In Siri Hustvedts lesenswertem Essayband gibt es einen Essay, der den Titel “Ausflüge zu den Inseln der Wenigen” trägt, in dem die Autorin das Prinzip ihres eigenen Buches erklärt: sie spricht dort über unsere Kultur des Hyperfokus und Expertentums – jeder ist nur noch Experte auf seiner eigenen abgeschotteten Insel, ohne Blick für die Schönheiten rechts und links. Siri Hustvedt ist Literatin, Künstlerin, doch sie macht sich mutig auf, zu den Inseln der Kunsttheroie, der Neurowissenschaften, der Psychoanalyse. Es sind Reisen, die sie für immer verändert haben.
“Große Bücher sind solche, die eindrücklich und lebensverändernd sind, solche, die dem Leser Kopf und Herz öffnen.”
Die Essays, die in “Leben, Denken, Schauen” versammelt sind, wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren geschrieben und sie alle vereint, dass Siri Hustvedt in ihnen über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausblickt. Sie legt keinen literatur- oder geisteswissenschaftlichen Essayband vor, sondern bedient sich vielerlei Theorien aus anderen Disziplinen. Fündig wird sie dabei vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es verwundert nicht, dass sich die erfolgreiche Autorin auch lange vorstellen konnte, als Psychoanalytikerin zu arbeiten.
Die hier versammelten Essays sind nicht alle auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, neben dem klassischen Essay gibt es auch Beiträge für Fachzeitschriften oder auch Mitschriften von Vorträgen. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte in gemeinschaftlicher Arbeit von Uli Aumüller und Erica Fischer.
“Beim nochmaligen Lesen der in diesem Band gesammelten Essays wurde mir klar, dass sie, obwohl sie eine ganze Reihe von Themen behandeln, durch die beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, miteinander verbunden sind. Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen?”
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Leben, Denken, Schauen. Unter dem Schlagwort Leben versammelt Siri Hustvedt die wohl persönlichsten Essays dieses Bandes. Vater und Mutter finden Erwähnung, genauso wie ihre skandinavische Herkunft und ihre Liebe für die dänische Schriftstellerin Inger Christensen. Denken ist die Überschrift für diejenigen Essays, in denen die Autorin sich mit theoretischen Rätseln und Fragen beschäftigt. Viele dieser Rätsel wurzeln in der Literatur. Es geht um die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Schreiben von Erinnerungsliteratur und dem romanhaften Erzählen. Es geht um die Sprache in der Politik, eine Sprache, die ein Klima der Angst erzeugen kann – etwas, das vor allem George Bush beherrscht hat. Klug und besonnen zeigt Siri Hustvedt auf, wie dieser durch ständige Wiederholungen, ein Wort wie Freiheit entwertet und ausgehöhlt hat. Es geht aber auch um die Frage nach Phantasie und Imagination und um die Psychoanalyse. In vielen Essays vermischen sich die Theorien – warum auch nicht, warum sollte man nicht die neurowissenschaftliche Forschung heranziehen, um eine literarische Frage zu beantworten?
“Meine Essays sind eine Form von geistigen Reisen, von einem Zugehen auf Antworten, wobei ich mir intensiv dessen bewusst bin, dass ich nie ans Ende der Straße gelangen werde.”
Im letzten Abschnitt des Buches, der den Titel Schauen trägt, beschäftigt sich Siri Hustvedt mit Fragen der Bildenden Kunst. All diesen Fragen geht eine ursprüngliche Begeisterung für Kunst und Künstler voraus, Erwähnung finden Louise Bourgeois, Kiki Smith, Gerhard Richter, Annette Messager, Goya oder auch Richard Allen Morris. Kunst ist ein Bereich, der Siri Hustvedt seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt und den sie immer wieder auf neuen Wegen versucht zu entdecken und zu beschreiben.
“Jedes Buch ist für jemanden. Der Akt des Schreibens mag einsam sein, er ist aber immer eine Hinwendung zu einer anderen Person – einer Einzelperson -, da jedes Buch allein gelesen wird. Die Schriftstellerin weiß nicht, für wen sie schreibt. Das Gesicht des Lesers oder der Leserin ist unsichtbar, und doch stellt jeder zu Papier gebrachte Satz ein Angebot dar, Kontakt aufzunehmen, und eine Hoffnung darauf, verstanden zu werden. Die Essays in Leben, Denken, Schauen wurden in diesem Geist geschrieben. Sie wurden für Sie geschrieben.”
Allen Essays gemein ist der unbändige Entdeckergeist und Forscherwille von Siri Hustvedt. Hier schreibt keine von ihrem Alltag gelangweilte Literatin, die gerne mal ein bisschen in die Psychologie hinein schnuppern will. Hustvedt erschließt sich all die fremden Inseln mit unbändigem Wissensdurst, Fleiß und Ausdauer. Sie nimmt regelmäßig teil an monatlichen Vorträgen über Neurowisschenschaft und ist als einzige Künstlerin Mitglied einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Sie veröffentlicht in psychologischen Fachzeitschriften und leitet einen Schreibkurs an einer Psychiatrie. Dieses stete Interesse an der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben liegt sicherlich auch in der eigenen Erkrankung Hustvedts begründet, die an schweren und häufig monatelangen Migräneschüben leidet.
“Das Lesen hat in unserer Kultur so nachgelassen, dass jetzt alles Lesen für ‘gut’ gehalten wird. Kinder werden ermahnt, überhaupt zu lesen, so als wären alle Bücher gleich, doch ein mit Binsenweisheiten und Klischees, mit formelhaften Geschichten und einfachen Antworten auf schlecht gestellte Fragen aufgeblähtes Gehirn ist kaum das, worum wir uns bemühen sollten.”
Auf die Frage danach, wer wir sind und wie wir so geworden sind, gibt es keine einfachen oder gar allgemeingültigen Antworten, doch Siri Hustvedt gelingt es, kleine Impulse zu geben, interessante Perspektiven aufzuzeigen und zu neuen Denkanstößen anzuregen. Ihre wichtigste Anregung ist sicherlich die, mal über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken – mit einem Blick, der offen sein sollte und immer darauf ausgerichtet, Neues zu entdecken.
19 Comments
dasgrauesofa
June 16, 2014 at 12:08 pmLiebe Mara,
das “Lesen-ZItat” gefällt mir seht gut. Es stimmt ja, dass wir alle schon froh sind, wenn jemand überhaupt etwas liest, aber es stimmt noch viel mehr, dass ja nicht alles, was lesbar ist, auch lesenswert ist. – Deine Besprechung lässt auf recht schwierige Texte schließen, sicher interessant und lehrreich, aber nicht mal eben so “wegzulesen”. Vielen Dank für Deine Vorstellung.
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
June 17, 2014 at 2:27 pmLiebe Claudia,
ja, auch mir hat das Zitat über das Lesen sehr gut gefallen, überhaupt gibt es einige spannende literarische Essays in diesem Band. Die Texte sind in der Tat nicht einfach zu lesen, der Essayband lässt sich nicht eben in der Hängematte wegschmökern, ich habe die Essays jedoch sehr gerne gelesen und kann die Lektüre – vielleicht für etwas kühlere Tage – nur empfehlen.
Liebe Grüße
Mara
juttareichelt
June 16, 2014 at 12:49 pmLiebe Mara, ich halte schon seit einer Weile in den Neuanschaffungsregalen der hiesigen Bibliotheken danach Ausschau und erwäge nun, nach der Lektüre deiner Besprechung, es doch käuflich zu erwerben. Die früheren Romane von Siri Hustvedt waren nicht so ganz meine Sache, die weltanschaulichen Fragen fügten sich für mich nie so ganz geschmeidig in die Erzählhandlung ein, aber “Die zitternde Frau” und auch “Sommer ohne Männer” habe ich mit großem Interesse gelesen. Schöne Grüße!
buzzaldrinsblog
June 17, 2014 at 2:23 pmLiebe Jutta,
ich freue mich sehr über deine positiven Worte zu “Sommer ohne Männer”, das hier noch ungelesen steht und darauf wartet, gelesen zu werden. Ihr neuester Essayband ist in der Tat hochinteressant, wenn auch nicht einfach zu lesen. Ich habe vieles daraus mitgenommen, viele Impulse, viele Anregungen.
Liebe Grüße
Mara
juttareichelt
June 18, 2014 at 12:43 pmIch vermute, dass “Die zitternde Frau” schon einen guten Einblick davon vermittelt, welche Themen Siri Hustvedt in den Essays dann ausführlicher und über einen längeren Zeitrau verfolgt. Und, wie sollte es anders sein, im “Sommer ohne Männer” taucht vieles davon dann auch wieder auf – in meinen Augen auf eine ungewöhnlich lose, aber sehr überzeugende Weise miteiander verknüpft.
