Das Geräusch einer Schnecke beim Essen ist nicht nur ein großartiger Titel, sondern auch ein großartiges Buch. Es ist ein autobiographisches Buch, denn Elisabeth Bailey erzählt davon, wie eine Erkrankung ihr ganzes bisheriges Leben verändern sollte und wie sie sich trotz dessen wieder zurückgekämpft hat. Entstanden ist dabei ein kluger, poetischer und sehr berührender Text.
Denke nicht daran, wieviel zu tun ist, welche Schwierigkeiten zu bewältigen sind oder welches Ziel erreicht werden soll, sondern widme dich gewissenhaft der kleinen Aufgabe, die gerade ansteht, und lass das für heute genügen.
Elisabeth Bailey arbeitet eigentlich als Journalistin, doch dann sollte eine mysteriöse Viruserkrankung sie jahrelang ans Bett fesseln. Die Erkrankung, die nach einer Europareise der Autorin ausbricht, hat zur Folge, dass das Leben von Elisabeth Bailey ganz und gar zum Stillstand kommt. All das, was vorher war, kann nun plötzlich nicht mehr gemacht werden: der Beruf, geliebte Aktivitäten und das Zusammensein mit Freunden – all das ist plötzlich unmöglich geworden. Stattdessen wird das Leben bestimmt von Arztbesuchen, Kreislaufzusammenbrüchen und einer mysteriösen Muskelschwäche.
Aber was war nun mit der Schnecke? Was sollte ich mit ihr anfangen? So klein sie war, hatte sie doch friedlich vor sich hingelebt, als meine Freundin sie aufhob. Welches Recht hatten wir, in ihr Leben einzugreifen? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, wie das Leben einer Schnecke überhaupt aussah.
Eines Tages bringt eine Freundin ihr eine Topfpflanze mit, unter deren Blättern eine Schnecke sitzt, die sie im Wald gefunden hat. Nicht nur Elisabeth Bailey muss plötzlich mit völlig veränderten Lebensbedingungen zurecht kommen, sondern auch die Schnecke, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen hat. Sie lebt lange in den Blättern der Topfpflanze, bevor sie irgendwann in ein Terrarium umgesiedelt wird. Elisabeth Bailey und die Schnecke gehen eine seltsame Form der Gemeinschaft ein: für die nächsten Wochen und Monate wird die Schnecke zu einer ständigen Begleiterin. Einer Begleitung mit inspirierender Wirkung, denn die Schnecke ist – trotz ihrer Größe – eine furchtlose und unermüdliche Entdeckerin. Bailey beobachtet dieses kriechende Tier, das plötzlich in ein ganz anderes Leben gesetzt wurde – ohne Mitspracherecht haben zu können bei dieser Entscheidung. Durch das Beobachten der Schnecke erhält das Leben von Elisabeth Bailey zum ersten Mal seit ihrer schweren Erkrankung wieder einen Sinn, sie hat das Gefühl, gebraucht zu werden. Aber nicht nur das, denn auch ihr Gefühl für das Vergehen der Zeit verändert sich: das gemächliche Tempo der Schnecke überträgt sich auch auf die Autorin, die sich nur im Schneckentempo von ihrer Erkrankung erholt.
Die Schnecke und ich lebten beide in einer veränderten Landschaft, die wir uns nicht selbst ausgesucht hatten – ich stellte mir vor, dass wir ein Gefühl des Verlusts und der Heimatlosigkeit teilten.
Aus der Beobachtung der Schnecke entsteht etwas ganz Erstaunliches: durch die Betrachtung eines anderen Lebewesens verändert sich plötzlich auch die Perspektive aus der Elisabeth Bailey auf ihr eigenes Leben blickt. Ihr Schicksal, in erdrückender Isolation ans Bett gefesselt zu sein, wiegt urplötzlich weniger schwer. Ihr eigenes Erleben wird plötzlich in ein ganz neues Verhältnis gerückt. Die anfängliche Beobachtung wird mit der Zeit zu einer großen Leidenschaft für Schnecken. Die Autorin wird zur Schneckenforscherin und lässt die Leser an all ihren erstaunlichen Erkenntnissen über das Leben von Schnecken teilhaben.
Ich hätte mir niemals träumen lassen, was mich durch das vergangene Jahr gebracht hat: eine Waldschnecke und ihre Nachkommen – ohne sie hätte ich es, glaube ich, wirklich nicht geschafft. Zu beobachten, wie ein anderes Geschöpf seinem Leben nachgeht … gab auch mit, der Beobachterin, einen Daseinszweck.
Das Geräusch einer Schnecke beim Essen ist ein unheimlich zartes und leises Buch, wenn man ganz still ist beim Lesen, glaubt man schon fast die Schnecke beim Essen belauschen zu können. Sie frisst sich so durch die Seiten, Sätze und Wörter, die davon erzählen, wie bereichernd es sein kann, die eigene Perspektive zu öffnen und den Blick ab und an auch mal auf andere Lebensbereiche zu richten. Elisabeth Bailey hat ein wahrhaft zauberhaftes Buch geschrieben, ein Buch irgendwo zwischen Poesie, Wissenschaft und Lebensbetrachtung.
27 Comments
dasgrauesofa
November 13, 2014 at 9:39 amLiebe Mara,
die Schnecke als Hausgenosse einerseits und andererseits auch als literarisches Bild für das eigene Leben mit der Erkrankung finde ich unheimlich stark. Und von der Schnecke zu lernen, sich mit der neuen doch sehr beeinträchtigten Lebenssituation anders auseinanderzusetzen, ist auch sehr beeindruckend.
Viele Grüße, Claudia
Mara
November 19, 2014 at 6:04 pmLiebe Claudia,
beeindruckend ist das Buch in der Tat und darüber hinaus auch ganz schmal und kostengünstig, du kannst es also ganz unproblematisch zwischen deine aktuelle Lektüre schieben … ich sag es mal nur so!
Liebe Grüße
Mara
Ken Takel
November 13, 2014 at 11:12 amOh, habe erst gestern eine positive Review dazu gelesen.Klingt wirklich interessant. Werd ich mir vormerken.
Mara
November 19, 2014 at 6:02 pmGute Entscheidung! 😀
dj7o9
November 13, 2014 at 12:47 pmSchöne Rezension und ich freue mich auf das Buch – steht schon seit einer Weile mit gefühlten 100000 auf der To-Read-Liste, aber irgendwann zieht das bei mir ein, bin ganz sicher und freu mich jetzt schon drauf. Habe damals zwischen “Das Geräusch einer Schnecke beim Essen” und “Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen” entscheiden müssen und da hatte im ersten Moment der Zitronenkuchen die Nase vorn. Aber mei, Schnecken brauchen halt a bisserl länger, aber die schaffen es auch noch … 🙂
Mara
November 19, 2014 at 6:02 pmSchnecken brauchen ein bisschen länger, sind dafür aber auch sehr hartnäckig … irgendwie wird sie den Weg zu dir schon finden und dann wünsche ich dir ganz große Freude bei der Lektüre! 🙂
“Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen” ist irgendwann auch mal bei mir wegen des Titels eingezogen, bisher habe ich das Buch aber noch nicht gelesen, wird mal Zeit!
Maike
November 13, 2014 at 2:50 pmLiebe Mara!
Was für eine schöne Rezension! Ich hab das Buch aufgrund des Covers in der Buchhandlung meines Vertrauens in die Hand genommen. Meiner Meinung nach eines der schönsten Cover seit Jahren!!! Schnecken sind mir eh sehr sympathisch 🙂 Und jetzt will ich das Buch erst recht lesen. Gerade weil es so ein zartes Buch ist und eine leise Geschichte erzählt, passt es doch hervorragend zur Jahreszeit.
Liebe Grüße, Maike
Mara
November 19, 2014 at 6:01 pmLiebe Maike,
ich freue mich über deinen Besuch und deine Wortmeldung. 🙂 Auch wenn mir das ansonsten nicht häufig passiert, war dies Buch in der Tat ein reiner Coverkauf, denn ich habe mich in die Schnecke verliebt und in den charmanten Titel. Ich wünsche dir ganz viel Lesefreude und viel Inspiration bei der Lektüre!
