Ein Jahr nach dem Tod von Wolfgang Herrndorf erscheint Bilder deiner großen Liebe, ein unvollendeter Roman und – wenn man so will – eine Fortsetzung von Tschick. Es ist eine Fortsetzung, die aus Bruchstücken besteht und die die Geschichte von Isa Schmidt erzählt. Wenn man an Tschick denkt, dann denkt man an Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, doch es gab da auch noch das seltsame Müllmädchen Isa. Bilder deiner großen Liebe erzählt ihre Geschichte.
Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.
In Tschick ist Isa Schmidt das Mädchen von der Müllkippe. Sie hilft Andrej und Maik dabei Benzin zu klauen und begleitet sie ein Stück auf ihrer gemeinsamen Reise, bevor sie die beiden wieder verlässt. In Bilder deiner großen Liebe bekommt Isa ihre eigene Geschichte, es ist eine Geschichte, die vor den Toren einer geschlossenen Irrenanstalt beginnt. Isa macht sich auf den Weg. Wohin genau, dass weiß sie selbst noch nicht. Hauptsache weg. Die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet, nutzt sie dazu, durch das riesige Tor aus riesigem Eisen abzuhauen – ohne Schuhe und mit nicht viel mehr als dem, was sie am Leib trägt.
Es macht einem nur wahnsinnig Angst, wenn man merkt, dass man gerade auf den Gehweg kackt und weiß, dass das nicht üblich ist und dass so was nur Leute machen, die verrückt sind, und diese Angst macht, dass es einem auch wieder ganz gleichgültig ist, was die anderen denken, ob die jetzt gucken oder nicht, weil man in dem Moment wirklich andere Probleme hat. Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde.
Isa begibt sich auf eine Reise, immer am Fluss entlang. Sie trifft auf Daniel, der in Afghanistan gekämpft hat. Wird von Max Hiller mitgenommen, der den Kanal mit einem Frachtschiff befährt. Trifft auf einen Juristen, der Schriftsteller geworden ist und über dessen Leben ein dunkler Schatten liegt. Der Lastwagenfahrer Teddybär nimmt sie mit und mit einem Bauarbeiter führt sie ein Gespräch über die erste große Liebe. Auch der Autor selbst schmuggelt sich, standesgemäß in grüner Trainingsjacke, in den Roman – Isa begegnet ihm zwischen lauter Gräbern auf dem Friedhof.
‘Wir sind beide gut und glücklich.’
‘Obgleich wir auch traurig sind.’
‘Aber da denken wir nicht dran.’
‘Da denken wir nicht dran.’
Isas Reise bleibt unvollendet, sie endet genauso plötzlich wie der Roman. Doch aus jeder Begegnung, die sie unterwegs macht, nimmt sie etwas mit. Aus jedem Gespräch behält sie etwas, hält sie etwas fest. Es ist eine Reise, die aus Bruchstücken und Fragmenten besteht, doch vereinzelt und zwischendurch gibt es so einige Sätze voller Klarheit, voller Schönheit und von erschlagender Erkenntnis. Einer dieser Momente ist die Feststellung von Isa, dass es keinen Unterschied macht, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden. Ein anderer Moment ist eine Stelle, an der steht, dass die Menschen mit schwierigem Schicksal glücklicher sind: Nicht die Normalen, das ist ein Naturgesetz.
Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin. Pappelsamen schneien um mich herum, und der süße Duft der Lichtnelken strömt durch die Nächte. Ich sehe einen Wald, aus dem vier hohe Masten aufragen über die Baumwipfel. Am Waldrand steht eine kleine Hütte, die Teil eines Wanderwegs ist, wie drei eingekastelte Zeichen verraten. Ein schwarzer Gedankenstrich, eine gelbe Schlange, ein rotes Dreieck. Mein Name. Unter dem Dachvorsprung lege ich mich hin.
Manchmal ist der Sinn entstellt, manchmal stehen nur einzelne Wörter am Ende der Kapitel, ohne Zusammenhang. Auch Lücken gibt es, zahlreiche Leerstellen. Einmal berichtet Isa, ihr Vater sei von einem Meteoriten erschlagen worden, alle Zeitungen hätten darüber berichtet. An anderer Stelle erzählt sie, dass sich ihr Vater sicherlich um sie sorgt. Die Topographie des Romans ist genauso unstimmig wie die Jahreszeiten. Doch auf der anderen Seite spiegeln diese Unzuverlässigkeiten auch die Erzählerin wider, die vor lauter Verrücktheiten die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive wahrnimmt. Da überrascht es auch nicht, dass sie sich mit einem taubstummen Jungen unterhält. Die zweiunddreißig Kapitel des Romans erzählen weniger eine zusammenhängende Geschichte, als eine Reise in Fragmenten. Jedes Kapitel katapultiert den Leser in eine neue Situation, an einen anderen Ort. Die Entstehung des Romans, der nur 128 Seiten schmal ist, wird in einem erhellenden Nachwort von Kathrin Passig und Marcus Gärtner beleuchtet. Bilder deiner großen Liebe fußt auf einem neunzig Seiten langen Manuskript, das Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod fertiggestellt hatte. Ihm fehlte jedoch die Kraft, den Roman zu beenden, die Ungereimtheiten zu beseitigen, die Lücken zu schließen. Er wünschte sich jemanden, der das Buch für ihn zu Ende schreiben sollte, doch das ist nicht geschehen, stattdessen wurde dieser kaputte Roman veröffentlicht. Das ist sicherlich auch sinnvoll, denn neben all dem, das keinen Sinn ergibt, findet sich dann doch die Stimme des Autors wieder, die mal humorvoll ist und mal tieftraurig, geprägt von einer erschreckenden Kraft.
Und wenn mir einmal jemand begegnet wäre und hätte mir erzählt, dass dieser Tag und dieser Weg und wie ich Tag für Tag an immer genau der gleichen Stelle mit der flachen Hand über die Farnbläter streiche, während immer und immer die Sonne scheint, dass in meiner Erinnerung nur das zurückbleiben würde und dass ich nie glücklicher sein würde als in diesem Moment, dann hätte ich ihn angeguckt, wie du mich jetzt anguckst. Weil du nicht weißt, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde. Und darum erzähle ich dir das. Weil ich vielleicht der bin, der dir sagt, dass du mit der Hand über die Farne streichst, ohne es zu wissen. Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es längert dauert, das Unglück. Es ist einfach so.
Mit Bilder deiner großen Liebe setzte Wolfgang Herrndorf seinen Romanerfolg Tschick fort. Isa ist auch on the road, aber ihr Weg ist vor allen Dingen düster und von vielen Gedanken über die Zeit, den Sinn des Lebens und den Tod geprägt. Es ist eine Reise ohne Ende, denn es ist dem Autor nicht gelungen, den Roman noch vor seinem Tod fertigzustellen. Dennoch ist es eine außergewöhnliche Reise und eine wertvolle, eine lesenswerte, eine berührende Lektüre. Ein letzter Gruß eines großartigen Autors.
12 Comments
dj7o9
September 29, 2014 at 3:30 pmTolle Rezension 🙂 Das werde ich auch noch lesen, auch wenn es noch ein wenig dauern könnte bis mein SUB neben dem Bett nicht mehr so lebensbedrohlich wackelt und ich mich traue wieder etwas draufzulegen 😉
Mara
October 1, 2014 at 10:27 amOh ja, nicht, dass du noch von einem schwankenden Bücherstapel im Schlaf erschlagen wirst – wenn du das Buch in Angriff nehmen solltest, bin ich schon gespannt darauf, wie es dir gefallen wird! 🙂
Janine (@Kapri_zioes)
September 29, 2014 at 4:54 pmBilder deiner großen Leben klingt unglaublich gut. Ich hätte ziemlich große Lust gerade jetzt genau dieses Buch zu lesen. Ich war schon so begeistert, als entschieden wurde, dass Arbeit und Struktur verlegt werden sollen. Aber Isa ist das Sahnehäubchen. Definitiv.
Ich hätte ehrlich gesagt auch nicht gewollt, dass jemand versucht die Lücken und Unstimmigkeiten aus dem Manuskript zu schreiben. Wer hätte sich da bitte getraut? Der Druck wäre viel zu groß. Und das Ergebnis ungewiss.
Liebe Grüße
Janine
Mara
October 1, 2014 at 10:26 amLiebe Janine,
ich freue mich, dass ich dich so neugierig auf den Roman machen konnte. Isa ist wirklich eine tolle Hauptfigur und ich bin froh, dass es dieses Buch gibt. Es ist aber auch traurig, dass es darüber hinaus wohl nichts mehr vom Autor zu lesen geben wird.
Ich glaube, dass es eine gute Entscheidung gewesen ist, nicht zu stark in den Text einzugreifen und damit den fragmentarischen Charakter zu erhalten. Wenn ich das Nachwort richtig verstanden habe, war es vor allen Dingen der Wunsch von Wolfgang Herrndorf selbst, dass sich jemand findet, um das Manuskript zu Ende zu schreiben. Dazu hat sich – verständlicherweise – jedoch niemand bereit erklärt.
Liebe Grüße
Mara
Christoph
September 29, 2014 at 5:14 pmOffenbar ist es hier ja tatsächlich gelungen, mit dem unvollendeten Roman behutsam umzugehen und ihn im Sinne des Autors zu veröffentlichen. In der SZ war jüngst zu lesen, dass Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod verfügt hat, bloß keine Germanisten an das Manuskript ranzulassen :-).
Mara
October 1, 2014 at 10:14 amLieber Christoph,
in der Tat und ich bin – trotz der Lücken und Leerstellen – froh, dass der Roman alles in allem recht unangetastet geblieben ist und dadurch Wolfgang Herrndorf im Text immer noch erkennbar bleibt. Den Satz mit den Germanisten, die, genauso wie die Journalisten, vom Nachlass ferngehalten werden sollen, findet sich so auch im Nachwort.
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
September 29, 2014 at 9:52 pmLiebe Mara,
jetzt bin ich natürlich noch neugieriger auf den ‘kaputten’ und unvollendeten Roman. Habe es heute in die Buchhandlunggeschafft und muss nun bloss noch einen Post fertig bekommen und den Roman ohne U zu Ende lesen, dann darf ich an den Herrndorf…
Vielen Dank für die schöne Besprechung und liebe Grüsse
Kai
Mara
October 1, 2014 at 10:08 amLieber Kai,
Roman ohne U steht auch noch auf meiner Wunschliste, ach herrje, wann soll man all diese ganzen Bücher nur lesen? 😉 Mit Isa wünsche ich dir ganz viel Spaß und bin gespannt wie du diesen Roman voller Lücken und Leerstellen empfinden wirst.
Liebe Grüße
Mara
Yvonne
November 7, 2014 at 6:08 pmHabe das Buch auch gerade gelesen und bin total begeistert. Ganz anders als tschick, viel melancholischer. Und auch ich fand etliche Text-Stellen einfach nur unglaublich schön und wahr. Danke für die tolle Rezension!
Mara
November 8, 2014 at 9:09 pmLiebe Yvonne,
gerne! 🙂 Ich freue mich, dass du dich in meiner Besprechung wiederfinden kannst. Mich hat Isa auch ungehauen – es ist so schade, dass da wahrscheinlich nichts mehr kommen wird, ich würde gerne noch mehr von Wolfgang Herrndorf lesen.
Liebe Grüße
Mara
Ein Jahr in Büchern - Buzzaldrins Bücher
December 21, 2014 at 2:40 pm[…] Wolfgang Herrndorf – Bilder deiner großen Liebe […]
Die Bilder von Wolfgang Herrndorf | Buzzaldrins Bücher
August 12, 2015 at 12:00 pm[…] ich – wie im Fieber – innerhalb weniger Tage verschlungen, später las ich dann noch Bilder deiner großen Liebe. Sand und Tschick liegen hier noch und warten darauf gelesen zu […]