Große Liebe – Navid Kermani

Zuletzt machte Navid Kermani weniger als Literat Schlagzeilen, als durch seine beeindruckende und wichtige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetz. Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem Frühjahr gibt es im Hanser Literaturverlag endlich ein neues Buch: auch in “Große Liebe” beschäftigt sich Navid Kermani mit einem schwerwiegenden Ausnahmezustand, dem Gefühlschaos der ersten großen Liebe.

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Es ist Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein fünfzehn Jahre alter Schüler, der drei Baumwollpullover übereinander trägt, verliebt sich in ein vier Jahre älteres Mädchen, das dasselbe Gymnasium besucht, wie er. Die erste Annäherung ist vorsichtig. Während der Junge bereits das Fieber des Verliebtseins spürt, nimmt das Mädchen ihn zunächst noch gar nicht wahr. Das hindert ihn nicht daran, die Pausen in der verbotenen Raucherecke zu verbringen – in größt möglicher Nähe zu ihr. Doch irgendwann ist es so weit, im Tagungsraum der evangelischen Studentengemeinde schaut das Mädchen ihn zum ersten Mal genauer an. Der Fortlauf der Liebe ist rasant: schnell werden schüchterne Küsse ausgetaucht, dann noch mehr, doch da ist es eigentlich schon wieder fast vorbei. Die Liebe kam und ging schneller als der Junge es je hätte ahnen können. Schon ist es wieder vorbei, auf knapp 100 Seiten ein Wechselbad der Liebesgefühle: von den höchsten Höhen der gemeinsamen Vereinigung hinabgestürzt in den bittersten Trennungsschmerz.

“Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt -, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.”

“Große Liebe” ist möglicherweise weniger Roman, als Erinnerungsbuch, denn die Erinnerungen an diese erste große Liebe sind stark autobiographisch gefärbt. Navid Kermani erzählt nicht die Geschichte irgendeines Jungen, sondern die eigene Geschichte. In hundert kurzen Kapiteln lässt er seine erste große Liebe Revue passieren – mit dem Abstand von dreißig Jahren, als geschiedener Ehemann und Vater eines Sohnes, der selbst gerade fünfzehn geworden ist. Mit dreißig Jahren Abstand, gelingt es an der ein oder anderen Stelle, den “logischen Schluß” zu ziehen, etwas, das dem fünfzehnjährigen Navid Kermani, erkrankt am Liebesvirus, nicht immer gelingen wollte.

“Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war?”

Das Besondere an “Große Liebe” ist, dass sich Navid Kermani nicht nur zurückerinnert, sondern die Liebesgefühle des Jungen, der er einmal gewesen ist, auch zu verstehen versucht. Der Autor bringt jeden Tag ein Kapitel zu Papier, 100 Kapitel umfasst die große Liebe des Jungen: vom ersten Kuss, über den ersten Geschlechtsakt, bis zur überraschenden Trennung. Was im Roman 100 Kapitel sind, sind in Wirklichkeit nicht einmal wenige Wochen. Doch es sind Tage, die dem Jungen wie eine endlose Ewigkeit erscheinen.

“[…] ich habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ‘Bleiben im Entwedern’ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt […].”

Eine zusätzliche Ebene erhält der Text durch zahlreiche Zitate und Verweise auf das wahnsinnige Gefühl der Liebe, bei denen sich Navid Kermani der persischen Dichtung bedient, aber auch der Philosophie. Erwähnung findet die Geschichte des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert die sagenhafte Geschichte von Leila und Madschnun erzählte. Madschnun verliebt sich rettungslos in Leila und besingt im verzweifelten Versuch sie für sich zu gewinnen, seine Liebe zu ihr. Während Ibn Arabi im 13. Jahrhundert von der außerordentlichen Feinheit spricht, die man in der Liebe finden kann. All diese Zitate rücken das pubertäre Verliebtsein eines Jungen, das gerade einmal knapp eine Woche Bestand haben sollte, auf eine allumfassendere Ebene. All die Dichter und Philosophen, die Navid Kermani zitiert, bringen das auf den Punkt, was möglicherweise jeder Liebende empfindet, insbesondere bei der ersten großen Liebe: man gibt als Liebender seinen Verstand her, sein Herz, macht sich lächerlicher um die Liebste zu gewinnen. Das allererste Verliebtsein ähnelt einem grippalen Infekt, einem Fieber, das man sich einfängt.

“Erst später las er in den Büchern, daß die Liebe nicht nur ‘die Vernunft mit sich reißt und geistige Besessenheit’ hervorruft, wie ihn Ibn Arabi warnt, sondern eben auch ‘Auszehrung’ bedeutet, ‘das hartnäckige Kreisen der Gedanken, die Unruhe, die Schlaflosigkeit, das brennende Verlangen, das Feuer der Leidenschaft und die durchwachten Nächte.'” 

Navid Kermani gelingt mit “Große Liebe” ein Erinnerungsbuch der eigenen ersten großen Liebe, das gleichzeitig zu einem Erinnerungsbuch des Lesers wird. Die Gedanken an die eigene erste große Liebe, an das tiefe Versenken und das böse Erwachen, an den Liebeswahnsinn, der einen Sinn und Verstand verlieren lässt, sind unvermeidbar. So stiftet der Roman auch an zu einer Zeitreise durch das eigene Leben, zurück in das Gefühlschaos der ersten großen Liebe. Vielleicht ist dieses Anstiften der größte Verdienst des Romans, viel mehr noch, als die eigentliche Geschichte, die Navid Kermani erzählt. Navid Kermanis Liebesgeschichte hat übrigens auch noch eine politische Komponente, denn bereits damals – mit gerade einmal fünfzehn Jahren – kämpfte er für die Friedensbewegung und nahm an einer Blockade des Verteidigungsministeriums teil.

“Große Liebe” ist ein schmales Bändchen, doch die 100 Kapitel sind außerordentlich lesenswert. Mit großer Ernsthaftigkeit erzählt Navid Kermani seine eigene Geschichte, er erzählt vom Virus der Liebe, der ihn urplötzlich packte und mit Haut und Haaren verschlang. Er erzählt von einer Tiefe und Gefühlsintensität, die im Leben eines Erwachsenen kaum noch Raum hat. Lest “Große Liebe” und erinnert euch zurück an eure eigene große Liebe.

6 Comments

  • Reply
    EinSchönerWald
    July 5, 2014 at 9:58 am

    Herzlichen Dank für den Tipp – Navid Kermani ist ein solch wunderbarer Mensch, ich würde am liebsten mal mehrere Wochen Urlaub haben, um alles zu lesen!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 5, 2014 at 7:31 pm

      Gerne – das Buch ist wirklich lesenswert! 🙂 Ich würde mir gerne gemeinsam mit dir Urlaub nehmen, hier steht von ihm immer noch “Dein Name” und wartet darauf, endlich gelesen zu werden.

  • Reply
    Muromez
    July 6, 2014 at 2:59 pm

    Schöne Besprechung, habe das Buch (größtenteils) auch gemocht. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 7, 2014 at 2:27 pm

      Danke! 🙂 Ja, ich hatte gelesen, dass du Schwierigkeiten mit den persischen Dichtern hattest … 😉 Ich glaube, dass der Genuss des Buches stark davon abhängt, ob man sich darauf einlassen kann, oder nicht.

  • Reply
    saetzebirgit
    March 6, 2015 at 11:58 am

    Bei mir hat es tatsächlich sehr starke Erinnerungen ausgelöst, zumal Kermani ja auch meine Altersklasse ist – und so war das Buch für mich mit vielen Reminiszenzen (Cordhosen, Friedenstaube etc.) auch ein kleiner Nostalgietrip.

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