Meine erste Lüge – Marina Mander

Download (18)Marina Mander wurde in Triest geboren und arbeitet als Kommunikations-Coach. Sie lebt heutzutage in Mailand und hat bereits mehrere Erzählungen und Theaterstücke veröffentlicht. “Meine erste Lüge” ist ihr Romandebüt. Eine Verfilmung des Romans ist bereits in Planung. Übersetzt wurde das Buch aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.

“An manchen Tagen frage ich mich: Was heißt es, Halbwaise zu sein?”

Luca ist gerade einmal neun Jahre alt, als er das erlebt, was ihn Marina Mander in ihrem Debütroman “Meine erste Lüge” erzählen lässt. Luca wächst alleine mit seiner Mutter auf, einen Vater gibt es schon lange nicht mehr, “Mama sagt, dass Papa sich in Luft aufgelöst hat”, und die Ersatzväter bleiben meistens nur ein paar Wochen, bevor sie wieder verschwinden. Lucas Mutter hat keine einfache Zeit; das Zusammenleben mit ihr ist schwierig und kompliziert, so als würde man ständig auf dünnem Eis laufen und hoffen, nur nicht einzubrechen.

“Es ist nicht schön zu sehen, dass deine Mama weint, denn du weiß nicht, wie du ihr helfen kannst. […] Ich beneide meine Schulkameraden, die einfach losheulen können, wenn ihnen danach ist. Bei mir geht das nicht, denn Mama ist so traurig, dass ich nicht trauriger als sie sein kann. Sonst ertrinken wir noch.”

Die Situation zu Hause verschlimmert sich, als Lucas Mutter ihre Arbeit verliert und immer häufiger im Bett liegen bleibt. Es kommen keine Männer mehr zu Besuch, die potentielle Väter sein könnten und auch Guilia, die Freundin von Lucas Mutter, lässt sich immer seltener sehen. Luca beobachtet seine Mutter auch manchmal dabei, Tabletten zu schlucken, kleine Pillen, die die Traurigkeit verschwinden lassen. Verstehen tut er das, was er sieht mit seinen neun Jahren noch nicht, auch wenn er mehr versteht, als er in diesem jungen Alter verstehen sollte.

“[…] aber Waise, nein, das ist wirklich übel, es ist, als würde dir ein Stück fehlen, und alle sehen nur dies Stück, das nicht da ist. Du bist nicht das, was du bist, sondern das, was dir fehlt.”

Lucas Angst davor, nicht nur Halbwaise zu sein, sondern auch Waise zu werden, hat einen triftigen Grund: Luca weiß, was mit den Kindern geschieht, die ihre Eltern verlieren. Diese Kinder kommen in ein Heim, etwas, das Luca auf gar keinen Fall möchte. Als Lucas Mutter eines Morgens nicht mehr das Bett verlässt und der kleine Junge realisiert, dass seine Mutter gestorben sein muss, ist für ihn sofort klar, dass niemand sonst davon erfahren darf. Luca lügt, um nicht ins Heim gehen zu müssen. Luca lügt, um nicht Vollwaise zu werden.

“Und so schlage ich mich heute irgendwie durch. Mama ist nicht aufgestanden, da kann man nichts machen, aber ich stehe auf. Ich mache mich allein fertig.”

Luca lebt sein Leben so weiter, wie zuvor. Er geht zur Schule, auch wenn er sich nun morgens etwas mehr anstrengen muss, um es pünktlich zu schaffen, und er trifft seine Freunde. Nachfragen wimmelt er ab, Freundinnen die anrufen vertröstet er. Geld für den Einkauf nimmt er aus der Schublade, an die er eigentlich nicht gehen darf. So schlägt sich Luca, gemeinsam mit seiner Katze Blu durch den neuen und ungewohnten Alltag. Er scheint nicht wirklich realisiert zu haben, dass seine Mutter nicht wieder aufsteht, stattdessen klammert er sich an die Hoffnung, dass sie wieder geheilt werden könnte, dass sie wieder aufsteht und es ihr besser geht. Dass diese Hoffnung vergebens ist, wird ihm an kleinen Begebenheiten aber immer wieder klar, beispielsweise als der Gestank aus dem Schlafzimmer so stark wird, dass Luca die Tür schließen muss.

“Sie sagen dir immer, dass du nicht lügen sollst, doch ohne Lügen wäre ich schon im Waisenhaus.”

Trotz der bedrückenden Situation, schlägt sich Luca tapfer durch den Alltag, wird aber immer wieder auch überschwemmt von Angst, Traurigkeit und Verlustgefühlen.

“Vielleicht ist Mama an Herzschmerz gestorben. Vielleicht haben weder ich noch die anderen sie genug geliebt. Vielleicht habe ich es nicht geschafft, sie in meinem Leben zu halten, sie wenigstens für mich leben zu lassen. Vielleicht bin ich nicht so viel wert, weder für sie noch für sonst einen.”

