Hier könnte ich zur Welt kommen – Marjorie Celona

Marjorie Celona lebt heutzutage in Cincinnati, geboren wurde sie auf Vancouver Island. In Cincinnati lehrt sie Creative Writing an der dortigen Universität. “Hier könnte ich zur Welt kommen” ist ihr erster Roman, zuvor veröffentlichte sie bereits zahlreiche Kurzgeschichten in unterschiedlichen Magazinen. Die Autorin betreibt eine eigene Homepage.

Im englischen Original heißt das Buch, das in diesem Frühjahr im Suhrkamp Verlag erschienen ist und wunderbar von Christel Dormagen ins Deutsche übersetzt wurde, einfach nur “Y”.

“Y – auf Englisch ist es ein Wort, why. Die Frage, die wir wieder und wieder stellen. Warum?”

Die Frage nach dem Warum ist auch diejenige, die die Hauptfigur in “Hier könnte ich zur Welt kommen” beschäftigt: Shannon wurde als Neugeborene von ihrer Mutter ausgesetzt. Alles, was Shannon von ihrer Mutter bleibt, ist das T-Shirt, in dem sie eingewickelt gefunden wurde und ein Schweizer Offiziersmesser.

“Mein Leben beginnt am Y. Ich werde geboren und vor der Glastür des YMCA abgelegt, und auch wenn das Schild auf “Geschlossen” gedreht ist sieht ein Mann, der auf dem Parkplatz wartet, alles: Meine Mutter, eine Frau in marineblauem Overall, taucht mit einem grau eingeschlagenen Bündel hinter der Christ-Church-Kathedrale auf, ihr Körper stemmt sich gegen den kalten, feuchten Wind des frühen Sommermorgens.”

Es ist der 28. August, 5 Uhr 15 morgens und von einem Moment auf den anderen hat Shannon ihre Mutter verloren. Sie wird nicht gewollt, einfach ausgesetzt, abgegeben, fremden Menschen vor die Tür gelegt. Für Shannon ist das ein schwieriger Start in ein unsicheres Leben: ihr erstes Babyfoto erscheint in der Zeitung, doch trotz der verzweifelten Suche meldet sich ihre Mutter nicht bei den Behörden. Von einer Nachtschwester wird sie auf den Namen Lily getauft, der Name sollte jedoch nicht lange Bestand haben.

“Meine neuen Eltern taufen mich nicht, sie sind nicht religiös. Sie nennen mich Shandi, und wir wohnen in einem lauten braunen Apartment in einem Stadtteil ohne Namen.”

Doch auch ihre Pflegeeltern wollen das kleine Baby nicht lange behalten, so dass sie schließlich zu Julian und Moira kommen, die sie Shannon nennen. Beide sind Anwälte, doch das scheinbare Glück bekommt schnell Risse. Julian ist unbeherrscht und gewalttätig. Moira verschwindet fast neben ihm. Erst als Shannon an ihrem fünften Geburtstag von Miranda adoptiert wird, die bereits eine eigene Tochter hat, findet sie ein Zuhause und einen Ort, an dem sie willkommen ist. Doch einfach ist es nicht, für keinen der drei. Bei Shannon wird eine Augenerkrankung festgestellt – sie erblindet auf einem Auge. In der Schule tut sie sich schwer, sie ist häufig zappelig und unaufmerksam. Je älter sie wird, desto stärker beginnt sie gegen Miranda zu rebellieren.

“Manchmal stelle ich mir vor, dass meine Mutter mich gar nicht mit Absicht ausgesetzt hat – dass sie mich, zum Beispiel, nur einen Moment lang allein gelassen hat, und da wurde ich dann entführt. Aber wenn ich mir meinen kahlen Schädel und das unglückliche Gesichtchen anschaue, frage ich mich, ob es nicht vielleicht sogar meine Schuld ist. Ob sie mich vielleicht ausgesetzt hat, weil ich so hässlich war.”

Erst Jahre später beginnt Shannon Interesse an ihrer Vergangenheit zu entwickeln. Sie sucht nach Hinweisen auf den Namen ihrer Mutter, nach einer Geburtsurkunde, einem Adoptionsnachweis – sie möchte etwas finden, das sie wieder mit ihrer leiblichen Mutter zusammenführt. Einen Beweis für die Existenz der Mutter, die ihr das Leben geschenkt hat und sie doch im gleichen Moment verließ.

“Ich möchte wissen, wer meine richtige Familie ist, wo ich wirklich hingehöre, warum ich so aussehe, warum ich solche Gefühle habe. Ich möchte diese Dinge wissen – mehr als alles andere auf der Welt.”

