Das größere Wunder – Thomas Glavinic

Thomas Glavinic, der 1972 in Graz geboren wurde, feierte 1998 sein Debüt als Schriftsteller. Es folgten eine Vielzahl an weiteren Romanen, unter anderem “Die Arbeit der Nacht”, “Das bin doch ich” und “Das Leben der Wünsche”. Seine Veröffentlichungen wurden bereits vielfach ausgezeichnet, “Wie man leben soll” und “Der Kameramörder” wurden sogar für das Kino verfilmt. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung “Das größere Wunder” stand Thomas Glavinic – nicht zum ersten Mal – auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises.

“Das Gestern stand vor klar vor ihm, das Soeben schwand, zerfloss, ungreifbar und verbraucht.”

In “Das größere Wunder” erzählt Thomas Glavinic die Geschichte des seltsamen und verschrobenen, aber auch sehr intelligenten Jonas. Jonas wächst mit seinem behindertem Zwillingsbruder Mike bei einer alkoholkranken Mutter auf. Einen Vater gibt es nicht mehr, dafür aber wechselnde Freunde, die vor Gewalt nicht zurückschrecken. Als eines Nachts eine Auseinandersetzung so eskaliert, dass Jonas in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss, entscheidet sich Picco, der Großvater von Jonas’ bestem Freund Werner, den Jungen bei sich aufzunehmen. Picco, der in einem herrschaftlichen Anwesen in der österreichischen Provinz residiert, zieht in den folgenden Jahren nicht nur seinen Enkel Werner, sondern auch noch die beiden Brüder auf. Seine Erziehung ist jedoch unorthodox, denn das Dreiergespann wird weitestgehend sich selbst überlassen – vor allem Werner und Jonas, die eine besonders intensive Verbindung miteinander haben, testen immer wieder ihre Grenzen aus und gehen ab und an auch darüber hinaus. Picco greift selten in die Geschehnisse ein, nur wenn einem seiner Jungs ein Unrecht geschieht, sieht er sich zum Handeln gezwungen.

“Eine mehr als ungeordnete Welt war es, in der er da lebte. Eine Welt, in der es Behinderte gab, die verprügelt und schikaniert wurden. Eine, in der Mütter ihr Leben nicht aushielte und es vom Alkohol bestimmen ließen.”

Womit Picco das Geld verdient, um sich und den Kindern dieses sorglose Leben zu ermöglichen, wird nicht klar. Klar wird nur, dass das, was er tut, auch dunkle Schattenseiten beinhaltet – die Grenzen der Legalität werden von Picco immer wieder ausgelotet. Piccos monströser Reichtum ist Jonas’ Glück – nach dem Abitur und mit gerade einmal 18 Jahren blickt er einer sorgenfreien Zukunft entgegen. Er muss sich keine beruflichen Frage stellen, er muss nicht wissen, was er werden möchte und wie er sein Geld verdienen soll – über Geld bis an sein Lebensende verfügt er, stattdessen möchte Jonas herausfinden, wer er eigentlich ist und wer er gerne sein möchte: was für ihn Leben heißt, was die Liebe bedeutet, ob er den Tod fürchtet und welche Wünsche er hat.

“Man wird älter und älter, und man wartet. Etwas wird passieren, etwas Großes. Das Leben, das man führt, steuert zweifellos auf einen Höhepunkt zu, hinter dem die Versöhnung liegt, die Läuterung, das Glück – unausweichlich und unabänderlich. Eines Tages wird alles gut. Das Heute ist fehlerhaft, das Morgen wird vollkommen sein. Man wird älter und älter und wartet noch immer. Kämpft noch immer, mit der Welt und mit sich selbst, und das Erhabene, es will nicht kommen. Die Versöhnung mit sich und mit der Welt lässt auf sich warten, das Glück ist nicht perfekt, die Besserung nicht in Sicht. Mitunter scheint alles gar unmerklich abwärts zu gehen. Man wartet weiter. Und fühlt eine dumpfe Sorge aufsteigen. Sorge wird zu Angst, Angst wächst zu Entsetzen, Entsetzen schlägt um in Trauer, Trauer verwandelt sich in Unglaube.”

Jonas bereist Länder über Länder, von Tokio bis in die Antarktis, kauft Wohnungen und einsame Inseln, lässt sich ein Baumhaus und ein Schiff bauen. Stürzt sich in Beziehungen, die er wieder beendet. Taucht plötzlich auf und verschwindet dann wieder für mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre. Doch Glück, Zufriedenheit oder etwas, dass die innere Leere füllen könnte, die ihn aushöhlt, findet er nicht. Stattdessen bringt er sich immer wieder in Extremsituationen, um sich oder auch überhaupt etwas zu spüren. Er bringt sich selbst in Lebensgefahr, um die leere Hülle, aus der besteht, zumindest für kurze Momente mit einer gewissen Form der Bedeutung und Bedeutsamkeit füllen zu können. Am Ende dieser Reise hin zu den Extremen, steht eine Wanderung auf den Gipfel des Mount Everest. Diese Wanderung ist die zweite Ebene, aus der der Roman besteht: die Erzählung wechselt zwischen Jonas’ Vergangenheit und der Expedition auf den Gipfel, deren Verlauf das gesamte Buch als paralleler Erzählstrang durchzieht. Die Beschreibungen dieser Expedition sind beeindruckend, auch wenn man selbst kein begeisterter Bergsteiger ist, steckt einen die Atmosphäre dieses besonderen Berges schnell an. Thomas Glavinic beschreibt den Wahnsinn des Berges, den Wahnsinn der Todeszone und den Wahnsinn der Bergsteigertouristen, die in ihren Ferien um jeden Preis etwas besonderes erleben wollen und dafür nicht selten einen hohen Preis bezahlen müssen. Selten zuvor habe ich einen Bergsteigerroman gelesen, der die Faszination für das Höhenbergsteigen und für die häufig tödliche Zone über 8000 Metern, so plastisch und lebensecht abbilden konnte. Beim Lesen hat mich das Gefühl ereilt, selbst eine Sauerstoffmaske aufzuhaben, den Western Cwm zu durchqueren, auf die Festigkeit der Fixseile zu hoffen und beim Erreichen des nächsten Lagers erschöpft ins Zelt zu fallen.

Es sind vor allem diese Passagen, in denen dem Autor großartige Bilder und Impressionen gelungen sind, in denen es ihm gelingt, eine unheimlich beklemmende Stimmung zu transportieren. Als Leser hatte ich das Gefühl, an der Seite von Jonas den Mount Everest zu besteigen, so plastisch sind seine Erlebnisse geschildert. “Das größere Wunder” ist jedoch nicht nur ein Bergsteigerroman, sondern auch ein Entwicklungsroman und ein Porträt eines Suchenden, der aus dem normalen Leben ausgestiegen ist, um zu sich selbst und dem, was er sein möchte, zu finden – “auf der Suche nach dem einzigen, für das es wert war zu leben: der Liebe”. “Das größere Wunder” ist eine große Charakterstudie eines sonderbaren Menschen, der sich und seine Grenzen austesten muss, um einen Platz im Leben finden zu können.

“Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.”

Die Erzählung von Thomas Glavinic – sowohl der Blick zurück in die Vergangenheit als auch die Expedition auf den Mount Everest – entwickelt einen solchen Sog, dass man als Leser bereit ist, über einige kritische Aspekte hinwegzusehen. Vieles bleibt lediglich angedeutet, anderes erfährt der Leser nicht – daneben gibt es Elemente, die, auch wenn sie nicht surrealistisch sein mögen, zumindest die Grenzen der Realität ausreizen. Nicht alles davon konnte mich überzeugen und begeistern, genauso hat auch das Ende mich nicht ganz befriedigt zurücklassen können, dazu wirkt es auf mich zu glatt, kitschig und unausgereift.  Beim Lesen des letzten Satzes war das beherrschende Gefühl erst einmal eine gewisse Schalheit. Aber dennoch! Dennoch und trotz all dieser Kritik ist “Das größere Wunder” ein lesenswerter Roman, der mir viele nervenaufreibende und spannende Lesestunden beschert hat und darüber hinaus auch sprachlich zu gefallen wusste.