“Meine erste Lüge” ist eine schmale Lektüre, es sind kaum 200 Seiten, die das Buch umfassen. Der Roman wird aus der Perspektive von Luca erzählt und der Autorin gelingt es, sich sensibel und feinfühlig in ihre neunjährige Hauptfigur hineinzuversetzen. Als Leser habe ich fasziniert und atemlos den mutigen und verstörten Jungen begleitet, stellenweise über seine Gedankenwelt geschmunzelt, aber auch immer wieder schwer geschluckt. Einen Roman aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, ist kein ungewöhnlicher literarischer Schachzug, aber immer mit dem Risiko verbunden, dass es nicht gelingt, eine realistische Erzählstimme  zu erschaffen. Hier hat sich das Risiko gelohnt.

Marina Mander legt einen tragischen Roman vor, der von einer Hauptfigur lebt, die klug, humorvoll und sensibel ist. Eine traurige, beklemmende aber auch humorvolle Reise in die Gedankenwelt eines neunjährigen Jungen. “Meine erste Lüge” ist ein starker und berührender Roman und die Autorin erweist sich mit ihrem Romandebüt als eine gekonnte Erzählerin.

8 Comments

  • Reply
    lesesilly
    June 24, 2013 at 5:45 am

    Dieses Buch steht auch schon auf meiner Wunschliste, nachdem ich eine wunderbare Rezension von Christine Westermann gehört hatte. Allerdings hat mich das traurige Thema bisher davon abgehalten, es mir zuzulegen. Nach Deiner tollen Besprechung werde ich jetzt doch schnellstens zugreifen.
    LG
    lesesilly

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 24, 2013 at 11:42 am

      Liebe lesesilly,
      die Besprechung von Christine Westermann kenne ich leider gar nicht, mir ist aber schon häufiger aufgefallen, dass sich ihr Geschmack mit meinem deckt … wenn ein Buchcover einen Blurb von ihr ziert, werde ich häufig schwach. 😉 Das Thema ist in der Tat traurig, aber der Roman gerät nicht zu schwer, sondern bleibt immer auch humorvoll. Ich bin gespannt, wie dir dieser wudnerbare Roman gefallen wird.
      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Mariki
    June 25, 2013 at 9:11 am

    Ich hab das Buch auf der Wunschliste, und nach deiner Rezension freu ich mich nun umso mehr auf die Lektüre, auch wenn es wirklich sehr sehr traurig zu sein scheint.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      June 26, 2013 at 11:06 am

      Liebe Mariki,
      traurig ist es auf jeden Fall, aber die Lektüre ist auch sehr mutmachend, da man diesen kleinen, tapferen Jungen nur bewundern kann. 🙂 Ich bin schon gespannt, wie es dir gefallen wird – bisher gab es in der Bücherblogospähre ja noch nicht so viele Besprechungen dazu.

  • Reply
    Ariana
    July 1, 2013 at 7:37 am

    Das klingt nach einem tollen Buch. Hab ich mir gleich mal auf die Leseliste gesetzt. Wird aber wohl ein bisschen dauern, bis ich dazu komme … die LeLi ist leider unendlich lang. 😉

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 1, 2013 at 2:11 pm

      Liebe Arina,
      erst einmal freue ich mich sehr über deinen Besuch und natürlich auch über deinen Kommentar. Schön, dass dich meine Beschreibung des Buches angesprochen hat. Ich habe “Meine erste Lüge” sehr gerne gelesen und wäre gespannt auf weitere Meinungen zu dem Roman. Ich kenne das übrigens auch mit der langen Wunsch- und Leseliste … meine ist im Moment schrecklicherweise auch wieder viel zu lang und bald kommen ja schon die Herbstnovitäten! Wann soll man das nur alles lesen? 😀

  • Reply
    [Gelesen] Marina Mander: »Meine erste Lüge« | Mein (Hör-)Büchertagebuch
    September 12, 2013 at 9:34 pm

    […] dieses Buch wurde ich durch eine ganz tolle Rezension auf Buzzaldrins Blog aufmerksam. Die Beschreibung des Inhalts klang interessant und hat mich direkt angesprochen, so ist […]

  • Reply
    [Gelesen] Paola Predicatori: »Der Regen in deinem Zimmer« | Mein (Hör-)Büchertagebuch
    October 15, 2013 at 4:14 pm

    […] Fall von Marina Manders Meine erste Lüge wurde ich auch auf Der Regen in deinem Zimmer durch eine Rezension auf Buzzaldrins Blog aufmerksam. Sie hat mich direkt angesprochen, also habe ich mir den Roman vor Kurzem aus der […]

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: