Leben – David Wagner

David Wagner wurde 1971 geboren und veröffentlichte im Jahr 2000 seinen Debütroman “Meine nachtblaue Hose”. Es folgten der Erzählband “Was alles fehlt”, das Prosabuch “Spricht das Kind” und die Essaysammlung “Welche Farbe hat Berlin”. Sein Roman “Vier Äpfel” schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Für seine Veröffentlichungen wurde der Autor, der heutzutage in Berlin lebt, bereits mehrfach ausgezeichnet.

“Alles war genau so und auch ganz anders.”

Diese Worte begrüßen den Leser beim Aufklappen des Buches. Als ich “Leben” in die Hand nehme, um es zu lesen, bin ich mir unschlüssig, was ich dort eigentlich in den Händen halte: einen Roman? Einen autobiographischen Roman? Oder vielleicht doch eher eine Autobiographie? Wie viel von David Wagner steckt in “Leben”? Beim Zuklappen der letzten Seite kann ich diese Frage kaum besser beantworten und doch glaube ich, dass das worüber David Wagner schreibt, aus ihm selbst kommen muss, um in dieser Art und Weise darüber schreiben zu können. Auf dem Buchrücken oder im Klappentext gibt es jedoch keinen Hinweis darauf, dass “Leben” die Leidensgeschichte des Autors erzählt. Das Buch wirbt nicht damit, ein Erfahrungsbericht zu sein. So betont David Wagner in einem eindrucksvollen Artikel über das Buch auch: “Das Ich des Buches bin nicht ich.”

“Schließlich […] stellt sich heraus, daß ich eine Autoimmunhepatitis habe, mein Immunsystem hält körpereigene Leberzellen für fremdes Gewebe und bildet autoimmune Antikörper […]. Warum das Immunsystem sich so verhält, ist bis heute nicht bekannt.”

Die Geschichte, die “Leben” erzählt beginnt im Jahr 2006. Das Buch-Ich, der Erzähler, kehrt gegen Mitternacht nach Hause zurück, löffelt Apfelmus und spürt plötzlich ein Kratzen im Hals. Er erbricht einen Schwall Blut in die Badewanne.

“Ich weiß, daß die Ösophagusvarizen, die Krampfadern in meiner Speiseröhre, geplatzt sind, ich weiß, daß ich nun nach innen blute und nicht ohnmächtig werden darf […].” 

Eine Autoimmunhepatitis. Eine Zirrhose. Ösophagusvarizen. Überdruck in den Gefäßen. Und eine kranke Leber. Das ist die Geschichte. Das Ich in “Leben” weiß in diesem Moment sofort: “[…] wird diese Blutung nicht schnell gestoppt, bin ich bald tot”. 

“Noch vor zwanzig Jahren war bei solchen Blutungen nicht viel zu machen. Ich habe ein paar Liter Blut verloren, mein Hämoglobinwert ist schlecht, und die Leberwerte, das liegt auch an dem Eiweißschock nach so viel Blut im Magen, sind noch schlechter. Aber ich lebe.”

“Leben” ist 280 Seiten schmal. Ich habe es Samstag in die Hand genommen und kaum mehr niederlegen können. Zu schmal – habe ich beim Zuklappen der letzten Seite nur noch denken können. Ich möchte noch weiter lesen, weiter lesen über dieses Ich, das um sein Leben kämpft, das seit seinem zwölften Lebensjahr mit einer zu zwei Dritteln geschädigten Leber leben muss, aber nur durch die Nebenwirkungen der Medikamente merkt, dass es eigentlich krank ist. Doch irgendwann geht es nicht mehr weiter. Organtransplantation.

“Und ich weiß, was diese Stimme gleich sagen wird, ich weiß, daß ich wieder auf die Liste muß, ich muß zurück auf die Warteliste für eine neue Leber, auf der ich einmal, bis vor ein paar Monaten, stand. Sie müssen wieder auf die Liste. Ja, sage ich, ich weiß.”

