Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie – Tim Bonyhady

Es verwundert nicht, dass sich auf der Rückseite des Buches ein Zitat von Edmund de Waal findet, dem Autor von dem Erinnerungsbuch “Der Hase mit den Bernsteinaugen”, denn auch Tim Bonyhady hat für “Wohllebengasse” in der eigenen familiären Vergangenheit recherchiert und erzählt die bewegte Geschichte seiner Familie. Eigentlich ist Tim Bonyhady, der 1957 geboren wurde, Historiker, Kurator und Umweltanwalt. Er lebt in Australien und ist Direktor des Centre of Climate Law and Policy an der Australian National University.

“Anne war der Grund, dass ich mich auf dieses Buch einließ. Wenn ich über andere Familienmitglieder schrieb, dann deswegen, um sie zu erklären. Vor allem wollte ich ihrem Leben jenen Wert geben, den sie ihm selbst nicht zugeschrieben hatte.”

“Wohllebengasse” umfasst eine Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart, von der Wohllebengasse in Wien bis in das australische Exil. Es ist eine Geschichte, die bei den Urgroßeltern des Autors beginnt: Hermine und Moriz Gallia gehören um das Jahr 1900 in Wien zu den reichsten jüdischen Familien. Erfolg hatten sie mit einer Firma zur Herstellung von Glühstrümpfen, es war ein so großer Erfolg, dass sie in einer Wohnung in der Wohllebengasse leben konnten, die beinahe 700 Quadratmeter umfasste. Wohlgemerkt lebten sie dort nicht alleine, sondern mit mehreren Bediensteten. Die Gallias waren jedoch nicht nur reich und erfolgreich, sondern auch an Kultur interessiert und gaben viel Geld für Kunstgegenstände, Bilder und Möbel aus. Aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten gehörten, beide zu den einflussreichsten Mäzenen der Wiener Kunstwelt, sie unterstützen unter anderem die Wiener Werkstätten, und gehörten damit gleichzeitig auch zum engen Zirkel der Wiener Secession. Hermine wurde von Gustav Klimt gemalt, befreundet war das Ehepaar mit Gustav und Alma Mahler, auch mit Egon Schiele und Carl Moll waren sie bekannt. Der bekannte Architekt Josef Hoffmann richtete ihnen die Wohnung ein.

Hermine Gallia – porträtiert von Gustav Klimt.

 

“Die Gasse war zwar nach einem Wiener Bürgermeister vom Anfang des 19. Jahrhunderts benannt, Stefan Edler von Wohlleben, doch das Wort symbolisierte auch zutreffend, welches Gepräge die weitläufige und elegante Straße ein Jahrhundert später aufwies.”

Der erste Teil des Buches ist geprägt von Kunst und Kultur, von berühmten Persönlichkeiten, von Theater- und Opernbesuchen. Während Moriz als emsiger Geschäftsmann und sanfter Vater beschrieben wird, kommt Hermine nicht ganz so gut weg: Tim Bonyhady zeichnet das Porträt einer herrschsüchtigen Frau, die gleichzeitig Familienoberhaupt ist. Die Wohnung in der Wohllebengasse ist ein kultureller Palast, in dem die Besucher ein- und ausgehen. Obwohl sich die politische Situation langsam für die jüdische Bevölkeung zu verändern beginnt, leben die Gallias zu abgeschottet und isoliert vom Rest der Welt, so dass sie diese Veränderungen erst realisieren, als es beinahe schon zu spät ist.

“Der Krieg verhinderte das. Obwohl die Gallias keinen Anlass hatten, dies im Juli 1914 zu vermuten, waren die schönen Tage in der Straße des Wohllebens vorbei. Sie hatten nicht mehr als sechs Monate gedauert.”

Im zweiten Teil des Buches steht vor allem die Lebensgeschichte von zwei Schwestern im Mittelpunk: Käthe Gallia und Gretl Herschmann-Gallia, zwei der drei Töchter von Hermine und Moriz. Gemeinsam mit Gretls sechzehnjähriger Tochter Annelore (der Mutter von Tim Bonyhady) entscheiden sie sich zu Beginn des Novembers 1938 zur Flucht nach Australien. Es ist eine unumgängliche Entscheidung, denn die Einschränkungen, unter denen die Juden zu leiden beginnen, nehmen immer stärker zu und machen auch vor der betuchten Familie der Gallias nicht halt. Käthe, die einer der ersten Absolventinnen der Wiener Universität ist, verliert ihre Arbeit und als die Gestapo und die SS ihre Wohnung plündern, wird sie verhaftet und für eine kurze Zeit festgehalten.

“Ihre Verstrickung in den Blutigen Freitag zeigt, dass politische Ereignisse, politische Gewalt in Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren allgegenwärtig waren, mochte der Reichtum der Gallias sie noch so sehr in einen schützenden Kokon einspinnen.”

Die finanziellen Verhältnisse, in denen die Gallias, auch nach Ausbruch des Krieges, leben, ermöglicht es ihnen, zu flüchten – in das australische Exil. Damit war ihnen etwas möglich, von dem viele andere Juden nur träumen konnten. Und doch war dies kein leichter Schritt. In Australien sind sie mit einem fremden Land konfrontiert, einer fremden Sprache und haben den Großteil ihres Hab und Guts verloren. Natürlich: sie leben, aber erwünscht sind sie auch in ihrem Exil nicht und es dauert lange, bis sich die Familie einleben kann und heimisch wird.

“Die Bücher, die ich schrieb, die Ausstellungen, die ich kuratierte, die Umweltanliegen, die ich voranzutreiben unternahm, setzten den Versuch meiner Mutter fort, sich in Australien zu assimilieren, sie waren ein Mittel, mich australischer zu machen.”

Tim Bonyhady gelingt mit “Wohllebengasse” eine berührende Familienchronik. Der Text ist frei von Pathos; nüchtern und mit sehr viel Liebe zum Detail widmet er sich seinen Vorfahren. Stellenweise, wenn es um die Theater- und Opernbesuche geht oder die detailgetreue Beschreibung der Möbel, hätte ich mir etwas mehr Straffung gewünscht. Tim Bonyhady neigt dazu, sich ab und an in Nebensächlichkeiten zu verlieren und seine Beschreibungen dabei ausufern zu lassen. Dieser Hang zur Weitschweifigkeit ist – für mein Empfinden – aber zu verschmerzen, denn dem gegenüber steht das berührende Porträt einer außergewöhnlichen Familie. Es ist jedoch nicht nur die Lebensgeschichte, die mich fasziniert hat, sondern auch die Tatsache, dass es bis in die Gegenwart hinein gedauert hat, diese zu erforschen. Mit dem Umzug nach Australien hat Anne, die Mutter Tim Bonyhadys, ihre jüdische und ihre österreichische Identität abgestreift. Ganz selten einmal wurde über die Vergangenheit gesprochen; vieles wurde erst im Rahmen der Arbeit an dem vorliegenden Buch thematisiert.

“Es war einer jener Augenblicke, die meinen Ort in der Welt änderten. Franz sagte mir damals fast nichts. Ich wusste nicht, wie er aussah. Ich wusste nichts über seine Leidenschaften, seine Überzeugungen, seine Vorlieben und Gewohnheiten. Aber mit einem Mausklick hatte ich mich von jemandem, der sich vom Holocaust kaum berührt fühlte, da meine nächsten Verwandten alle überlebt hatten, in jemanden verwandelt, der eine direkte Verbindung zu seiner offenkundigsten Ausprägung besaß.”

Als bewegend empfand ich auch die Tatsache, dass Tim Bonyhady sich nicht nur der Vergangenheit zuwendet, sondern die Vergangenheit auch manchmal bis auf die Gegenwart zurückwirken kann. Die Eltern Bonyhadys haben sich bereits früh scheiden lassen und der Kontakt zum Vater war immer belastet. Erst, als er im Rahmen seiner Recherche für dieses Buch damit begann, die Tagebücher und Briefe Gretls aus dem Deutschen zu übersetzen, näherten sich Vater und Sohn im hohen Alter noch einmal an. Wie schön, dass etwas, das eigentlich bereits längst vergangen und von Staub bedeckt ist, so gar noch Einfluss auf unsere heutige Gegenwart haben kann.

“Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie” ist ein bewegendes Porträt, das die Wege einer jüdischen Familie im Wien Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die australische Gegenwart nachzeichnet. Aufgrund seiner Dichte und Detailfülle benötigt man Zeit und Muße für die Lektüre, belohnt wird man damit, tief eintauchen zu können in die wichtigste und bewegendste Epoche unserer Zeit.

4 Comments

  • Reply
    Eva Jancak
    December 18, 2013 at 10:17 am

    Das ist ein Buch zu dem ich wieder etwas schreiben muß, obwohl ich es nicht gelesen habe und sollte ich es nicht in einem der Kästen finden, auch nicht lesen werde, in der Hand habe ich es aber schon gehalten und durchgeblättert, als ich vor ein paar Wochen in der Buchhandlung “Morawa” meine “Romanstudien” machte, ein Buch über Wien und Bücher über den Holocaust lese ich auch gern und habe auch schon viele gelesen. Also fand ich es sehr spannend, das Buch auf diesen Blog zu finden und habe die Besprechung gern gelesen, falls wir voneinander nichts mehr lesen sollten, wünsche ich ein schönes Fest!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 22, 2013 at 11:21 am

      Liebe Eva,

      ich habe bereits beim Schreiben der Rezension an dich denken müssen, da du ja nun mal in Wien lebst. Ich hoffe, vielleicht irgendwann noch einmal dorthin reisen zu können, um ein paar Schauplätze des Buches zu besuchen. Schade, dass du das Buch dennoch nicht lesen möchtest, ich glaube, dass es eine sehr interessante Lektüre ist, vor allem auch für Wiener, denen vieles noch bekannter vorkommen muss, als mir beim Lesen.

      Weihnachtliche Grüße
      Mara

  • Reply
    Jarg
    December 19, 2013 at 10:57 pm

    Was für eine schöne, differenzierte Rezension … ! Danke für den Lesetipp zu diesem Buch, das meinem Lektüreradar bisher völlig entgangen war.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      December 22, 2013 at 11:19 am

      Lieber Jarg,

      ach, ich freue mich sehr darüber, dass ich dich auf ein Buch aufmerksam machen konnte, dass dir ansonsten vielleicht entgangen wäre. 🙂 “Wohllebengasse” ähnelt sehr stark dem Roman von Edmund de Waal – für beide Bücher braucht man Zeit und Muße, man wird aber auch reichlich belohnt. Ich finde es schade, dass das Buch bisher in den Feuilletons und Blogs noch nicht viel Aufmerksamkeit gefunden hat und hege die leise träumerische Hoffnung, dass sich dies nun vielleicht ändern könnte.

      Liebe Grüße
      Mara

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