Wo Milch und Honig fließen – Grace McCleen

Download (13)Grace McCleen wurde in Wales geboren und hat in Oxford Englische Literatur studiert. Heutzutage ist sie nicht nur als Autorin tätig, sondern arbeitet gleichzeitig auch noch als Sängerin, Songwriterin und Künstlerin. “Wo Milch und Honig fließen”, das im Original den Titel “Land of Decoration” trägt, ist ihr Debütroman und wurde von Barbara Heller übersetzt.

“Am Anfang war ein leeres Zimmer, ein bisschen Raum, ein bisschen Licht, ein bisschen Zeit.”

“Wo Milch und Honig fließen” erzählt die Geschichte der zehnjährigen Judith McPherson. Geschildert aus ihrer eigenen Sicht, aus der Perspektive eines Kindes, wird der Leser entführt in die Welt und in das Leben dieses ungewöhnlichen Mädchens. Judith wächst anders auf, als die anderen Kinder, denn sie und ihr Vater sind Mitglied der Zeugen Jehovas. Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben, als Blutungen einsetzten, hat ihr ihr Glauben verboten, eine Bluttransfusion anzunehmen. Das Kind überlebte, die Mutter starb. Statt eine unbeschwerte Kindheit zu erleben, wird Judiths Glauben und Religiosität tagtäglich geprüft. Jeden Tag lesen sie und ihr Vater in der Bibel und sinnen nach über das, was sie gelesen haben. Statt kindgerechtem Essen, gibt es bei bei den McPhersons zu Hause jeden Abend Bittergemüse, was das junge Mädchen nur schwer hinunterwürgen kann. Für Judith ist dieses Leben Normalität, sie kennt es nicht anders, aber in der Schule fällt sie durch ihr Verhalten auf. Als einzige ist es ihr nicht erlaubt, an der morgendlichen Andacht teilzunehmen. Die Tatsache, dass man es damit, anders als alle anderen zu sein, nicht leicht hat, erlebt Judith an jedem Schultag. Von ihren Mitschülern wird sie geärgert und gequält, besonders Neil Lewis hat es auf sie abgesehen. Als Neil ihr droht, nach dem Wochenende ihren Kopf in die Toilette zu stecken verzweifelt das Mädchen, denn: “[…] wenn ich sterbe, wer macht mich dann neu?”

“Die Welt heißt ‘Das Land der Zierde’. Im Buch Hesekiel steht, dass Gott schwor, er werde die Israeliten aus der Knechtschaft in ein wunderbares Land führen. Milch und Honig flossen dort. Es fehlte an nichts, es war ein Wunder, ein Paradies. Es war so anders als alles ringsum, dass es wie ein Juwel hervorstach, und es hieß ‘die Zierde von allen Ländern’.”

Judith hat so große Angst davor, sterben zu müssen, dass sie sich in ihre Traumwelt flüchtet, in “Das Land der Zierde”. “Das Land der Zierde” ist ihre eigene Welt, es ist die Welt, die sich Judith wünscht. Hier kann sie nicht nur die sein, die sie gerne sein möchte, sondern kann auch alles andere nach ihren Wünschen gestalten. Ganze Landschaften fertigt sie an, mit Flüssen, Feldern und Bergen. Sie benutzt Platzdeckchen, Teppichbodenstückchen, braunen Cord, Filz, Krepppapier und Alufolie und langsam, Stück für Stück lässt sie in ihrem Zimmer so das “Land der Zierde” entstehen. Was für andere ein Haufen Müll ist, ist für Judith ein Zufluchtsort.

“Und ich betrachtete die Menschen, ich betrachtete die Tiere, und ich betrachtete das Land. Und ich sah, dass sie gut waren.”

Am Wochenende, das Judith in Todesangst vor dem nächsten Schultag verbringt, lässt sie es in ihrer Traumwelt schneien und am nächsten Tag schneit es auch in Wirklichkeit: die Schule fällt aus und Judith wird noch einmal verschont. Plötzlich glaubt das Mädchen, Wunder vollbringen zu können. Sie glaubt, über eine ganz besondere Macht zu verfügen und sie möchte alles dafür tun, alles gut werden zu lassen. Doch plötzlich ist da auch noch diese Stimme, die sie hört – wer spricht da mit ihr, kann das wirklich Gott sein?

“Und wenn ich sagen müsste, wie ich mich fühlte, dann würde ich sagen, wie eine umgedrehte Schachtel. Und die Schachtel war überrascht, wie leer sie war.”

Grace McCleen legt mit “Wo Milch und Honig fließen” nicht nur ein beeindruckendes Debüt als Autorin vor, sondern auch einen lesenswerten und berührenden Roman. Im Zentrum des Romans steht Judith McPherson, die trotz ihrer zehn Jahre geradezu schmerzhaft erwachsen wirkt. Statt unbeschwert aufzuwachsen, wächst sie mit der Angst vor einem drohenden Weltuntergang auf, denn sie glaubt daran, dass Gott sehr bald Harmagedon schickt. Statt am Wochenende auf der Straße zu spielen oder sich mit Freunden zu treffen, zieht sie predigend von Wohnhaus zu Wohnhaus und wird dabei nicht selten bepöbelt und angeschrien.

“Ich habe ein Geheimnis. Das Geheimnis ist: Vater liebt mich nicht.”

Ihr Vater verschwindet förmlich hinter seinem Glauben und seiner Religiosität, die ihn wie eine harte Schale umschließen und für das kleine Mädchen unerreichbar machen. Auch in der Gemeinde, bei Onkel Stan, Alf und Josie findet Judith keinen Halt und keinen Ansprechpartner.

“Vom Glauben verstehe ich etwas. Die Welt in meinem Zimmer ist daraus gemacht. Aus Glauben habe ich die Wolken genäht. Aus Glauben habe ich den Mond und die Sterne ausgeschnitten. Mit Glauben habe ich alles zusammengeklebt und zum Leben erweckt. Weil der Glaube wie Fantasie ist. Er sieht etwas, wo nichts ist, er macht einen Sprung, und plötzlich fliegt man.”

Als Leser leidet man mit dem Mädchen, das tagtäglich in der Schule auf Ablehnung stößt und drangsaliert wird. Ich weiß zu wenig über die Zeugen Jehovas, um mir ein Urteil erlauben zu können und doch weiß ich, dass das Verhalten von Judiths Mitschülern, die auch gerade einmal zehn Jahre alt sind, menschenverachtend ist. Jemand ist anders und wird deshalb ausgeschlossen, ausgestoßen, zu einer Aussätzigen gemacht. Es ist entsetzlich zu was für einem Verhalten Kinder fähig sein können.

Trotz der schweren Thematik liest sich der Roman leicht und flüssig, wofür vor allen Dingen die ungewöhnliche Erzählstimme von Judith sorgt, denn trotz der belastenden Situation schleicht sich auch immer wieder ein herrlicher Humor in diese Stimme. Die wunderbare Sprache ist eine der großen Stärken des Romans, der mich sowohl berührt als auch entsetzt hat. Die Einsamkeit in der Judith aufwächst ist unbegreiflich und schwer zu ertragen. Einziger Kritikpunkt ist die zu sehr auf ein Happy End ausgelegte Zusammenführung der Erzählfäden am Ende des Romans, die dem Leser jegliche eigene Fantasie raubt.

“Wo Milch und Honig fließen” ist ein unendlich trauriger und berührender Roman, voller Einsamkeit und Schwere, der dennoch eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnung verkörpert. Judith, die mir beim Lesen ans Herz gewachsen ist, wird mich auch noch nach dem Zuklappen des Buches weiter begleiten.