12 Comments

  • Reply
    buchstabentraeume
    September 23, 2013 at 12:27 pm

    Liebe Mara,

    herzlichen Dank für diese Buchbesprechung. Ich habe “Das Leben der Wünsche” von Thomas Glavinic, das ich wirklich gut fand. Danach habe ich den Autor aber irgendwie aus den Augen verloren. Wie gut, dass du ihn mir nun mit dieser Rezension zurück in Erinnerung rufst, denn “Das größere Wunder” klingt nach einem Roman ganz nach meinem Geschmack. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 23, 2013 at 12:59 pm

      Ich freue mich sehr darüber, dich neugierig gemacht zu haben! 🙂 Das Buch ist ein wirklich großer Lesegenuss, getrübt lediglich durch ein unbefriedigendes Ende – wobei es auch nur mir so erging, eine Diskussion darüber wäre sicherlich auch mehr als spannend. Für mich war “Das größere Wunder” übrigens das erste Buch, das ich bon Thomas Glavinic gelesen habe, aber sicherlich nicht das letzte! 🙂

      • Reply
        buchstabentraeume
        September 23, 2013 at 1:50 pm

        Kaum hatte ich meinen Kommentar hier hinterlassen, habe ich im OPAC meiner Bibliothek gestöbert und gesehen, dass das Buch dort erhältlich ist. Ich werde es dann also bald lesen und dann können wir uns gerne über das Ende austauschen. 🙂

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          September 26, 2013 at 10:37 am

          Oh toll, ich freue mich auf eine hoffentlich anregende Diskussion und wünsche dir schon einmal ganz viel Spaß bei der Lektüre! 😀

          • buchstabentraeume
            September 26, 2013 at 12:17 pm

            Danke, den werde ich wohl haben. Und dann melde ich mich gerne zurück bzw. werd auf meinem Blog einen Buchbericht verfassen. 🙂

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    September 23, 2013 at 4:41 pm

    Liebe Mara,
    danke für diese mal wieder wunderbar klare und aussagekräftige Besprechung. Bisher habe ich mit Glavinic ehrlich gesagt nicht so wirklich etwas anfangen können, aber vielleicht sollten ich mich mal drauf einlassen. Jedenfalls kommt der Titel auf meine Leseliste, wenn auch ein wenig hintan, denn es gibt noch sooo viele Bücher, die ich vorher lesen möchte.
    Das mit dem unbefriedigenden Schluss ging mir übrigens vor einigen Wochen mit dem ansonsten so brillanten ‘Amerikanischen Architekten’ von Amy Waldman so. Da hatte ich den Eindruck, der Roman hat sogar mehrere Enden – und keines hat mich wirklich überzeugt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht der Sinn eines Schlusses, jedenfalls habe ich nach der Lektüre des Architekten (nicht nur) des Schlusses wegen noch eine ganze Weile über das Buch nachdenken müssen.
    Liebe Grüsse, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 26, 2013 at 10:28 am

      Lieber Kai,

      ich konnte mit Thomas Glavinic bisher auch nicht wirklich etwas anfangen, die Kurzbeschreibungen seiner Bücher haben mich nie so sehr ansprechen können, als dass ich mir wirklich mal eines gekauft hätte. “Das größere Wunder” ist nun meine erste Lektüre von ihm gewesen und gefallen hat sie mir, aber mit Einschränkungen.
      Besonders gegrämt habe ich mich ja über das Ende, wirklich erstaunlich, wie viel ein Ende kaputt machen kann – wer weiß, ob mir das Buch mit einem anderen Ende nicht sehr viel besser gefallen hätte. Amy Waldmans Roman hat mich ja leider auch nicht vollständig überzeugen können, deshalb freue ich mich ein Stück weit darüber, dass du – zumindest mit dem Schluss – auch haderst. Ich stand mit meinen kritischen Anmerkungen damals doch weitgehend alleine da.

      http://buzzaldrins.wordpress.com/2013/05/15/der-amerikanische-architekt-amy-waldman/

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        skyaboveoldblueplace
        September 26, 2013 at 1:22 pm

        Liebe Mara,
        es ist nicht zu fassen, aber ich scheine Deine Besprechung vom Architekten verpasst zu haben. Jetzt habe ich sie gelesen und es stimmt schon, ich bin da nicht mit allem Deiner Meinung und ich habe das Buch wirklich gerne gelesen, trotz (oder grade wegen) des schwierigen Themas. Allerdings hast Du im Nachhinein recht, ich finde auch, man kann das Buch durchaus als Satire verstehen. Naja, auf jeden Fall ging es mir so, dass ich, je mehr es dem Ende zuging immer mehr mit dem Buch gefremdelt habe, weil mir irgendwann nicht mehr klar war, wohin die Autorin wollte.

