Es wird leicht, du wirst sehen – Martin Winckler

Martin Winckler ist nicht nur Autor, sondern auch Arzt und Übersetzer. 1955 wurde er in Algier geboren und immigrierte bereits als Kind nach Frankreich. Bekannt wurde er durch seinen Bestseller “La maladie de Sachs” (in der deutschen Übersetzung trägt das Buch den Titel “Doktor Bruno Sachs”), der nicht nur vielfach verkauft, sondern auch verfilmt wurde. Der Autor lebt heutzutage in Quebec.

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“Das war es. Wenn der andere Schmerzen hat, habe ich Schmerzen. So war ich immer.”

“Es wird leicht, du wirst sehen” ist ein schmaler Roman, in dessen Zentrum Emmanuel Zacks steht. Emmanuel Zacks ist Arzt geworden, um anderen Menschen helfen zu können. In kurzen Episoden, die manchmal gerade einmal wenige Seiten umfassen, wird sein Lebensweg nachgezeichnet. Es ist ein Weg, der geprägt ist von dem Verlust seiner Eltern, ein Weg, der ihn beinahe schon zwangsläufig in einen helfenden Beruf hinein geführt hat.  Nach seinem Studium hat er zunächst Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, so lange, bis er diese Arbeit nicht mehr ertragen konnte. Er wechselte in die Schmerzmedizin, dort fühlt er sich endlich zu Hause.

“Es gab Schmerzen, die allem standhielten. Schmerzen, die man nicht lindern konnte. Gesichter, die man nicht zu erhellen vermochte.”

Emmanuel Zacks ist ein besonderer Mensch, der mit der Gabe eines photographischen Gedächtnisses ausgestattet ist. Dieses hat ihm schon während seines Medizinstudiums einen guten Dienst erwiesen, doch auch danach hilft es ihm dabei, die Geschichten, die ihm Patienten erzählen, aufzusaugen und zu seinen eigenen zu machen. Als seine Mutter ihn vor vielen Jahren bat, ihre Schmerzen zu lindern, verweigerte er sich noch – er weigerte sich, ihre Schmerzen zu lindern, er weigerte sich aber auch, mit ihr über ihre Lebensmüdigkeit zu sprechen. Seinen Patienten begegnet der Arzt dagegen mit einer ausgesprochenen Empathie, er lässt sie reden und hört ihnen zu.

“Ich entgegnete, ich würde mir nur das Wichtigste merken. Das stimmte nicht. Ich merkte mir alles, und ich musste mich ständig selbst zensieren. Es war ermüdend. Ich konnte nicht anders als hören oder zuhören. Ich konnte nicht anders als es mir merken – außer wenn ich zu viel getrunken hatte, und den Zustand mochte ich nicht.”

Als Schmerztherapeut muss Emmanuel Zacks jedoch auch wiederholt die schmerzhafte Erfahrung machen, dass es Schmerzen gibt, die nicht gelindert werden können und dass es Momente gibt, in denen Patienten ihr Leben nur noch beendet wissen wollen. Nicht alle Schmerzen sind heilbar. Im Wunsch zu helfen, gerät der Arzt immer wieder in Konflikt mit dem hippokratischen Eid, den er als Mediziner geschworen hat. Es gibt eine Grenze im Helfen, die er lange nicht überschreitet. Doch eines Tages erhält er einen Anruf von André, einem ehemaligen Kollegen: er ist todkrank und möchte sich bewusst dafür entscheiden, jetzt zu sterben und nicht mehr weiter zu leiden.

“Auch die Abwesenheit der anderen ist eine Hölle. Es ist weder Schmerz noch Depression, noch Einsamkeit. Es ist ein noch schmerzhafteres Gefühl. Das Gefühl, genug zu haben. Des Daseins überdrüssig.”

Emmanuel Zacks erfüllt seinem Freund diesen Wunsch – er erfüllt ihn, ohne lange zu zögern, ohne zu hadern und André sagt den Satz zu ihm, der auch titelgebend für diesen schmalen Roman ist: “Es wird leicht, du wirst sehen.” André ist der Erste von vielen, die noch folgen sollten. Es läuft immer nach dem selben Schema ab: die Lebensmüden kontaktieren Emmanuel Zacks, erzählen ihm ihre Geschichte und bitten um Erlösung. Manche offenbaren sich ihm in ihren letzten Minuten, erzählen etwas, das sie bitter bereuen, etwas, das ihnen auf der Seele lastet – Emmanuel Zacks ist in diesen Minuten nicht nur Mediziner, sondern auch ein Beichtvater. Der Arzt merkt sich alles und legt Heft für Heft an, in jedem finden sich die Geschichten seiner heimlichen Patienten, von denen niemand etwas erfahren darf, denn in der französischen Öffentlichkeit wird jede Form der Sterbehilfe abgelehnt. Für den Arzt ist die Weigerung der Politik über mögliche Formen der Sterbehilfe zu sprechen eine “Heuchelei”, an einer Stelle konstatiert er, dass Prinzipien über die Linderung von Leid gestellt werden.

“Beim Sterben will ich nicht sehen, dass meine Brust sich gegen meinen Willen hebt und senkt, ich will nicht an meiner statt eine Maschine atmen hören. Ich will meiner Familie Auf Wiedersehen sagen können. Mit meinem Mund, meinen Lippen, meiner Kehle.”

Emmanuel Zacks stellt die Richtigkeit seines Handelns an keiner Stelle in Frage. Er tötet, auch wenn  er natürlich aus einem Gefühl der Menschlichkeit heraus tötet. Die moralische Antwort auf die Frage danach, ob wir unser Leben selbst beenden lassen dürfen, ist für ihn eindeutig. Er beginnt erst an seinen Entscheidungen zu zweifeln, als er Nora kennenlernt und sein Leben eine ungeahnte Wendung nimmt …

Das Thema Sterbehilfe ist nicht erst seit der SPIEGEL-Ausgabe mit dem Titel “Sterben in Würde” immer wieder ein Thema, das eine Auseinandersetzung erfordert. Zuletzt ist es mir im Tagebuch von Wolfgang Herrndorf begegnet, der eine für alle frei zugängliche Form der Selbsttötung fordert und diese auch für sich selbst in Anspruch genommen hat: “Was ich brauche, ist eine Exitstrategie.” Der Roman von Martin Winckler, der vor allem durch eine sensible Hauptfigur getragen wird, verführt dazu, dem Arzt in seiner Handlungsweise zuzustimmen und die Taten von Emmanuel Zacks nicht mehr moralisch zu hinterfragen. “Es wird leicht, du wirst sehen” wirft viele Fragen auf, es sind Fragen nach den Grenzen der Beziehung zwischen Arzt und Patient: darf ein Arzt den Wunsch erfüllen, sterben zu wollen? Wie weit darf das Bedürfnis danach zu heilen, zu helfen und Schmerzen zu lindern gehen? Wie kann man als Arzt in den letzten Stunden Trost spenden? Wie sieht ein würdevoller Tod überhaupt aus?

“Aber letzten Endes haben wir nur das. Geschichten. Sie helfen uns zu leben und bereiten uns auf den Tod vor.”

Martin Winckler legt mit “Es wird leicht, du wirst sehen” einen leisen Roman vor, der beim Lesen dennoch eine unheimliche Kraft entfaltet. Im Vordergrund steht natürlich die moralische Frage nach der richtigen Anwendung von Sterbehilfe, die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist jedoch eingebettet in einen höchst lesenswerten Text, der nicht nur die berührende Geschichte eines außergewöhnlichen Arztes erzählt, sondern darüber hinaus auch die bewegenden Geschichten seiner Patienten. Eine wichtige Leseempfehlung!

6 Comments

  • Reply
    guenterkeil
    March 17, 2014 at 6:42 am

    Schön, dass du Winckler rezensierst, Danke! Ein wichtiges Buch, finde ich: http://guenterkeil.wordpress.com/2013/12/18/martin-winckler-es-wird-leicht-rezension-literaturblog-guenter-keil/

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 17, 2014 at 2:45 pm

      Danke für den Link, ich werfe gleich mal einen Blick hinein! 🙂

  • Reply
    masuko13
    March 17, 2014 at 7:54 am

    Das Buch kommt sofort auf meine Leseliste. Ganz besonders wegen dem Thema Sterbehilfe, aber auch weil ich gern wissen möchte, wer ist Nora??? Super Besprechung, danke!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 17, 2014 at 2:44 pm

      Gerne! 😀 Ich freue mich sehr, dass ich dich neugierig machen konnte! Auch ich empfinde dieses Thema als sehr wichtig und glaube, dass es gut ist, dass sich immer mehr Bücher damit auseinandersetzen.

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    March 17, 2014 at 4:26 pm

    Liebe Mara,

    dieses Buch ist, wie Du Dir sicher vorstellen kannst, sofort nach der Lektüre auf meine Prioritätenliste gerutscht. Wunderbare Rezension – und hier sieht es so aus, als ob das Thema auf eine Art bearbeitet wurde, die ich eher akzeptieren kann, als bei Frau Bernheim.
    Liebe Grüße, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 18, 2014 at 8:42 pm

      Lieber Kai,

      das Buch von Frau Bernheim habe ich noch nicht gelesen, doch es steht auf meiner Wunschliste. Ist es etwa eher nicht empfehlenswert? Ich freue mich, dass dich meine Besprechung neugierig machen konnte und ich bin mir auch fast sicher, dass dir das Buch gefallen könnte.

      Liebe Grüße
      Mara

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