19 Comments

  • Reply
    Xeniana
    July 22, 2013 at 12:43 pm

    Oh das klingt spannend, das hole ich mir! Danke

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 22, 2013 at 2:04 pm

      Lebe Xeniana,

      toll, dass ich dich neugierig machen konnte! Und ganz viel Spaß bei dieser berührenden Lektüre, es ist ein großartiges Buch! 😀

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    July 22, 2013 at 12:59 pm

    Hallo Mara,
    schon wieder so eine schöne Besprechung – und das Buch klingt auch sehr lesenswert. Aber sag mir mal, wie Du das machst, soviele Bücher lesen UND dann auch noch so schnell so schöne Besprechungen schreiben. So schnell schaff ich dass einfach nciht, deshalb leigt bei mir auch noch ein grosser Haufen unbesprochenes auf dem Schreibtisch…

    Sonnige Grüsse, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 22, 2013 at 2:12 pm

      Hallo Kai,

      ach ja, diese Frage musste ich hier schon öfter beantworten … 😉 Zunächst einmal entspricht mein Rezensionstempo nicht meinem wirklichen Lesetempo. Das heiß es gibt Zeiten, in denen ich sehr viele BÜcher lese und die Rezensionen dazu in mein Archiv wandern, dann gibt es wieder Zeiten, in denen ich eine Woche für ein Buch brauche. “Das Verbrechen” – ein wirklich lesenswerter Krimi, du solltest noch einmal darüber nachdenken 😉 – habe ich zum Beispiel bereits vor mehren Wochen gelesen und aufgrund der Dicke in der Tat auch einige Zeit dafür gebraucht. Ich habe das Glück, ein recht großes Archiv an gelesenen und im Idealfall auch an schon reszensierten Büchern zu haben, auf die ich dann nur noch zurückgreifen muss.

      Liebe Grüße
      Mara

      P.S.: Ich freue mich darüber, dass auch diese Besprechung dich neugierig machen konnte, denn ich habe das Buch sehr gerne gelesen. 🙂

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    July 22, 2013 at 1:01 pm

    Ha, jetzt liest Du einen Krimi, seh ich grad. Da bin ich zumindest nicht gefährdet, denn Krimis sind nicht so mein Ding. Bin aber trotzdem gespannt auf Deine Besprechung.
    Noch ein Gruss, Kai

  • Reply
    haushundhirschblog
    July 22, 2013 at 5:51 pm

    Liebe Mara,
    “ein unendlich trauriger und berührender Roman, voller Einsamkeit und Schwere, der dennoch eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnung verkörpert”, den kann ich mir gerade jetzt gut vorstellen, zu lesen.
    Ganz herzlichen Dank für diese – wieder einmal – feine Besprechung,
    liebe Grüße, mb

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 24, 2013 at 10:28 am

      Liebe mb,
      ach, freue ich mich immer, etwas von Euch zu lesen – um so mehr freue ich mich, dass dich die Besprechung anspricht und du das Buch gerne lesen magst. Mir hat es sehr gut gefallen, auch wenn das Schwere im Buch immer wieder beinahe erdrückend gewesen ist …

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    B.ee
    July 22, 2013 at 9:43 pm

    Liebe Mara,
    bereits Deine Rezension hat mich in den Sog des Buches gezogen. DAS muss ich lesen. Auch weil es mich beruflich gerade beschäftigt. Ich werde wohl hierfür dann doch in den nächsten Wochen meine Nicht-Kauf-Verpflichtung aufheben müssen. Aber jetzt klaube ich mir rasch die Leseprobe um anzulesen.

    Der Satz “…wenn ich sterbe..” hat mich sehr berührt.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 24, 2013 at 10:27 am

      Liebe Bee,

      genau dieser Satz hat mich auch sehr berührt und ist mir im Kopf hängengeblieben, hat sich dort eingenistet und festgesetzt, so dass ich ihn auf jeden Fall in meiner Besprechung verwenden wollte. Ich freue mich auf jeden Fall sehr darüber, dich so neugierig gemacht haben zu können, dass du das Buch lesen möchtest. Auf deine Meinung bin ich vor allen Dingen deshalb gespannt, da du ja eine “Expertin” bist und es mich interessieren würde, wie du die psychische Erkrankung (wenn es denn eine ist) von Judith dargestellt findest.

      Sonnige Grüße
      Mara

  • Reply
    Mariki
    July 25, 2013 at 12:39 pm

    Ich fand das Buch auf jeden Fall sehr originell – aber auch teilweise krass befremdlich und gruselig. Irgendwie hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass die Sache mit Judith und Gott völlig ausartet. Kann man wirklich, wenn man sich so sehr in einen Wahn hineingesteigert hat, plötzlich “unverletzt” daraus hervorkommen? Am Ende konnte ich der Autorin das meiste kaum noch glauben …

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 26, 2013 at 11:16 am

      Ich habe bereits mit Dorota, die ähnlicher Meinung ist, wie du, darüber diskutiert, wie realistisch die Erkrankung (wenn es sich denn um eine Erkrankung handelt) von Judith dargestellt ist. Ich kann das nicht beurteilen, da ich zu wenig weiß. Auf der anderen Seite lese ich ja auch einen Roman und nicht ein psychologisches Fachbuch. Aber in meiner Rezension beklage ich ja auch ein Stück weit, dass die Autorin zu stark dazu neigt, alle Stränge in einem überformten Happy End aufzulösen. Das ist mein einziger, aber auch mein größter Kritikpunkt an diesem ansonsten sehr schönen Roman. 🙂

    • Reply
      geistigkrank
      October 2, 2013 at 11:50 am

      Ohne das Buch gelesen zu haben, aber als ehemaliger Zeuge Jehovas (der auch seine Kindheit in der Sekte verbrachte): Die Schnelligkeit der “Heilung” hängt davon ab, wieviel Zeit man dort verbrachte und wie streng bzw. gläubig die Eltern waren. Ich bin jetzt seit gut zehn Jahren raus und arbeite immer noch daran, gewisse Dinge aufzuarbeiten. Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht, aber aus persönlicher Erfahrung und aus Gesprächen mit anderen Betroffenen weiß ich, dass man da weder “plötzlich” noch “unverletzt” rauskommt. Ich bin gespannt auf das Buch.

      • Reply
        buzzaldrinsblog
        October 4, 2013 at 9:22 am

        Ich danke dir für deinen Besuch und deinen Kommentar, der besonders interessant ist, da du scheinbar jemand bist, der selbst betroffen ist – ich bin gespannt, wie du den Roman liest, ich könnte mir vorstellen, dass du aus deiner Perspektive heraus vieles viel kritischer liest, als ein “normaler” Leser. Ich wäre auf eine Rückmeldung, wie dir der Roman gefallen hat, sehr gespannt.

        Liebe Grüße
        Mara

      • Reply
        geistigkrank
        October 18, 2013 at 10:05 am

        Hallo Mara, ich hatte dir per E-Mail geantwortet, ich hoffe, sie ist angekommen. LG

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          October 19, 2013 at 6:53 pm

          Bisher leider nicht, tut mir leid – vielleicht magst du es noch einmal über mein Kontaktformular versuchen? 🙂

          • geistigkrank
            October 20, 2013 at 9:10 am

            So, ich hab’s jetzt nochmal auf zwei Arten versucht – bin gespannt, ob es klappt 😉 Schönen Sonntag dir!

          • buzzaldrinsblog
            October 21, 2013 at 12:27 pm

            Hat geklappt, danke für deine Nachricht … ich hoffe, bald Zeit zu finden, dir zu antworten! 🙂

  • Reply
    Grace McCleen: The land of decoration | Bücherwurmloch
    September 12, 2013 at 6:59 am

    […] land of decoration ist auf Deutsch unter dem Titel Wo Milch und Honig fließen erschienen. Bei Mara findet ihr eine ausführliche […]

  • Reply
    Conor
    February 23, 2014 at 3:25 pm

    Liebe Mara,
    vielen Dank, dass du mich (mal wieder) auf einen lesenswerten Roman aufmerksam gemacht hast. Mich hat die Geschichte sehr berührt und ich konnte kaum aufhören zu lesen.
    Bei deinem einzigen Kritikpunkt kann ich dir zustimmen. Mich hätte es nicht gestört, wenn das Ende offen geblieben wäre.
    Liebe Grüße
    Conor

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