Édouard Levé wurde 1965 geboren, 2007 nahm er sich das Leben. Er war nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch Künstler und Fotograf. Neben vier Prosabänden veröffentlichte Levé, der in Paris lebte, auch zahlreiche Fotobände. Sein Roman “Selbstmord” erschien 2012 auf Deutsch, letztes Jahr folgte der zweite Roman. “Autoportrait” wurde von Claudia Hamm übersetzt.
“Als Jugendlicher glaubte ich, eine Bedienungsanleitung Leben könnte mir beim Leben helfen und eine Bedienungsanleitung Selbstmord beim Sterben.”
Meine Lektüre des Romans “Selbstmord” liegt bereits beinahe zwei Jahre zurück, doch ich erinnere mich immer noch gut an das beklemmende Leseerlebnis – besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die ungewöhnliche Perspektive, die Édouard Levé verwendete. Der ganze Roman richtet sich durchgehend an ein namenloses “du”. “Autoportrait” bildet einen ziemlichen Kontrast zu dieser Perspektive, denn der autobiographische Roman wird beinahe gegensätzlich erzählt: vollständig aus einer Ich-Perspektive heraus.
“Ich habe einmal einen Selbstmordversuch unternommen und war viermal versucht, einen Selbstmordversuch zu unternehmen.”
Auf knapp 110 Seiten legt Édouard Levé Zeugnis ab – Zeugnis über sein eigenes Leben, seine Charakterzüge, seine Schwächen und Stärken, seine Vorlieben und Abneigungen, über seine Wünsche und Ängste, seine Träume und Befürchtungen. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis, in das man als Leser rettungslos hinein gesogen wird. Édouard Levé ist sich selbst gegenüber schonungslos, nichts wird beschönigt. Ein wiederkehrendes Motiv seines Selbstzeugnisses ist das Motiv einer Idee, die nicht umgesetzt wird.
“[…] ich sage “fast”, denn der Film hat nur zweihundert Bilder und sie wurden in anderthalb Jahren aufgenommen. Ich habe ein Fotoprojekt begonnen, das darin besteht, die einundvierzig Orte zu fotografieren, an denen Charles Baudelaire in Paris gelebt hat, aber nach mittlerweile vier Jahren bin ich immer noch nicht fertig damit, und jedes Mal, wenn ich mir vornehme, mich wieder dranzumachen, entmutigt mich die Vorstellung, dass ich noch einmal von vorn beginnen müsste, um die Aufnahmen aufeinander abzustimmen.”
Édouard Levé ist nicht nur Autor, sondern auch Künstler – seine Ideen sind vielfältig, er hat Ideen zur Eröffnung von unterschiedlichen Museen, zu Fotoprojekten, zu Büchern. Kaum einer dieser Ideen wird jedoch umgesetzt, Levé zeichnet das Bild eines sich fortsetzenden Versagens. Dieses immer wieder auftauchende Motiv (“Ich hatte einmal eine Idee …”) ist beinahe schon tragisch.
“Ich habe manchmal das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, ohne sagen zu können, warum, als würde ein Schatten über mir schweben, den ich nicht loszuwerden vermag.”
Édouard Levé betreibt im Grunde eine umfassende Nabelschau – jedoch auf hohem literarischen Niveau. Wir erfahren, wen er geliebt hat, wem er seine Liebe gestanden hat, wir erfahren etwas über sein Verhältnis zu seinen Eltern, über sein Verhältnis zu sich selbst. Wir erfahren, was er gerne isst, wann er gerne arbeitet, wie lange er schläft, welche Bücher er liest, welche Filme er schaut, welche Musik er hört. Mit wem er Sex hatte, wo er Sex hatte. Wir erfahren auch scheinbare Banalitäten des Alltags. Zwischendurch werden immer wieder Sätze eingestreut, die einem die Luft zum Atmen rauben. Zwischen einer Aufzählung seiner Urlaubreisen und seiner ersten Prügelei als zwölfjähriger Junge steht der Satz: “Meine Eltern stellen mir nicht genug Fragen.”
“Ich schlafe lieber ein, als dass ich aufwache, aber ich lebe lieber, als dass ich sterbe.”
“Autoportrait” ist eine Anspielung auf das, was Édouard Levé neben dem Schreiben am liebsten getan hat: die Fotografie. Doch im Grunde ist “Autoportrait” nicht nur ein Portrait, sondern auch eine Biographie – eine Autobiographie. Der Text liest sich wie ein Einkaufszettel, wie ein Protokoll, wie eine Aneinanderreihung von Tatsachen, die – wenn man sie zusammensetzt – das autobiographische Bild eines getriebenen und traurigen Mannes ergibt. “Vielleicht schreibe ich dieses Buch, damit ich nicht mehr sprechen muss.” In allem, was Levé – häufig unzusammenhängend – aufzählt, schwingt das Gefühl der Traurigkeit und der Endlichkeit mit. Hier schreibt ein Autor, der weiß, dass seine Zeit vorbei ist – nicht, weil er an einer unheilbaren Krankheit leidet, sondern weil er seinem Leben selbst ein Ende setzten möchte. Aber wer weiß, vielleicht ist auch Traurigkeit eine unheilbare Krankheit.
“Wenn ich mich in der Lust, mich umzubringen, über den Balkon lehne, rettet mich mein Schwindelgefühl.”
“Autoportrait” ist eine Sammlung von stakkatohaft und ohne einen einzigen Absatz aneinandergereihten Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. In jeder Antwort schwingt eine Geschichte mit, die viel umfassender ist, als die Antwort – sie wird jedoch nicht erzählt, nicht in diesem Buch. Nie mehr. Diese über allem drohende Macht der vergehenden Zeit, ist vielleicht das Traurigste dieses schmalen Büchleins. Édouard Levé lebt mit dem bedrückenden Gefühl, keine Zeit mehr zu haben.
“Ich verbringe viel Zeit mit Lesen, aber ich glaube nicht, dass ich ein großer Leser bin. Ich bin ein Wiederleser. Ich habe in meinem Bücherschrank genauso viele gelesene wie nicht zu Ende gelesene Bücher. Beim Berechnen der gelesenen Bücher schummle ich, denn ich zähle die nicht fertiggelesenen mit. Ich werde nie wissen, wie viele Bücher ich wirklich gelesen habe.”
Édouard Levé legt mit “Autoportrait” seinen Lebensroman vor und gleichzeitig eine schonungslose Lebensbeichte ab, ohne Beschönigungen und ohne Ausflüchte. Geschrieben ist er im Stile von Twitternachrichten, in kurzen und abgehackten Sätzen, die in all ihrer Kürze jedoch eine tieferliegende Bedeutungsschicht haben. Mit “Autoportrait” hat Levé ein beeindruckendes autobiographisches Kunstwerk geschaffen, bezahlt hat er dafür mit dem Leben, das er sich zwei Jahre später genommen hat.
3 Comments
tanrak
March 24, 2014 at 3:22 pmSehr spannend !!!! Befürchte aber dass so ein Text mich zu sehr “runter zieht” ….. davor hab ich Angst.
buzzaldrinsblog
March 26, 2014 at 12:35 pmHallo Tanrak,
aufbauend ist der Text in der Tat nicht unbedingt, vor allem vor dem Hintergrund, dass hier ein Autor schreibt, der sich zwei Jahre später das Leben genommen hat – ausblenden konnte ich dies nicht. Vielleicht findest du irgendwann die Kraft und den Mut zu der Lektüre – über eine Rückmeldung würde ich mich dann sehr freuen.
Liebe Grüße
Mara
Frankreich - zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse!
October 7, 2017 at 11:51 am[…] wenn ich mich durch mein Archiv klicke, dann stoße ich auf In diesem Sommer von Véronique Olimi, Autoportrait von Édouard Levé, Souvenirs von David Foenkinos, Kümmernisse von Judith Perrignon oder auch […]