Der Text von David Wagner besteht aus mehreren Textformen: in 277 Episoden wird die Krankheitsgeschichte erzählt, die erfolgreiche Transplantation, die Zeit im Krankenhaus. Unterbrochen werden diese Episoden durch kursiv gesetzte Abschnitte, die die medizinischen Befunde dokumentieren. An einer Stelle werden Todesmeldungen gesammelt. Dabei handelt es sich größtenteils um kuriose Todesmeldungen, die beinahe schon in einer poetischen Art und Weise inszeniert werden: “Trotzdem reiße ich Todesmeldungen aus der Zeitung, sie sammeln sich an, ich lege sie in eine Mappe. Auf der Mappe steht: ‘Als die Kinder schliefen'”. Diese Todesmeldungen lesen sich wie kleine Gedichte:

“Wasser (Jennifer Strange)

Die 28jährige Frau

die bei einem Wasserwetttrinken in Sacramento, Kalifornien

vergeblich versucht hatte

eine Wii für ihre Kinder zu gewinnen

starb weil der Natriumspiegel in ihrem Blut

nach dem Konsum von mehr als elf Litern Wasser

viel zu tief gefallen ist

zwei Jahre später

muß der Radiosender KDND

der das Wasserwetttrinken veranstaltet hatte

den Hinterbliebenen

eine Entschädigung

von 16,5 Millionen Dollar

zahlen.”

An einer anderen Stelle zitiert David Wagner aus einem “älteren schwarzen Notizbuch”, liest “Die müde Giraffe”, eine Sammlung von kurzen Miniaturen über die Müdigkeit:

“Die Lebensmüdigkeit: einfach nicht mehr wollen. Kommt in Wellen. Kommt immer wieder. Kommt auch zu mir.”

Lebensmüdigkeit, das Verzweifeln an der eigenen Krankheit und der drohenden Verkürzung des eigenen Lebens ist etwas, das den Erzähler immer wieder übermannt. Diese Lebensmüdigkeit ist etwas, die dem Autor jedoch selbst fremd ist, wie er in dem oben verlinkten Interview ausführt. Die lebensmüden Gefühle des Erzählers, genauso wie seine Verzweiflung, werden jedoch sehr authentisch beschrieben.

Das Buch hat mich persönlich sehr berührt und bewegt. Von der Erkrankung hatte ich zuvor noch nie gehört, über Organtransplantationen hatte ich mir aber schon häufiger Gedanken gemacht. Die Autoimmunhepatitis ist eine seltene Erkrankung, dessen Ursachen ungeklärt sind. Doch eine Organtransplantation ist etwas, das alle Menschen in irgendeiner Form betreffen kann: als Spender oder als Empfänger.

“Ich bilde mir ja nicht ein, daß nachher, nach einer Transplantation, alles großartig, wunderbar und immer sonnig ist. Nein, ich warte nicht. Manchmal lasse ich mein Telefon zu Hause liegen, manchmal schalte ich es aus, ein- oder zweimal fahre ich sogar ins Ausland, was ich eigentlich nicht dürfte. Ich spiele ein bißchen mit dem Tod. Es ist halt nicht so leicht, jeden Tag an das Ende oder Nicht-Ende des eigenen Lebens zu denken.”

 Der Erzähler quält sich nach der erfolgreichen Transplantation mit Gedanken an den Spender, fühlt sich als Hybrid, der einen Teil eines anderen Menschen in sich trägt. Statt der Erleichterung über das Weiterleben legt sich eine bleierne Schwere über den Erzähler. Die Euphorie des Überlebens, sie hält nicht lange an. Auf seinem Nachtisch liegt ein Faltblatt, in dem über die Möglichkeit eines anonymen Dankesbrief an die Angehörigen des Spenders informiert wird. Ein anderer Mensch ist gestorben, damit er weiterleben kann. Weiterleben wofür? Kraft gibt dem Erzähler das Kind an seiner Seite, seine dreijährige Tochter

Auf der letzten Seite von “Leben”, dem neuen Leben, das sowohl dem Erzähler, als auch dem Autor geschenkt wurde, schließt sich der Kreis.  Das neue Leben beginnt für beide mit dem Entschluss des Schreibens, dem Entschluss, über diese schwere Zeit zu schreiben, einen Dankesbrief zu schreiben.

“Und all die Erinnerungstrümmer, die Verzweiflung, die Peinlichkeiten, die kleinen Klinikfreuden, sie müßten vielleicht nur aufgeschrieben werden, das könnte eine Art Dankesbrief sein. Ja, vita nova, ich sollte anfangen mit diesem neuen Leben.”

