Sarah Moss wurde 1975 in Schottland geboren; sie studierte und promovierte an der Oxford University und lehrt heutzutage an der University of Warwick. Sarah Moss hat bereits zwei Romane und ein Sachbuch veröffentlicht, “Schlaflos” ist der erste Roman von ihr, der auch auf Deutsch erscheint. Übersetzt wurde er von der freien Lektorin und Übersetzerin Nicole Seifert.
“Ich kann das nicht, Mutter sein. Ich hätte keine Kinder bekommen sollen.”
Anna und Giles ziehen mit ihren Söhnen, dem siebenjährigen Raph und dem zweijährigen Moth, auf die karge schottische Insel Colsay, ein vom Meer umtostes Eiland. Giles arbeitet auf der Insel als Ornithologe, er beobachtet Papageientaucher. Anna möchte die Ruhe auf der Insel dazu nutzen ihr Buch fertigzustellen. Der Abgabetermin für das Buch, das den Titel “Wie gut war doch die Saatzeit meiner Seele”: Die Erfindung der Kindheit und das Aufkommen von Institutionen im England des späten achtzehnten Jahrhunderts” trägt, war letzten Monat. Doch das optimistische Vorhaben der leicht überforderten Mutter stellt sich schnell als schwieriger heraus, als gedacht. Die Lebensbedingungen auf Colsay sind nicht vergleichbar mit denen im heimischen Oxford, wo Anna Forschungsstipendiatin war: das Wetter ist miserabel, der Strom fällt in schöner Regelmäßigkeit aus und die Internetverbindung gleicht einer Glückslotterie. Doch wäre all das noch zu ertragen, bringen die beiden Söhne Anna an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Während Moth, der gerade einmal zwei Jahre alt ist, noch keine Vorstellung davon hat, dass Nächte da sind, um zu schlafen, macht Raph vor allem dadurch auf sich aufmerksam, dass er erschreckend frühreif ist. Seine Lieblingsbeschäftigung ist das Nachspielen von historischen Katastrophen, ebenso gerne beschäftigt er sich aber auch mit der drohenden Klimakatastrophe, Atomstrom und alternativen Energien.
“Die Singschwäne sind nah am Ufer, wie helle Scherenschnitte treiben sie vor den in der Dämmerung verschwimmenden Wellen dahin. Nachts raunen sie einander Oboenkläge zu, Holzbläser, die sich gegenseitig beruhigen. Gewöhnliche Schwäne, die Schwäne der Königin auf dem Fluss, an dem wir zu Hause Enten füttern, haben Gesichte, die aussehen wie von irgendeiner mittelalterlichen Krankheit gezeichnet, und sie schlafen auf einem Bein stehend, die Köpfe unter den Flügeln, wie kinderlose Passagiere auf Langstreckenflügen, die es unter Schlafbrillen aus Nylon Nacht werden lassen.”
Sarah Moss beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gegenwart, sondern verknüpft mit dieser auch eine historische Vergangenheit: jedes Kapitel schließt mit einem Brief der Hebamme und ausgebildeten Krankenschwester May ab, die im 18. Jahrhundert nach Colsay geschickt wurde, um der verheerenden Kindersterblichkeit entgegenzuwirken. Durch einen hauchdünnen Faden werden Kapitel für Kapitel Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknüpft. Seite für Seite verschränkt sich die Inselhistorie und die chaotische Gegenwart immer stärker miteinander und zwar so spannend, dass einen zwischendurch das Gefühl überkommen kann, keinen Eheroman zu lesen, sondern einen wahren Kriminalroman …
“Würde ich es wieder tun, nachdem ich weiß, was ich damals nicht wusste: dass es ein Leben und länger anhält, wenn man als Mutter versagt, dass alles, was meinen Kindern und den Kindern meiner Kinder geschieht, meine Schuld ist? Dass meine Gereiztheit und meine Gemeinheit in die Zukunft sickern werden wie radioaktiver Abfall in die Irische See? Nein. Nicht, weil ich meine Kinder nicht lieben würde – jeder liebt seine Kinder, auch Kinderschänder lieben Kinder -, sondern weil ich das Muttersein nicht mag, und das merkt man erst, wenn es zu spät ist. Liebe ist nicht genug, wenn es um Kinder geht. So einfach ist das wohl.”
Sarah Moss konnte mich mit ihrem Roman “Schlaflos” gleich auf mehreren Ebenen begeistern. Der Roman überzeugt nicht nur durch die traumhaft schönen Landschaftsbeschreibungen und die wunderbare Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, sondern darüberhinaus auch noch durch die humorvolle und diskussionswürdige Betrachtung des Mutterseins. Diesem Thema widmet sich die Autorin auf der einen Seite auf eine hochkomische Art und Weise. Anna ist wahrlich keine Mutter, die einem Bilderbuch entspringt. Aus ideologischen Gründen lehnt sie es ab zu putzen und um den Haushalt kümmert sie sich ansonsten auch nur widerwillig. Auch in der Küche hält sie sich lieber nicht länger als nötig auf.
“Theoretisch bin ich gegen Kochen. Es ist kein Zufall, dass Fertigmahlzeiten und Supermärkte zur selben Zeit auftauchten wie die Gesetze zur Gleichstellung von Mann und Frau. Praktisch bedeutet Kochen, dass man sich in der Küche verstecken, das Messer schwingen und Radio Four hören kann und trotzdem noch eine gute Mutter ist […].”
Es gelingt Anna, vieles mit Humor zu nehmen, ihren eigenen Unzulänglichkeiten ist sie sich stets bewusst – doch unter dieser Fassade von Humor und Selbstironie blitzen auf der anderen Seite auch immer wieder Momente tiefer Verzweiflung und einer bodenlosen Überforderung auf. Anna findet keine Ruhe, um an ihrem Buch zu arbeiten und ihre eigene wissenschaftliche Karriere voranzutreiben. Ihr Mann entzieht sich der häuslichen Situation, um zu arbeiten, Anna bleibt mit dem Wunsch zurück, endlich wieder wissenschaftlich tätig zu sein und der frustrierenden Realität zwei nervende Kleinkinder um sich zu haben. Kleinkinder, die ihr nicht einmal mehr die Zeit zur Körperpflege lassen, geschweige denn zum Schlafen. Anna empfindet sich selbst als Mutter wider Willen, sie wünscht sich sehnlichst Erholungsurlaub und die Möglichkeit Kinder in den Winterschlaf versetzen zu können.
“Meine Hände zitterten am Gitter des Bettes. Ich darf ihn nicht angreifen. Darf ihn nicht anfassen, sonst lege ich meine Hände um seinen Hals und bringe ihn um. Ich kann nicht weggehen, denn dann würde ich nie wiederkommen, und ich kann nicht bleiben, denn ich bin kurz davor, ihn zu nehmen und seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, bis er aufhört, diesen unerträglichen Lärm zu machen.”
Sarah Moss ist mit “Schlaflos” ein sehr kluger Roman gelungen, der sowohl mit Tiefe als auch Humor zu überzeugen weiß. Die Autorin hinterfragt das Muttersein exemplarisch am Beispiel einer Akademikerfamilie, in der nur noch der Mann zum Zug kommt und die Frau mit den Kindern und den Trümmern ihrer längst verblassten Karriere zurückbleibt. Das ist zum einen unterhaltsam und hochkomisch, zum anderen aber auch bestürzend und erschreckend. “Schlaflos” ist ein Roman über Kinder und Karriere und eine unbedingte Leseempfehlung!
11 Comments
Xeniana
February 12, 2014 at 1:52 pmDas setz ich mal auf meine Liste:) Danke!
buzzaldrinsblog
February 14, 2014 at 2:30 pmGerne, ich freue mich doch, dass ich dich neugierig machen konnte! 😀
Bücher die ich noch lesen möchte « Familienbande
February 12, 2014 at 1:56 pm[…] “Schlaflos” von Sarah Moss gefunden bei buzzaldrin […]
seitengeraschel
February 12, 2014 at 2:21 pmWarum liest du immer Bücher, die SO GUT klingen? Danke für diese tolle Buchbesprechung! Schön finde ich, dass Anna es “aus ideologischen Gründen ablehnt zu putzen”. 😉 Nein, ernsthaft, klingt wirklich nach einem mehr als lesenswerten Buch.
buzzaldrinsblog
February 14, 2014 at 2:30 pmIch fand die Sicht von Anna auf’s Leben auch immer wieder erfrischend, sicherlich auch aus dem Grund, das ich selbst nicht unbedingt gerne zum Staubsauger greife oder gar die Küche betrete. 😉 Das Buch ist wirklich lesenswert und die Lektüre lohnt sich, falls du dich dafür entscheiden solltest, wünsche ich dir viel Spaß!
Christoph
February 13, 2014 at 4:38 pmDas klingt sehr lesenswert. Jetzt nehme ich mir aber erst mal “Halb so wild” von David Baddiel vor – das habe ich auch hier entdeckt :-).
buzzaldrinsblog
February 14, 2014 at 2:25 pmSchön, dass ich dich neugierig machen konnte! Nun bin ich aber auch erst mal gespannt darauf, wie dir “Halb so wild” gefallen wird. 🙂
birtheslesezeit
February 14, 2014 at 8:19 amDanke für diese schöne und aussagekräftige Rezi ! Macht Lust auf das Buch 🙂
buzzaldrinsblog
February 14, 2014 at 2:23 pmDas freut mich sehr! Ich habe es auch sehr gerne gelesen – es ist unterhaltsam, aber eben auch tiefgründig. 🙂
Der Sonntagsleser KW #7 – Februar 2014 | Lesen macht glücklich
February 16, 2014 at 1:16 pm[…] zweite Beitrag bezieht sich auf das Buch “Schlaflos” von Sarah Moss welches sich vor allem damit auseinander setzt, dass man das, was man sich vornimmt, einem Abgleich […]
Liebe im Miniaturformat | Buzzaldrins Bücher
July 19, 2015 at 11:29 am[…] Moss – Schlaflos (am […]