Die Listensammlerin – Lena Gorelik

Listen1981 wurde Lena Gorelik im heutigen St. Petersburg geboren, 1992 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Debütroman “Meine weißen Nächte” erschien bereits 2004, mit ihrem zweiten Roman “Hochzeit in Jerusalem” wurde die Autorin für den Deutschen Buchpreis nominiert. In diesem Literaturherbst erscheint mit “Die Listensammlerin” nun endlich ein weiterer Roman von Lena Gorelik.

“Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst. Großmutter hatte das einmal gesagt, als faktischen Nebensatz fallenlassen, nicht mit der Schulter gezuckt, keine Pause gemacht, einmal, als sie vom Krieg sprach.”

Im Zentrum von Lena Goreliks neuem Roman “Die Listensammlerin” steht Sofia. Sofia befindet sich in einer Phase der heillosen Überforderung. An die neue und ungewohnte Rolle als Mutter hat sie sich immer noch nicht gewöhnen können und dann hat ihre kleine Tochter Anna auch noch einen Herzfehler. Die lebensrettende Operation steht kurz bevor. Ehemann Florian, der von Sofia immer nur Flox genannt wird, ist nur bedingt eine Hilfe. Auch ihre eigene Mutter ist ihr keine Unterstützung, genauso wie ihre Großmutter, die an Demenz erkrankt in einem Pflegeheim lebt. Das einzige, was Sofia in dieser Situation hilft, häufig zum Unverständnis ihrer Mitmenschen, sind ihre Listen. Ihre Leidenschaft, zu allen möglichen Themen, Listen anzulegen, ist für Sofia eine Form der Beruhigung.

“Ich habe eine Liste mit Büchern, die mich zum Weinen gebracht haben, eine mit Büchern, die mich zum Lachen gebracht haben, eine Liste mit Büchern, die ich besser nicht gelesen hätte, eine mit Büchern, die ich noch einmal lesen will. Eine mit Büchern, die noch geschrieben werden müssen, eine mit Büchern, die ich gerne schreiben möchte.”

Ein Zettel und ein Stift und Dinge, die man in lange Listen ordnen kann – mehr braucht sie nicht, um zur Ruhe zu kommen, klare Gedanken zu fassen und wieder Kraft zu schöpfen.

“Die Listen gaben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Alkohol, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen. Ich wusste, dass sowohl Drogen wie auch Psychotherapeuten gesellschaftlich weit anerkannter sind als Listen. Aber Listen, zumal solche Listen, sind rar, außer mir schreibt meines Wissens niemand so viele Liste, niemand ordnet, niemand pflegt sie. Es ist also in Ordnung, seinem Körper in gewissem Maße Alkohol und Nikotin zuzuführen, um abzuschalten oder auf andere Gedanken zu kommen. Aber jemand, der zu seiner Beruhigung und inneren Ausgeglichenheit nichts weiter als ein Blatt Papier und einen Stift braucht, gilt als sonderbar.”

Sofia, die Listenschreiberin und -sammlerin, glaubt lange daran, dass sie alleine ist mit diesen Leidenschaft. Welcher andere Mensch schreibt schon Listen, während er darauf wartet, dass die Tochter, die gerade am Herzen operiert wird, aus dem OP-Saal kommt? Die Listen haben Sofia bereits zu einem Therapeuten geführt, wo sie von ihrer besorgten Mutter hingeschickt wurde und auch mit Flox gab es wegen ihnen schon einige fürchterliche Streits. Doch dann macht Sofia in der Wohnung ihrer Großmutter eine überraschende Entdeckung: eine Sammlung von Listen, notiert in vergilbte Hefte und auf Notizzetteln, verfasst in kyrillischer Schrift. Die Schrift ist ein Hinweis auf die Herkunft von Sofias Familie, die die Sowjetuninion in den siebziger Jahren verließ – doch der Verfasser der Listen ist zunächst unbekannt. Doch Sofia findet nicht nur die Listen, sondern auch einen Hinweis auf einen gewissen Onkel Grischa, es ist ein Onkel, der aus dem Familiengedächtnis gelöscht und aus der Vergangenheit gestrichen wurde – gesprochen wurde über ihn nicht. “Er war eben der allseits beliebte, etwas sonderbare und verrückte, niemals erwachsene Märchenonkel.” Es sind die Listen, die Sofia das Gefühl geben, nicht alleine zu sein und durch die sie der bewegten Geschichte Grischas auf die Spur kommt. Es ist eine Geschichte, die im Untergrund spielt und die von einem ganz besonderen jungen Mann erzählt, der allen in seiner Familie Angst machte und doch sehr geliebt wurde. Mithilfe von Onkel Grischa, der Kopf einer Dissendentenbewegung in der Sowjetunion gewesen ist, taucht der Leser ab in eine Vergangenheit, die geprägt gewesen ist vom Widerstand, vom Untergrund und von Autoren, Künstlern und Wissenschaftlern.

“Nähme man Michel aus Lönneberga, Emil Tischbein und seine Detektive und Max und Moritz zusammen, hätte Onkel Grischa sie problemlos übertrumpft. Vier gebrochene Knochen, eine gebrochene Nase, mindestens siebenundvierzig dicke Beulen, eine Schramme auf der Stirn quer über der rechten Augenbraue, eine zehn Zentimeter lange am linken Schienbein, ein zickzackiges Brandmal auf der rechten Hand – und das alles schon vor dem ersten Schultag.”

Lena Gorelik lässt zwei Erzählstränge nebeneinander herlaufen und erzählt abwechselnd von Sofias Gegenwart und Grischas Vergangenheit. Voneinander abgegrenzt werden sie durch typographische Merkmalen. Es ist gerade auch bedingt durch dieses abwechselnde Erzählen, dass es der Autorin wunderbar gelingt aufzuzeigen, wie stark Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschränkt sind. Grischas Geschichte liegt bereits viele Jahre zurück, von der Familie wurde sie ausgeklammert, beschönigt oder verschwiegen. Doch gut gegangen ist es niemanden mit diesem Schweigen, denn das Schweigen saß wie ein Knoten im Hals, der die Luft zum Atmen abschnürt. Sofia hat Grischa nie kennengelernt, aber durch den Blick in seine Vergangenheit erfährt sie gleichzeitig etwas über die Vergangenheit ihres Vaters, von dem sie immer annahm, dass er bei einem Autounfall starb, als sie sieben Monate alt war. Erst, wenn man bereit ist, nicht mehr zu schweigen, sondern zu sprechen, kann es gelingen, mit einer schwierigen Vergangenheit leichter umzugehen. Lena Gorelik gelingt es mit sehr viel Sensibilität und einer feinen Beobachtungsgabe aufzuzeigen, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart einer ganzen Familie prägen kann.

Das Cover und der Titel des Romans suggerieren in ihrem Zusammenspiel einen heiter bis lustigen und unterhaltsamen Roman. Der Roman, oh ja, ist auch stellenweise von einer sanften Komik. Es gibt viele Passagen, über die ich schmunzeln musste. Dazu trägt vor allem Sofia bei, mit ihren liebenswerten Marotten und ihren Schwierigkeiten sich in die neue Rolle als Mutter hineinzufinden. Doch “Die Listensammlerin” ist kein leichter Roman, ganz im Gegenteil: Lena Gorelik hat einen schmerzhaft traurigen Roman geschrieben, durchzogen mit schwermütiger Melancholie und einem feinen Witz. Es ist ein großartiger und sehr lesenswerter Roman.

5 Comments

  • Reply
    Karo
    November 17, 2013 at 11:06 am

    Liebe Mara, ich habe erst dein Interview mit Lena Gorelik gelesen und danach deine Rezension – das war eine tolle Ergänzung, denn ich habe immer diese sympathische Autorin vor Augen gehabt. “Die Listensammlerin” klingt nach einem wunderbar menschlichen Geschichte mit einer heiteren Melancholie. Danke für diesen Tipp!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      November 18, 2013 at 9:43 am

      Gern geschehen! Ich habe das Buch wirklich sehr gerne gelesen, bisher habe ich schon ganz unterschiedliche Meinungen darüber gehört, mich konnte diese heiter-melancholische Geschichte aber unheimlich berühren. Ich wäre sehr gespannt darauf, wie dir das Buch gefällt. 🙂

  • Reply
    Gerda Laufenberg
    November 26, 2013 at 12:21 pm

    habe ( noch) keine Meinung dazu, bin aber durch alles was ich hier lese sehr gespannt – und besorge mir das Buch. Danke für den Tip .

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      November 26, 2013 at 1:15 pm

      Liebe Gerda,

      erst einmal: herzlich willkommen auf meinem Blog, ich freue mich sehr über deinen Kommentar! 🙂 Schön, dass dich meine Besprechung überzeugen konnte, ich bin gespannt, wie dir das Buch gefallen wird.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Ein Jahr in Büchern … | buzzaldrins Bücher
    December 29, 2013 at 1:03 pm

    […] der Bücher, das mir in diesem Jahr sehr eindrücklich im Gedächtnis haften geblieben ist, ist “Die Listensammlerin” von Lena Gorelik. Sofia ist eine leidenschaftliche Listensammlerin und – schreiberin. Alles […]

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: