Atmen, bis die Flut kommt – Beate Rothmaier

Die 1962 in Ellwangen geborene Beate Rothmaier studierte deutsche und französische Literatur und lebt heutzutage als freie Autorin in Zürich. Im Jahr 2005 debütierte die Autorin mit ihrem Roman “Caspar”, 2010 folgte “Fischvogel” und in diesem Bücherherbst erschien ihr dritter Roman “Atmen, bis die Flut kommt”. Für ihr literarisches Werk wurde die Autorin bereits mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

Konrad hat den waghalsigen Beschluss gefasst, sein Studium aufzugeben und fortan Comics zu zeichnen. Er feiert bereits kleine Erfolge und zieht die ersten Aufträge ans Land. Er hat Wünsche, Hoffnungen und Träume. Doch dann tritt Paule in sein Leben und bringt all das, was er sich als zukünftigen Lebensweg für sich erträumte, ins Wanken. Paule ist eine unstete junge Frau; sie ist haltlos und schwankend in ihren Stimmungslagen. Für Konrad ist sie kaum zu fassen, sie ist konturenlos und so wechselhaft in ihrem Verhalten, dass sie für ihn, trotz der gegenseitigen Nähe, unergründlich bleibt.

“Im Ineinanderstürzen, im Aufruhr der Gegenwart, hatten wir Vergangenheit und Zukunft ausgelöscht.”

Begriffe wie Verantwortung oder Lebensplanung sind ihr fremd. Doch dann geschieht das, was nie hätte geschehen sollen: Paule wird schwanger. Konrad vermutet der Vater zu sein, sicher kann er sich jedoch nicht sein. Kurz nach der Geburt des Kindes verschwindet Paule aus dem gemeinsamen Leben, das sie sich wie in einem Provisorium errichtet hatten. Konrad bleibt mit dem gemeinsamen Kind zurück. Der junge Mann muss sich in einem Leben einrichten und zurechtfinden, das er für sich selbst so nie erdachte hatte: er ist plötzlich alleine für ein Kind verantwortlich, das auch noch anders ist, als andere Kinder.

“[…] nichts hatte mit einem Leben zu tun, wie ich es bis dahin gekannt hatte. Wie wir beide, Paule und ich, es bis dahin gekannt hatten. Paule hat sich in den wenigen Wochen, die sie noch bei uns war, unentwegt daran gerieben und gestoßen, sie hat sich verweigert und ist schließlich gegangen. Einfach so.”

Lio kommt mit einem seltenen Defekt auf die Welt und ihre besonderen Bedürfnisse bestimmen in den folgenden Jahren den Alltag und das Leben von Vater und Tochter. Lio raubt Konrad jegliche Freiheit, nimmt ihm alle Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten und zwängt ihn in ein Lebenskorsett, das darauf ausgerichtet ist, alles am Funktionieren zu halten. Für etwas anderes bleibt auch kaum noch Platz.

“Ich lebte mit dem Kind in einem Provisorium, einem Übergang vom Ungewissen ins Unbekannte. Morgen, sagte ich mir jeden Tag, morgen fange ich an zu suchen. Doch stattdessen tat ich, was ich immer tat. Ich zeichnete. Ich scribbelte, malte, tuschte und kolorierte. Ich entwickelte Figuren, probierte mit Perspektive, Szenenwahl und Bildausschnitt herum, teilte die Seiten ein, legte die Panelgröße fest und fertigte ein grobes Layout an.”

Beate Rothmaier schildert mit viel Gefühl und Wärme die Tücken von Konrads neuem “Vaterkindalltag” als “Muttermann”: die Absurditäten, die Einschränkungen, die schönen und die schrecklichen Momente. Besonders erstaunlich dabei ist nicht nur, wie wunderbar es der Autorin gelingt, sich in die Gefühls- und die Gedankenwelt ihrer männlichen Hauptfigur hineinzudenken, sondern auch mit viel Liebe und Geduld Konrad sich seinen neuen Aufgaben annimmt. Es wird jedoch auch nicht verschwiegen, dass es Momente gibt, in denen auch endlose Liebe und eine nie enden wollende Geduld nicht mehr ausreichen können, dass es Momente gibt, an denen Vaterliebe auch zerbrechen kann. Momente, in denen Konrad verzweifelt sein altes Leben zurückhaben möchte und aus dem Leben voller Windeln, vollgepinkelter Laken und vollgespuckten Handtüchern ausbrechen will. Erst nach siebzehn Jahren fasst er den Entschluss, Lio weggeben zu wollen und hofft, dafür die Freiheit zurückzuerhalten. Gemeinsam mit Lio fährt er ans Meer, zurückkehren nach Hause möchte er aber alleine. Doch dann kommt alles anders als geplant …

“Ich stelle mir mein Leben ohne das Mädchen vor. Dass ich einzeln sein würde, dass ich in der Menge verschwinden würde. Ein vages Bild der Unscheinbarkeit. Ich werde den Fuß nicht mehr vom Gas nehmen, bis ich das Meer riechen kann.”

Beate Rothmaier ist mit “Atmen, bis die Flut kommt” ein hervorragender Roman gelungen, der auf mehreren Ebenen zu überzeugen weiß. Zum einen gelingt es der Autorin eine bewegende Geschichte ganz frei von jeglichem Pathos und Kitsch zu erzählen. Sie scheut sich nicht davor, wichtige und unbequeme Fragen zu stellen: es geht um Behinderung, es geht um den Umgang mit Behinderten, es geht um Ausgrenzung, es geht um die Frage, wann ein Leben lebenswert ist und wer darüber entscheiden darf, es geht um Elternliebe und das Recht auf ein eigenes Leben. Darf man sein behindertes Kind im Stich lassen, um endlich wieder die Freiheit und ein eigenes Leben zu haben? Der Vater hat ein Leben im Verzicht geführt, es war ein Verzicht auf die Liebe und auf die Erfüllung der eigenen Wünsche und Träume – doch wie lange kann man für jemanden anderen auf sich selbst verzichten? Konrad hat sich nicht für Lio entschieden, die Entscheidungen hat Paule getroffen, die schließlich auch entschied, zu gehen. Der Vater des Kindes lässt sich auf den neuen Alltag ein, auf dieses unbekannte Leben, das ihn – ohne, dass er dies zunächst bewusst merkt – vom Rest der Welt entfernt. Unausgeprochen ist in seinem Umfeld der Vorwurf, ob man einem Kind ein solches Leben hätte zumuten müssen. Lio ist anders als andere Kinder und das lassen ihn seine Mitmenschen spüren.

“Gemindert, verbreitert, auffällig, verformt, fehlerhaft, abnorm, übermäßig, verbogen, undifferenziert, abweichend war an der Äffin so ziemlich alles, wie ich jetzt erfuhr, und nur mir war es bislang nicht aufgefallen. Ich hatte einfach mit ihr gelebt und mich gewundert ab und zu.”

Daneben überzeugt der Roman aber auch auf sprachlicher Ebene: der Autorin gelingt es in wunderschönen Worten und Sätzen die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren auf die Buchseiten zu überführen und erschafft dabei eine unheimlich dichte und atmosphärische Stimmung. Sprachlich befindet sich der Roman – vor allen Dingen auch aufgrund seiner Poesie – auf einem erstaunlich hohen Niveau. Besonders beeindruckend ist der dabei entstehende eigene Sound der Autorin, ihre Wortkompositionen und ihre feine Beobachtungsgabe, mit der sie Stimmungen und das Innenleben ihrer Figuren unheimlich detailgetreu einfängt und auf Papier bannt. Die Geschichte, die Beate Rothmaier erzählt, setzt sich zusammen aus vielen Rückblenden und ganz unterschiedlichen Figuren, die alle um dieses seltsame Vater-Tochter-Paar kreist.

“Atmen, bis die Flut kommt” ist ein bewegender Roman, der nicht nur berührt, sondern auch erschüttert und bestürzt. Die Autorin verzichtet auf jeglichen Pathos und jede Beschönigung. Nüchtern aber dennoch behutsam erzählt sie die Geschichte eines Vaters, der für seine Tochter sein eigenes Leben aufgibt. Beate Rothmaier gelingt es, eine einzigartige Geschichte zu erzählen, die mich berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.

5 Comments

  • Reply
    Buecherphilosophin
    October 25, 2013 at 1:45 pm

    Das Buch hab ich im Regal stehen, bisher konnte ich damit aber nicht so recht was anfangen und habe die Lektüre daher seit einiger Zeit vor mir her geschoben. Danke dafür, dass Du mir mal zeigst, was ich alles verpasst habe 😉
    Ich denke, ich werde diesen Roman nun auch bald lesen und hoffe, dass er mich ebenso bewegt, erschüttert und bestürzt wie Dich.

    LG, Katarina 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 28, 2013 at 7:56 pm

      Liebe Katarina,

      auf deine Meinung zum Roman wäre ich sehr gespannt! 😀 Auch ich habe die Lektüre länger herausgezögert und war mir unsicher, was mich erwarten würde – die ersten Seiten und vor allen Dingen die ungewöhnliche Sprache haben mich jedoch sofort hineingezogen in diese berührende Geschichte. Schließlich konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lesen …

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Susanne Haun
    October 25, 2013 at 2:51 pm

    Liebe Mara,
    das hört sich sehr interessant an und wandert auf meine Wunschliste.
    Leider wird die in nächster Zeit immer mehr anwachsen, durch mein Studium muss ich so viel Fachliteratur lesen, dass wenig Zeit für die Bücher bleibt, die ich mir sonst ausgesucht hätte…..
    Aber das ist o.k. … die Liste kann ja wachsen.
    Einen schönen Freitag wünscht Susanne

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      October 28, 2013 at 7:58 pm

      Liebe Susanne,

      genau dafür gibt es ja auch eine Wunschliste. 🙂 Und die Bücher verschwinden ja nicht, sondern bleiben und manchmal gibt es sie – dann, wenn man endlich Zeit – auch bereits als Taschenbuchausgabe und damit deutlich günstiger. Wann immer du das Buch lesen solltest, ich wünsche dir ganz viel Spaß und Freude an dieser intensiven Lektüre.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Beate Rothmaier: Atmen, bis die Flut kommt | Bücherwurmloch
    August 21, 2014 at 9:46 am

    […] ihrer Figuren unheimlich detailgetreu einfängt und auf Papier bannt”, schreibt Mara in ihrer Rezension zu diesem Buch.- Hier könnt ihr den Roman auf ocelot.de […]

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