David Wagner ist mit “Leben” ein herausragendes Stück deutschsprachiger Literatur gelungen. Ein Buch, in dem die Erfahrungen und Erlebnisse, die mit einer Organtransplantation und der stetigen Konfrontation mit dem Lebensende verbunden sind, schonungslos, authentisch, berührend und unheimlich bewegend dokumentiert werden. Für mich ist “Leben” ein Highlight des Bücherfrühjahrs, nicht nur aufgrund seiner herausragenden literarischen Qualität, sondern vor allem auch, weil es etwas thematisiert, über das wir uns alle Gedanken machen sollten: die Organspende.

14 Comments

  • Reply
    B.ee
    March 4, 2013 at 9:40 pm

    Puh – das hat mich gerade etwas mitgenommen. Ich üerblege, ob ich es lesen kann oder nicht. Ein Teil von mir sagt: “Lies es! Da steckt auch Hoffnung drinnen!” Ein anderer Teil sagt: “Tu Dir das nicht an! Das ist zu nah!” Ich werde mit dem Thema wohl noch eine Weile schwanger gehen.
    Deine Rezi ist bewegend, löst ganz viel in mir aus. Aber es ist recht an Teilen meiner Realität, die ich zwar nicht verdränge oder verleugne, aber der ich gerade im Lesen gerne mal entfliehe. Danke für die Rezi!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 11:26 am

      Ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut, auch wenn ich deinen Worten angemerkt habe, dass dich die Besprechung doch sehr mitgenommen und berührt hat. Ich kann dies sicherlich nur in Teilen nachvollziehen, da ich persönlich nicht von etwas betroffen bin, das im Buch thematisiert wird und doch hat mich das, was ich gelesen habe, bereits unheimlich tief und nachhaltig berührt.
      Ich kann verstehen, dass du zögerst, das Buch zu lesen und bin schon sehr gespannt, ob du dich für eine Lektüre entscheiden wirst. Wenn ja, dann berichte doch bitte, ich wäre unheimlich interessiert daran zu erfahren, wie anderen das Buch gefällt.

  • Reply
    jancak
    March 5, 2013 at 9:05 am

    Bin schon sehr gespannt, wie es mit dem Leipziger Buchpreis, nächste Woche wird, derzeit liegt beim Publikum Votiing Anna Weidenholzer immer noch ganz vorn und “Leben” an vorletzter Stelle, aber das muß nichts besagen. Bin gespannt, ob ich David Wagner am blauen Sofa hören kann oder sonst noch etwas über das Buch erfahre.
    Ich habe übrigens wieder einen Tip zur österreichischen Literatur, nämlich das brandneue Buch von Evelyn Grill, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt, “Der Knochenzähler”, gerade erst bekommen, bin gespannt, ob es mich wieder an Thomas Bernhard erinnern wird.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 11:24 am

      Liebe Eva,
      auch ich bin bereits sehr gespannt darauf, wer nächste Woche den Buchpreis gewinnen wird. Anna Weidenholzers Roman habe ich unheimlich gerne gelesen, “Leben” ist für mich aber doch noch ein Stück besser gewesen. “Brüder & Schwestern” steht hier bereits, bisher aber noch ungelesen – genauso wie “Kronhardt”, übrigens ein Bremenroman, deshalb werde ich natürlich auch vor allen Dingen Ralph Dohrmann die Daumen drücken.
      Herzlichen Dank auf für den österreichischen Tipp, darüber freue ich mich ja immer sehr – ich habe mir den Namen Evelyn Grill (von der ich zuvor noch nichts gehört hatte) gleich notiert. 🙂

  • Reply
    privatkino
    March 5, 2013 at 6:19 pm

    “Leben” hatte ich letztens in der Buchhandlung in der Hand, las den Klappentext und konnte mir nicht wirklich was darunter vorstellen, deswegen ist es wieder ins Regal gewandert, aber deine Rezension klingt jetzt doch ziemlich vielversprechend.
    Das Thema scheint interessant, aber ob ich darüber ein Buch lesen möchte? Mal schauen, im Hinterkopf bleibt es jedenfalls mal – dank deiner Rezension.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 11:18 am

      Ich hatte vorab den Artikel in der FAZ gelesen, ansonsten hätte mich das Buch rein von der äußerlichen Gestaltung und dem Klappentext wohl eher nicht angesprochen. Ich freue mich, dass ich mit meiner Besprechung vielleicht doch etwas auf das Buch aufmerksam machen kann und würde David Wagner sehr wünschen, den Preis der Leipziger Buchmesse zu gewinnen.
      Dass das Buch kein Buch ist, das man sofort lesen möchte, kann ich aufgrund der Thematik nachvollziehen – für mich war das Buch aber ein herausragendes Leseerlebnis, was zum einen an der Beschreibung des Lebens mit einer solchen Erkrankung lag, zum anderen aber auch am Spiel mit der Fiktion und der Autobiographie des Autors.

  • Reply
    Claudia
    March 6, 2013 at 10:19 am

    Ich habe “Leben” schon auf meinem Osterfeiertagebuchstapel liegen. Er ist neben dem Roman von Anna Weidenholzer derjenige von den Buchpreisnominierungen, der mich noch am meisten angesprochen hat. Die Rezenion in der ZEIT von letzter Woche ist ja nicht so vielversprechend gewesen, um so lieber habe ich Deine Besprechung gelesen. Nun bin ich wieder sehr gespannt auf den Roman – Vorfreude ist angesichts des Themas ja vielleicht der falsche Ausdruck.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 6, 2013 at 11:14 am

      Liebe Claudia,

      erst einmal: herzlich Willkommen auf meinem Blog. 🙂

      Anna Weidenholzers Roman habe ich auch gelesen und auf meinem Blog vorgestellt. Er hat mir wirklich gut gefallen, auch wenn mir “Leben” ein bisschen besser gefallen hat. “Der Winter tut den Fischen gut” wurde übrigens letzte Woche in der SZ verrissen – “Leben” nun in der ZEIT (diese Besprechung kenne ich allerdings noch nicht). Mein Geschmack scheint mit dem Feuilleton Geschmack nicht ganz übereinzustimmen. Ich bin sehr gespannt auf deine Eindrücke von “Leben”, für mich ist es ein wirklich ausgezeichnetes Buch, das mich unheimlich bewegt und berührt hat. “Vorfreude” ist ein sicherlich nicht ganz passender Ausdruck, auch wenn ich gut verstehen kann, was du meinst.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Bücher-Bühne | buzzaldrins Bücher
    March 12, 2013 at 3:42 pm

    […] David Wagner: Leben.  […]

  • Reply
    Preis der Leipziger Buchmesse! | buzzaldrins Bücher
    March 14, 2013 at 4:26 pm

    […] freue mich sehr für David Wagner, dessen Roman ich erst vor kurzem auf meinem Blog besprochen habe, auch wenn ich es schade finde, dass Anna Weidenholzer nicht gewonnen hat, die mit Abstand das […]

  • Reply
    il_libraio
    March 14, 2013 at 8:02 pm

    Im Vorfeld der Messe war im Freitag ein Vorabdruck, der hat mich schon recht beeindruckt. Jetzt hat er auch noch den Preis gewonnen, dann mal ran an die Lektüre. (Sand steht bei mir auch noch im Regal, ungelesen…*hüstel*)

  • Reply
    Petra Wiemann
    August 7, 2013 at 12:11 pm

    Liebe Mara,
    da dieses Buch nun auch für das Wissensbuch des Jahres in der Kategorie Überraschung nominiert ist, habe ich es nach langem Ignorieren (zu schweres Thema) doch gelesen. Kein leichter Stoff, aber es hat mir sehr gut gefallen. Die Gedanken eines Menschen in dieser Lage sind sehr realistisch wiedergegeben und für mich gut nachvollziehbar – zwischen Lebenswunsch und dem Überdruss des ständigen Kämpfens. Deine Rezension hat den Kern des Buches wunderbar erfasst!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 9, 2013 at 9:23 am

      Liebe Petra,

      ich freue mich, dass du das Buch dann doch gelesen hast, obwohl du so lange mit dir gerungen hast. Um so mehr freue ich mich, dass es dir auch “gefallen” hat, wenn dies beid er Thematik überhaupt das richtige Wort sein mag. Ich habe die Lektüre auch sehr positiv in Erinnerung, ich weiß noch genau, wie beeindruckt ich war und dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    [Rezension]: David Wagner – Leben – Lesen macht glücklich
    February 21, 2017 at 11:01 am

    […] (Gedanken) zu diesem Buch sind erschienen bei: – ausgelesen – Schöne Seiten – Buzzaldrins – Die Liebe zu den Büchern – […]

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