Und dann will ich dir schon länger schreiben, dass ich “Die Illusion des Getrenntseins” gelesen habe – auf Grund der Empfehlung von dir und Siri Hustvedt 😉 – und es für mich nicht so richtig “aufgegangen” ist, weil ich oft nicht mehr wusste, wer wer ist. Aber das Problem habe ich öfter und kann es daher schlecht dem Autor in die Schuhe schieben. Jetzt liegt das Buch hier und ich will mir gelegentlich die Komposition in einer überblicksartigen Zweitlektüre erschließen …
Madeleine Buchling
June 16, 2014 at 1:53 pmErst gestern stand ich vor meinem SuB und habe beschlossen als nächstes “Sommer ohne Männer” zu lesen, da dieses Buch schon seit Monaten im Regal steht und ich seit Ewigkeiten endlich mal was von Siri Hustvedt lesen möchte. Daher hat mich dein Post heute besonders interessiert. Vielen Dank!
Liebe Grüße
Madeleine
buzzaldrinsblog
June 17, 2014 at 2:22 pmGerne! Ich freue mich, dass es diese ungeahnte Verbindung gab! 🙂 Bitte erzähle doch, wie dir “Sommer ohne Männer” gefallen hat – ich habe es hier noch ungelesen stehen.
Sonnige Grüße aus Göttingen
Mara
jancak
June 16, 2014 at 2:14 pmDa habe ich jetzt die “Zitternde Frau” auf meiner Leseliste und bin schon sehr gespannt, den “Sommer ohne Männer” habe ich, glaube ich, auch gelesen
buzzaldrinsblog
June 17, 2014 at 2:20 pm“Sommer ohne Männer” steht hier noch ungelesen herum, aber die “Zitternde Frau” habe ich sehr gerne gelesen. 🙂
buchpost
June 16, 2014 at 3:37 pmVielen Dank für diese interessante Vorstellung! Da mich Sommer ohne Männer nicht so richtig begeistern konnte, bin ich nicht unbedingt in Versuchung, bald mal wieder etwas von ihr zu lesen. Aber allein schon das Zitat zum Lesen ist große Klasse. Wäre es dir recht, wenn ich das auf meinem Blog zitieren würde (natürlich mit Hinweis auf dich)? Das wäre schön. LG, Anna
buzzaldrinsblog
June 16, 2014 at 3:40 pmLiebe Anna,
natürlich wäre mir das recht! 🙂 Mir hat es auch sehr gut gefallen, deshalb habe ich es zitiert und freue mich, wenn es Verbreitung findet.
Sommer ohne Männer kenne ich noch nicht – es steht noch ungelesen im Regal. Ansonsten habe ich alles von Hustvedt gelesen und schätze sie als Autorin sehr, vor allem für ihre Essays. Auch die zitternde Frau ist eine empfehlenswerte Lektüre.
Liebe Grüße
Mara
buchpost
June 16, 2014 at 3:43 pmDanke dir für die nette und rasche Antwort. Hmm, Die Zitternde Frau, ja, das klang noch interessant. Aber ich habe mir erst einige Bücher gegönnt. Der Platz wird langsam eng 🙂 LG, Anna
buzzaldrinsblog
June 17, 2014 at 2:19 pmDas kenne ich, liebe Anna! 😉 Bei uns zu Hause gibt es gerade intensive Diskussionen, wie viele Regale noch angeschafft werden dürfen.
buchpost
June 17, 2014 at 2:27 pmUnd ich sage euch, das wird mit den Jahren nicht besser. Kicher. Und die Regale werden NIE ausreichen. Ich trenne mich zwar rigoros von Büchern, die ich nicht noch einmal lesen möchte, aber trotzdem … LG Anna
Fundstück | buchpost
June 16, 2014 at 6:28 pm[…] mit einem großen Dankeschön an Mara, die das Buch vorgestellt […]
madameflamusse
June 18, 2014 at 7:30 pmEIns meiner Lieblingsbücher ist “was ich liebte” – is nun aber schon ne Weile her das ich es gelesen hatte. Ich glaube das braucht eine Auffrischung. Nach diesem Buch werde ich sehr neugierig nun auch Ausschau halten. Die anderen Bücher von Ihren waren nicht so meins. Aber “was ich liebte” hat mich so so geprägt das mir der Name etwas bedeutet.
buzzaldrinsblog
June 19, 2014 at 3:01 pm“Was ich liebte” gehört auch für mich zu den prägendsten Lektüren überhaupt, die Idee, das Buch beizeiten wieder zu lesen, reizt mich auch – wären da nur nicht all die Neuerscheinungen. 😉
Die Essays sind natürlich ganz anders als der Roman, aber nicht weniger lesenswert.
Liebe Grüße
Mara
madameflamusse
June 18, 2014 at 7:33 pmAch stimmt, “Sommer ohne Männer” hat sich dann nach dem etwas schwachem Anfang auch als sehr tolles Buch entpuppt!!
Ein Jahr in Büchern | Buzzaldrins Bücher
July 19, 2015 at 11:41 am[…] Siri Hustvedt – Leben, Denken, Schauen […]