbekannten Alltage, waren mir sehr fremd, beispielsweise das Porträt von Ingrid Distler, die Weltmeisterin im Bodybuilding ist und über Körperfett, ihren Hüftumfang, ihre Taille und ihren Bizeps spricht. Bei Beispielen wie diesem fiel es mir schwer, mich auf die Lebenswelt dieser Menschen einzulassen.  Gabriele Goettle taucht dagegen scheinbar ohne Vorbehalte und Vorurteile ab in die Lebensentwürfe von ihr fremden Menschen, auch wenn diese auf den ersten Blick noch so abwegig oder fremd erscheinen mögen. Das habe ich bei der Lektüre als sehr bewundernswert empfunden. Sie widmet sich auch schwierigen Themen, besucht eine Rechtsmedizinerin, die auf Kindesmisshandlungen spezialisiert ist, eine Bestatterin oder auch eine Sozialarbeiterin. Am berührendsten und eindrücklichsten empfand ich das Porträt einer Altenpflegerin, die eine Demenz-WG gegründet hat.

“Der Augenblick” von Gabriele Goettle ist ein vielschichtiges Buch, in dem es vieles zu entdecken gibt. Sie befragt ausschließlich Frauen, die sie in ihrer Lebens- und Berufswelt porträtiert. Dabei sind eindrückliche Gespräche und Momentaufnahmen gelungen, die ich sehr gerne gelesen habe. Eine Empfehlung, nicht nur für Frauen!

24 Comments

  • Reply
    Muromez
    February 14, 2013 at 12:18 pm

    Wunderbarer Laden. Schön ranzig, altertümlich – ich glaube, ich würde mich dort wohlfüllen 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 5:12 pm

      Das habe ich auch gedacht, als ich dort war! Ich habe mich sofort angezogen gefühlt von diesem Ort und freue mich schon auf meine nächsten Besuche und Einkäufe dort. 🙂

  • Reply
    Eva Jancak
    February 14, 2013 at 3:31 pm

    Spannend ein bißchen was von Bremens Buchleben zu erfahren

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 5:11 pm

      Schade nur wenn man sehen muss, dass dieser Buchladen kaum besucht ist, sondern alle in die Innenstadt zum Thalia stürmen. Vor einiger Zeit hat in der Geschäftsstraße bereits ein anderer Buchladen aufgegeben, den ich immer gerne besucht habe.

      • Reply
        Eva Jancak
        February 16, 2013 at 8:11 am

        Dabei kostets durch die Buchpreisbindung überall gleich, ich muß aber gestehen, daß ich, wenn ich in St. Pölten bin, auch kaum in den Schubert gehe, die vergleichbare Buchhandlung oder mir mir von dort höchstens das Buch zum Welttag des Buches abhole, sondern zum Thalia mit seinen Wühlkisten, wo man eine Stunde lang herumgehe und die Bücher anlesen kann. Woran das liegen mag, daß das Größere, Anonymere anzieht, als das, wo man zum Tresen gehen muß oder gleich gefragt wird, was man haben will?

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          February 17, 2013 at 4:18 pm

          Keine Ahnung, wobei ich auch gerne in der Anonymität einkaufe, da man in kleineren Buchläden irgendwie schnell oder Beobachtung gerät. Gerne kaufe ich in der Storm Buchhandlung ein, in der auch Vea Kaiser gelesen hat. Sie ist kleiner als der Thalia, persönlicher – dort lasse ich einfach gerne mein Geld. Die Verkäufer sind freundlich, drängen sich aber auch nicht auf und trotzdem kann ich mir dort die Zeit nehmen, in Ruhe Bücher anzusehen. Ich plane schon lange einen Bericht über die unterschiedlichen Buchhandlungen Bremens, weil ich diese Vielfalt einfach spannend finde, genauso wie die Frage, wer gerne in welchen Buchladen geht. Ich werde die Buchhandlung Wassmann auf jeden Fall noch das ein oder andere Mal besuchen, aber am liebst gehe ich dann rein, wenn dort schon andere Kunden drin sind. 😉

  • Reply
    Susanne Haun
    February 14, 2013 at 4:37 pm

    Liebe Mara,
    das ist ein Buch, in dem ich am liebsten sofort blättern möchte. Danke für den Tip und für die schönen Fotos dazu.
    Von wem ist die Skulptur, an der die vielen Fahräder stehen? Sie ist beeindruckend finde ich.
    Ich werde dann mal meine Wunschliste erweitern, einen schönen Tag sendet dir Susanne

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 5:07 pm

      Liebe Susanne,
      ich glaube auch, dass dir das Buch bestimmt gefallen würde! Es ist eins, in das man immer wieder hineinblättern kann und dabei etwas neues entdeckt. Ich habe mir für die 26 Reportagen aus diesem Grund auch viel Zeit gelassen. Ich wäre sehr gespannt, wie du es findest, falls du es mal in die Hände bekommen solltest. 🙂
      Ich habe seit gestern fleißig für dich recherchiert, um herauszufinden, um was es sich für eine Skulptur handelt. Wenn ich nicht ganz falsch liege ist es die Bronzeplastik “Das Ende” von Bernd Altenstein. Sie befindet sich in Höhe der Bischofsnadel (einem Verkehrsknotenpunkt für Fußgänger und Fahrradfahrer, da dies der Weg in die Innenstadt ist) und wurde 1978 angefertigt.
      Liebe Grüße und dir noch einen schönen Abend!
      Mara

      • Reply
        Susanne Haun
        February 21, 2013 at 9:12 am

        Danke, liebe Mara.

        Wenn ich irgendwann wieder einmal nach Bremen komme, schaue ich mir die Plastik auf jeden Fall an.
        Ich bin etwas in Eile zur Zeit…. mein Manuskript für mein neues Buch über den Hochdruck muss schnellsten fertig werden….

        Liebe Grüße und einen schönen Tag sendet dir Susanne

  • Reply
    Tanja
    February 14, 2013 at 9:33 pm

    Ja, ich sag es ja immer wieder – es gibt schon kuschelige Ecken in Bremen. 🙂 Liebe Mara, ich mag es, wie du immer deine persönlichen Erlebnisse mit einfließen lässt. Das Buch klingt interessant, aber da habe ich nach wie vor ganz viele Titel, die auf meiner “must have” Liste stehen. *verzweifelt guck*

    Ich sende dir liebe Grüße,
    Tanja

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 5:10 pm

      Liebe Tanja,

      bei diesem Buch hatte es sich einfach angeboten, meine persönlichen Erlebnisse mit einfließen zu lassen, da sich die Buchhandlung ganz in meiner Nähe befindet. Ich freue mich, dass du schreibst, dass du dieses Vorgehen magst. Es ist nicht immer ganz einfach, auch so viel persönliche Aspekte und Gedanken in eine Rezension einfließen zu lassen – manchmal fühle ich mich nach dem Schreiben schon ganz ausgelaugt. 😉
      Meine “must have” Liste ist mittlerweile auch schon einen gefühlten Kilometer lang, mal gucken wie lange es dauern wird, bis ich diese abarbeiten kann.

      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    Mary Gilmartin
    February 15, 2013 at 3:16 am

    I used Google to translate what your wrote. Sounds like an interesting read. But, I can’t find reference on the web for one in English.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 16, 2013 at 12:22 pm

      Dear Mary,

      thank you for leaving a comment. Unfortunately my English is not the best but I will try to reply in a hopefully understandable English. I guess the lack of an English reference on the web is due to the fact that the book has not yet been has been translated or has it? Since the book describes the occupational daily life of women living in Germany I could imagine that not too many people are interested in a translation? What do you think? In case you have any specific question or require any further information I would be happy to try to answer it.
      So much from me. How or rather why does that book interest you?
      All the best from Northern Germany,
      Mara

  • Reply
    buechermaniac
    February 15, 2013 at 7:06 am

    Du hast also “deine” Stadt auch nochmals anders entdeckt, so wie ich vor einem Jahr mit der Kranzflechterin in Zürich. Gerade auch aus diesem Grund, weil jeder Mensch anders sieht und wahrnimmt, waren für mich auch Franz Hohlers “Spaziergänge” faszinierend. Rein optisch gefällt mir der Buchladen sehr gut und ich wäre dort gerne Kundin. Das Buch erinnert mich an ein ähnliches Buch, allerdings nicht Berufsalltag, sondern einfach Lebenserfahrungen, von Susanna Schwager “Das volle Leben”, die Frauen über achtzig porträtiert hat.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 5:16 pm

      Liebe Buechermaniac,

      danke für den Buchtipp, ich habe mir “Das volle Leben” mal notiert, das klingt nach einem Buch, das vielleicht etwas für meine Mutter wäre, auch wenn diese noch lange nicht achtzig ist. 🙂 Über das Entdecken der eigenen Stadt oder überhaupt von Städten durch Literatur haben wir uns ja schon einmal unterhalten – ich finde das immer sehr spannend. Bei diesem Buch hatte ich gar nicht damit gerechnet und war dann positiv überrascht, als ich entdeckte, dass eine Bremer Buchhändlerin porträtiert wird.

      • Reply
        buechermaniac
        February 15, 2013 at 5:18 pm

        Das ist doch toll und zugleich durftest du noch einen dir unbekannten Buchladen entdecken 🙂

  • Reply
    dieseitenspinnerinnen
    February 15, 2013 at 10:24 am

    Von Gabriele Göttle hab ich noch ein Buch aus der Anderen Bibliothek. Mit hat an den Geschichten des Buches die Offenheit begeistert, mit der die Autorin auf Menschen zugeht und ihnen so viel Vertrauen vermittelt, dass sie sich ihr öffnen. Und wie sie es schafft, deren Leben auf wenigen Seiten den Lesern näher zu bringen. Auch dieses neue Buch klingt nach dieser Qualität.
    Und die Buchhandlung ist wundervoll… Ich möchte da sofort rein…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 4:58 pm

      Liebe Mila,
      oh ja, dass was dich an dem anderen Buch begeistert, findet man auch in den Reportagen wieder, die in “Der Augenblick” versammelt sind: eine vorbehaltlose Offenheit ohne jegliche Berührungsängste, die ich als sehr bewundernswert empfunden habe beim Lesen. Ich kann dir die Lektüre nur empfehlen, auch wenn ich die Reportagen nicht hintereinander weg gelesen habe. Ich habe zwischendurch immer wieder Pausen gemacht, um mich auch auf die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Frauen einlassen zu können.
      Die Buchhandlung ist in der Tat wundervoll, ich freue mich auch schon auf meinen nächsten Besuch! 😀

  • Reply
    leosanda
    February 15, 2013 at 2:07 pm

    Ich kenne die Reportagen / Erzählungen von Gabriele Goettle schon seit vielen Jahren aus Büchern und der taz. Ich halte sie für eine großartige Beobachterin und Erzählerin!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 15, 2013 at 4:51 pm

      Liebe Leosanda,
      vor der Lektüre dieses Buches kannte ich weder die Autorin, noch ihre Reportagen. Eine großartige Beobachterin ist sie in der Tat, soweit ich das nach einem Buch beurteilen kann. Ich möchte auf jeden Fall noch mehr von ihr lesen. Kannst du eines ihrer anderen Bücher noch besonders empfehlen?

  • Reply
    schreibretreat
    February 18, 2013 at 10:54 am

    Was für ein toller Buchladen! Wenn ich mal in Bremen bin, werde ich ihn auf jeden Fall aufsuchen. Schade, dass diese urigen Läden immer mehr verdrängt werden …

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 18, 2013 at 7:11 pm

      Das sehe ich genauso wie du und ich hoffe, dass du mal die Chance hast, diesen wunderschönen kleinen Buchladen zu besuchen. Ich habe im Dezember als Weihnachtsaushilfe in einer Buchhandlungskette gearbeitet und war zum Teil wirklich schockiert über die Menschen, die dort einkaufen. Das hat leider mit dem herkömmlichen Bücherverkaufen nicht mehr viel gemein …

  • Reply
    Nanni
    February 19, 2013 at 12:04 pm

    Ein sehr schöner Bericht mit tollen Fotos. Und die Buchhandlung …. sooo schön, gemütlich, anders, besonders 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2013 at 1:56 pm

      Liebe Nanni,
      ich danke dir! 😀 Die Buchhandlung ist in der Tat “besonders” und ich freue mich schon darauf, dort mein nächstes Buch zu kaufen.

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