All das, was Shannon sucht, findet sie nicht, doch sie findet Vaughn – Vaughn ist ein etwas verschrobener Mann mittleren Alters und der einzige Mensch auf dieser Welt, der eines Tages im August Shannons Mutter dabei beobachtet hatte, wie sie ihr Baby aussetzte. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit, bei der nicht klar ist, ob Shannon das, was sie sucht am Ende auch finden wird.

Marjorie Celona entscheidet sich für eine spannende Komposition ihres Romans: In den Kapiteln werden abwechselnd die Lebensgeschichte von Shannon erzählt und die Umstände, die dazu führten, dass ihre Mutter sich dazu entschieden hat, sie abzugeben. Der Leser taucht dadurch nicht nur ein in die Welt von Shannon, die durch den frühen Verlust und das Nicht-Gewollt-Werden der Mutter geprägt wird, sondern auch in die Welt ihrer Eltern, die unter schwierigen Bedingungen leben. Es entfaltet sich ein Panorama der Tragik, das stellenweise schwer zu ertragen ist, aber nie klischeehaft oder aufgesetzt wirkt. Harrison und Yula, das sind Shannons Eltern – ihr Vater und ihre Mutter, die kaum alt genug sind, sich um sich selbst zu kümmern und die an einem schrecklichen Abend eine Vielzahl an falschen Entscheidung treffen, die nicht nur ihr Leben für immer beeinflussen sollten, sondern auch das von Shannon. Die Autorin führt diese beiden Erzählstränge Stück für Stück und ganz behutsam zusammen und verbindet damit etwas, das unweigerlich und von Geburt an zusammengehört – miteinander verwachsen ist, wie die beiden Striche eines Y.

“Hier könnte ich zur Welt kommen” ist ein feinfühliger und zarter Roman über ein junges Mädchen, das versucht einen Platz in dieser Welt zu finden. Shannon ist eine gleichsam liebenswerte wie seltsame Hauptfigur, die sich so sehr nach Liebe sehnt und dennoch die Menschen, die sie lieben wegstößt. Der gesamte Roman wird aus ihrer Perspektive erzählt und die Geschichte funktioniert vor allem auch aufgrund ihrer einzigartigen Stimme und ihren feinen Beobachtungen. Der Roman widmet sich schwierigen Themen: “Hier könnte ich zur Welt kommen” ist eine Auseinandersetzung mit Adoption, mit Mutterliebe, mit dem Verlassenwerden und der Frage, ob man jemals Teil einer fremden Familie werden kann. Wie soll man wachsen, wenn einem die Wurzeln fehlen und wie soll man ohne diese einen Platz in der Welt finden können? Shannons Schicksal ist berührend, doch genauso berührend ist auch das Schicksal ihrer Mutter Yula, die sich gezwungen sieht, sich gegen ihr eigenes Kind zu entscheiden – in dem Glauben, dass dies die richtige Entscheidung für das Kind ist. Der Autorin gelingt es, sich mit sehr viel Wärme und Liebe in ihre Figuren einzufühlen, die authentisch und realistisch geschildert sind.

“[…] aber in einem Leben ist genug Platz für Scheitern und Verlust.”

Marjorie Celona ist mit “Hier könnte ich zur Welt kommen” ein atmosphärisch dichter Roman gelungen. Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, das nach ihren Wurzeln sucht und nach dem Menschen, der sie auf die Welt gebracht hat. Diese Suche ist bewegend und traurig, aber dennoch mit unheimlich viel Mut und Kraft verbunden. Und ab und an gibt es sogar Stellen, an denen man lachen kann. “Hier könnte ich zur Welt kommen” ist ein lesenswerter Debütroman, der neugierig darauf macht, mehr von der Autorin zu entdecken.

2 Comments

  • Reply
    literaturen
    April 19, 2013 at 12:40 pm

    Ich kann deinen Eindruck nur unterstützen. Ich habe es sehr gern gelesen und mich an einigen Stellen doch wiedererkannt. Auch wenn ich nicht adoptiert bin, sondern mir nur ein Elternteil fehlt. Für manche Dinge gibts eben schwerlich Ersatz, auch wenn man meint, dass man sich daran gewöhnt hat.

  • Reply
    B.ee
    April 20, 2013 at 10:00 am

    Das, was Du da schreibst, erinnert mich an “Die verborgene Sprache der Blumen”. Daher ist das von Dir vorgestellte Buch auch direkt ohne Umwege auf meiner Wunschliste gelandet. Aber jetzt warten seit gestern erstmal “Blasmusikpop” und “Abschied für Anfänger” darauf, gelesen zu werden.

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