        Jetzt aber mal was ganz anderes: Du liest grade den Auster. Da bin ich schon sehr gespannt, was Du davon hältst, denn das ist ein Buch, was ich auf meiner imaginären Einkaufsliste ganz oben stehen habe.

        Liebe Grüsse, Kai

  • Reply
    dasgrauesofa
    September 25, 2013 at 2:03 pm

    Liebe Mara,
    ich habe “Die Arbeit der Nacht” gelesen und der Roman hat mich ziemlich ratlos zurückgelassen. Und nachdem ich eine ähnliche Effahrung mit “Das bin doch ich” gemacht habe, bin ich ganz vorsichtig mit Glavinic. Und nun ein Bergsteigerbuch. Das ist doch wieder was für mich – auch wenn ich nicht auf den Mount Everest muss. Und Du beschreibst ja auch sehr anschaulich, dass die Passagen am Berg ganz eindrucksvoll erzählt seien Aber es gibt ja auch diese komische Kindheitsgeschichte. Die sei erzählt wie ein Märchen, schreiben einige Rezensionen. Und das schreckt mich dann doch wieder ab. Außerdem schreibst Du ja auch, dass die Bergsteigerszenen über “einige kritische Apekte” hinwegsehen lassen. Hmhm, irgendwie konntest selbst Du mich nicht so richtig vom “größeren Wunder” überzeugen ;).
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 26, 2013 at 10:06 am

      Liebe Claudia,

      für mich war dies das erste Buch von Thomas Glavinic, aber ich kann deine Scheu seinen Büchern gegenüber verstehen – das, was ich über die Vorgänger gelesen habe, hatte mich bisher auch nicht überzeugen oder ansprechen können. Die Szenen am Berg sind in der Tat sehr eindrücklich und imposant geschildert, besonders auch der Bergtourismus, der – wenn die Schilderungen alle den Tatsachen entsprechen – scheinbar ganz seltsame Blüten treibt. Da geben Menschen, die nicht einmal Hobbybergsteiger sind, eine Menge Geld für Expeditionen aus, die ihnen das Leben kosten kann. Ein Wahnsinn ist das stellenweise. Mit den märchenhaften Elementen konnte ich bis zum Ende leben, danach liest es sich einfach zu abgehoben und übertrieben … eine noch kritischere Besprechung zum Ende und zum Roman kannst du übrigens bei Sophie lesen. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    serendipity3012
    August 24, 2014 at 12:25 pm

    Für mich war “Das größere Wunder” eins meiner absoluten Highlights letztes Jahr, mich hat auch das Ende nicht gestört. Leider ist es zu lange her, um das jetzt noch in allen Einzelheiten kommentieren zu können, aber soweit ich mich erinnere, hat es einfach zum Rest gepasst, denn das ganze Buch trug ja märchenhafte Elemente. Ich habe übrigens einige Bücher von Glavinic gelesen und finde sie sehr unterschiedlich. “Das bin doch ich” war sehr witzig, “Die Arbeit der Nacht” habe ich, meine ich, gar nicht beendet, weil es so bedrückend war… “Das Leben der Wünsche” hat mir auch gefallen.

    • Reply
      Mara
      August 26, 2014 at 8:32 am

      Geschmäcker sind zum Glück verschieden – ich freue mich, dass der Roman dir so gut gefallen hat, aber mich konnte er leider nicht restlos überzeugen, was vor allem mit dem übertriebenen Ende zusammenhing. Meine Lektüre liegt mittlerweile schon einige Zeit zurück und die Erinnerungen sind verblasst, es stimmt, dass der ganze Roman märchenhafte Elemente besaß, am Ende empfand ich die Erzählung dann einfach als übertrieben und zunehmend unglaubwürdig.
      Andere Bücher vom Autor habe ich noch nicht gelesen, ich notiere mir aber mal “Das Leben der Wünsche”. Danke dir für den Tipp! 🙂

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: