Fallkraut – Lucette ter Borg

Lucette ter Borg wurde 1962 in Amsterdam geboren und hat nach ihrem Abitur Slawistik und historische Pädagogik an der dortigen Universität studiert. Für das NRC Handelsblad und De Volkskrant arbeitete sie als Kunstkritikerin, bei der Wochenzeitung Vrij Nederland war sie Chefredakteurin für Kunst und Kultur. Für ihren ersten Roman, “Das Geschenk aus Berlin”, wurde sie mit dem Preis für das beste niederländische Debüt des Jahres ausgezeichnet.

“Ich werde so heftig weinen müssen, dass irgendwo ein Damm bricht und ein komplettes Tal mit Häusern voller Menschen, Kühen im Stall und Autos verschlungen wird und die Bettcouch, auf der ich sitze, dazu.”

Lucette ter Borg erzählt in ihrem Roman “Fallkraut” die Geschichte der beiden Schwestern Sigrid und Valentine. Die beiden sind zwar Schwestern, aber dennoch ein ungleiches Paar: während Sigrid eine schlanke und lebenslustige Frau ist, ist Valentine – wenn sie nicht gerade mit Essen beschäftigt ist – meistens nörgelig.

“Als ob sie ein junges Mädchen wäre und nicht eine aus dem Leim gegangene Witwe mit schwarzer Haartönung und drei Enkelkindern irgendwo weit weg an der belgischen Grenze.”

Sigrid war schon immer die erfolgreichere der beiden Schwestern. Während Valentine sich für ein Leben als Hausfrau und Mutter entschieden hat, hat Sigrid Geige im Orchester Overijssel gespielt. Schon im Familienorchester hob Sigrid sich durch ihre musikalischen Leistungen von ihrer Schwester ab. Während Valentine unter ihren verpassten Chancen leidet, nimmt Sigrid das Leben aus einer heiteren Perspektive wahr.

“Es gibt so vieles, das wir nicht getan haben, nicht gesehen haben in all den Jahren. Muss ich deswegen weinen?”

Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, welche Risse sich unter der Oberfläche offenbaren. Sigrids Kollegen sind schon lange unzufrieden mit ihr, die mittlerweile Anfang sechzig ist und sich gegen die aufstrebenden jungen Musiker zu Wehr setzen muss. Auch ihre Beziehung mit Sjors scheint nur auf den ersten Blick zu funktionieren. Hinter der Fassade ist das Verhältnis der beiden längst porös und ausgefranst, jeder lebt sein eigenes Leben. Bald offenbart sich, dass Valentine an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig ist.

“Sigrid hat mich zu einem kleinen Urlaub eingeladen. Jawohl. Nicht, dass sie für mich bezahlen würde, wir werden alles gerecht teilen. Eine Reise am Rhein entlang. Weinberge, Terrassen und lachende Gesichter, Burgen und Schlösser.”

Die beiden Schwestern fahren gemeinsam in den Urlaub und Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen sind eigentlich von Beginn an vorprogrammiert. Sigrid behält den wahren Grund der Reise, den sie in ihrem Geigenkoffer versteckt hält, lange für sich und mit zunehmender Dauer des gemeinsamen Urlaubs geraten Sigrid und Valentine immer häufiger aneinander. Die gemeinsame Zeit deckt Kränkungen und Zerwürfnisse auf, die längst vergangen schienen und doch ständig unter der Oberfläche schwelten. Die Konfrontation miteinander und mit der Vergangenheit schaukelt sich so lange hoch, bis der Urlaub in einer Katastrophe endet.

“Du hast eine Karriere. Ich dagegen, ich kenne mich aus mit Tortenfüllungen, damit, wie man Fenster putzt ohne Streifen und wie man Tomatenflecken aus einem weißen Rock herausbekommt.”

In “Fallkraut” wechseln sich Rückblicke auf die Vergangenheit und die Beschreibungen der Gegenwart miteinander ab. Lucette ter Borg beleuchtet mit viel bösem Humor und in einem häufig schnodderigen Ton das Leben der beiden Schwestern. Man erfährt von ihren Beziehungen, die beide auf ganz unterschiedliche Art und Weise unglücklich verlaufen. Sigrid und Sjors leben zwar zusammen, aber eigentlich aneinander vorbei. Valentines Mann Karel ist schon lange tot, doch sie hat in ihrer kurzen Ehe mit ihm einige schwere Momente erlebt.

“Geboren in Böhmen. Erster Geigenunterricht mit sieben. Debüt in Prag mit zehn. Debüt in Holland mit zweiundzwanzig. Das ist alles. Wirklich. Auch wenn ich mit fünfzehn beinahe auf dem Keilberg erfroren wäre, gäbe es nicht viel mehr zu berichten.”

Die Kapitel werden abwechselnd aus der Sicht der beiden Schwestern erzählt, was für Abwechslung sorgt, da viele Aspekte dadurch aus zwei Perspektiven beleuchtet werden. In den einzelnen Kapiteln wird der unterschiedliche Ton der Schwestern deutlich, aber auch die verschiedenen Perspektiven, aus denen beide das Leben wahrnehmen. Trotz ihres gemeinsamen Urlaubs verbringen die beiden die Tage wie zwei Fremde miteinander, die nebeneinander herleben. Das gegenseitige Vertrauen ist so gering, dass Sigrid es lange Zeit nicht schafft, ihrer Schwester von ihrer Ausbootung aus dem Orchester zu erzählen und damit auch von dem wahren Grund, der hinter der ganzen Reise steckt.

“Es ist immer nur Sigrid Raffelsberger, die zählt. Und wenn Sigrid von uns spricht, wir beiden von Raffelsbergers, dann meint sie nur sich. Nicht mich auch noch dazu.”

Der Titel des Romans bezieht sich auf die Kindheit der beiden Schwestern in Böhmen, aus ihrem Fenster konnten sie damals das Fallkraut sehen, das aromatisch riecht, aber seine Tücken hat.

“Das Fallkraut um Sonnenberg ist bis obenhin voller Gift. Fallkraut hilft gegen Beschwerden wie zum Beispiel Schmerzen in der Brust, Muskelkater, offene Stoßwunden und Prellungen. Aber man durfte nicht hineinfallen, wie ich. Dann bekam man Blasen von dem Kraut.”

Die niederländische Autorin Lucette ter Borg erzählt in ihrem Roman “Fallkraut” eine bitterböse Geschichte, die stellenweise urkomisch ist, aber auch immer wieder todtraurig sein kann. Sigrid und Valentine werden mit sehr viel Liebe und Wärme beschrieben. “Fallkraut” kommt als heitere Geschichte daher, doch zwischen den Zeilen offenbart sich Traurigkeit und Verzweiflung. Das Buch endet ernüchternd und humorlos, in einer großartigen Zuspitzung der Ereignisse. Ein ungewöhnliches, aber sehr lesenswertes Buch und man darf gespannt sein, was von der Autorin in Zukunft noch zu erwarten sein wird.

6 Comments

  • Reply
    Karo
    April 5, 2013 at 6:06 am

    Liebe Mara, die ausgewählten Zitate und deine Kritik machen auf jeden Fall neugierig auf den Roman!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 6, 2013 at 3:17 pm

      Liebe Karo,
      das freut mich! 🙂 Für mich ist das Buch ein echter Geheimtipp!

  • Reply
    dasgrauesofa
    April 5, 2013 at 8:09 am

    Liebe Mara,
    das Buchcover ist ja wirklich schrill, das hätte mich nie motiviert, das Buch näher anzuschauen. Umso schöner ist es, Deine Rezension zu lesen und so eine Autorin zu entdecken, die mich ganz neugierig macht. Die beiden Schwestern scheinen ja sehr, sehr unterschiedlich zu sein und da wird es spannend, ihre jeweils unterschiedliche Sicht auf ihre Erinnerungen und Erlebnissse zu erfahren und dadurch ja fast eine dritte Sicht zu bekommen (So eine Erzählweise habe ich auch bei Menasses “Quasikristallen” erwartet.) Wunderbar: eine neue Autorin auf meinem – wegen Euch und Euren Blogs (krrrr)! – immer stärker anwachsenden Bücherstapel.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 6, 2013 at 2:56 pm

      Liebe Claudia,
      das Buchcover ist in der Tat eher ungewöhnlich und lädt vielleicht nicht unbedingt dazu ein, das Buch auch zu kaufen. Wenn man aber erst einmal eintaucht in die Welt von Sigrid und Valentine, dann passt das Buchcover plötzlich doch ganz gut, weil die beiden älteren Frauen auf dem Cover sich immer stärker mit meiner Vorstellung der Figuren im Kopf decken.
      Das mit dem anwachsenden Bücherstapel kann ich übrigens auch nur zu gut nachvollziehen, hier stapeln sich die Bücher auch auf dem Fußboden mittlerweile. Es gibt einfach so viele verlockende Bücher und leider so wenig Zeit zum Lesen. 😉
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    atalante
    April 5, 2013 at 8:22 am

    Danke für den Tipp, Mara. Da hört sich nach einem Roman an, den mein Literaturkreis diskutieren möchte.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 6, 2013 at 2:54 pm

      Gern gesehen! 🙂 Das Buch lässt sich wirklich gut lesen! Ich wäre sehr gespannt auf die Eindrücke deines Literaturkreises, falls ihr euch entscheiden solltet, das Buch zu lesen.

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