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
November 13, 2014 at 3:45 pmLiebe Mara,
dieses Buch spricht mich nicht nur literarisch an, sondern auch ganz persönlich. Ich bin ja seit <April auch von einem normalen werktätigen Menschen zu einer physischen Schnecke geworden und finde es gar nicht so einfach, damit umzugehen. Insofern bin ich Dir sehr und doppelt dankbar für Deine schöne Besprechung.
Liebe Grüsse, Kai
Mara
November 19, 2014 at 5:57 pmLieber Kai,
dann drücke ich dir an dieser Stelle noch mal ganz doll die Daumen für eine rasante Genesung – wenn das denn überhaupt möglich ist. Ich bin bisher zum Glück verschont geblieben mit länger dauernden Erkrankungen und doch kann ich mir vorstellen, dass Elisabeth Bailey vielen (erkrankten aber natürlich auch gesunden) Menschen einen neuen Blick auf das Leben eröffnen kann. Mich hat sie auf jeden Fall sehr inspiriert.
Liebe Grüße
Mara
juttareichelt
November 13, 2014 at 3:58 pmLiebe Mara, ich habe das auch sehr gerne gelesen und war überrascht, wie leicht es mir fiel, diese “Perspektiven-Übernahme” mitzuvollziehen – was natürlich eine Verdienst der Autorin ist … Herzliche Grüße!
Mara
November 19, 2014 at 5:56 pmLiebe Jutta,
ich hätte zuvor auch nicht geglaubt, die Perspektive einer Schnecke einnehmen zu können, habe aber festgestellt, wie wohltuend und erfrischend so ein Perspektivwechsel manchmal sein kann.
Liebe Grüße
Mara
BirthesLesezeit
November 13, 2014 at 4:43 pmEine schöne Rezi und ein Buch, das offensichtlich sehr berührend ist und nachdenklich stimmt – und von dem man vielleicht noch ein wenig über das Leben lernen und erfahren kann. Landet auf meiner Wunschliste :-). LG Birthe
Mara
November 19, 2014 at 5:55 pmÜber das Leben lernen und über die Perspektive, aus der man auf das Leben blicken kann, kannst du in diesem Buch auf jeden Fall – es ist großartig und ganz schmal und für wenig Geld zu haben. Wenn mir Bücher so am Herzen liegen, werde ich immer gleich ganz missionarisch – entschuldige bitte. 😉
Muromez
November 13, 2014 at 10:42 pmUnabhängig vom Inhalt … der Titel ist wahrhaftig grandios!
Mara
November 19, 2014 at 5:54 pmFind ich aber auch! Ich muss gestehen, dass es auch der Titel gewesen ist, der mich auf das Buch neugierig gemacht hat! 😉
Desirée Löffler
November 14, 2014 at 9:39 pmDas Buch habe ich auf den Rat meiner Lieblingsbuchhändlerin auch gelesen und sehr geliebt. Dieser Blick ins Allerkleinste, sich in unserer Welt, in der alles irgendwie zu haben ist, und zwar sofort, so intensiv auf nur eine Sache, ein Lebewesen einzulassen, hat mich sehr inspiriert. Ich habe das Buch ein paar mal verschenkt. Aber ich t glaube, die Menschen, denen ich es am liebsten geben würde, weil sie es am nötigsten haben, denen fehlt trotz der wenigen Seiten dafür die Geduld.
Mara
November 19, 2014 at 5:52 pmLiebe Desirée,
danke für deinen Besuch und deinen Kommentar – dieser ruhige und gelassene Blick auf das Allerkleinste unserer Welt, hat mich auch begeistert und sehr beeindruckt. Es hat mich berührt, dass sich die Autorin trotz ihrer schlimme Erkrankung so tief auf ein anderes Lebewesen einlassen konnte. Ich hoffe sehr, dass dieses ungewöhnliche Buch auch weiterhin viele Leser finden wird.
Liebe Grüße
Mara
iris
November 15, 2014 at 12:20 pmEin wirklich schönes Buch und eine gute Rezension. Ich habe diese sehr berührende Geschichte im Buch gerne gelesen.
Mara
November 19, 2014 at 5:50 pmLiebe Iris,
schön, dass dir das Buch auch gefallen hat. Es ist ja schon länger auf dem Buchmarkt, zwischen all den Neuerscheinugnen, habe ich es aber erst vor kurzem entdeckt und mich dann an der Lektüre erfreut. Es ist wirklich ein ganz besonderes Buch!
Liebe Grüße
Mara
Graugans
November 16, 2014 at 5:58 pmEins meiner absoluten Lieblingsbücher! Ich habe noch nie in meinem Leben so ein warmherziges und gescheites Buch über die ansonsten ja wenig geliebten Schneckenwesen gelesen, das auch noch wie nebenbei eine schwere Krankheit als selbstverständlichen Zustand akzeptiert und ins Leben integriert. Ein starkes Stück Literatur, glücklichmachend! Liebe Grüsse
Mara
November 19, 2014 at 5:33 pmLiebe Graugans,
ich freue mich sehr über deinen Besuch und darüber, dass dir das Buch ebenso gut gefallen hat, wie mir. Ich war auch sehr begeistert davon, wie klug die Autorin über ihre schwere Erkrankung schreibt, die sie ja über zwanzig Jahre eingeschränkt hat. Ich sage manchmal etwas klischeehaft, dass ich lese, um zu lernen und dies hier ist in der Tat ein Buch, bei dessen Lektüre ich unheimlich viel gelernt habe.
Liebe Grüße
Mara
Petra
November 16, 2014 at 5:58 pmIch möchte gern zu dem Buch, das mir sehr gut gefallen hat, und zur Autorin etwas ergänzen.
Ein wichtiger Aspekt des Buch ist für mich die Leichtigkeit, mit der die Autorin verschiedene “Genres” verbindet. Elisabeth Bailey ist auch Biologin und verbindet in ihrem Text Autobriografische Elemente und naturkundliche Beobachtung. Ihr Buch ist u.a. auf einer Topliste von “Science and Technology books” gewesen.
In einem Interview weist sie darauf hin, dass sie ihre Erkrankung im Nachwort benannt hat. Elisabetzh Bailey ist an ME (Myalgische Enzephalomyelitis) erkrankt.
In einem Hintergrundvideo auf ihrer Website kann man die Schnecke übrigens wirklich essen hören.
Hier: http://www.elisabethtovabailey.net/
Mara
November 19, 2014 at 5:30 pmLiebe Petra,
ich freue mich über deinen Besuch und danke dir sehr für all die interessanten Hintergrundinformationen, die mir so alle gar nicht bekannt gewesen waren. Ich freue mich schon darauf, mir gleich mal die Schnecke beim Essen anzuhören.
Herzlichen Dank!
Liebe Grüße
Mara
Ein Jahr in Büchern - Buzzaldrins Bücher
December 21, 2014 at 5:21 pm[…] Elisabeth Tova Bailey – Das Geräusch einer Schnecke beim Essen […]
[Rezension]: Elisabeth Tova Bailey – Das Geräusch einer Schnecke beim Essen | Lesen macht glücklich
January 10, 2016 at 6:55 pm[…] diesem Buch hatte ich Ende 2014 die Besprechung bei Mara von buzzaldrins gelesen, die dieses Buch als leises Buch anpreist und ihm soviel abgewinnem konnte, dass es sogar unter […]
[Rezension]: Elisabeth Tova Bailey – Das Geräusch einer Schnecke beim Essen – Lesen macht glücklich
January 16, 2016 at 8:40 pm[…] diesem Buch hatte ich Ende 2014 die Besprechung bei Mara von buzzaldrins gelesen, die dieses Buch als leises Buch anpreist und ihm soviel abgewinnem konnte, dass es sogar unter […]