John Irving ist mit “Das Hotel New Hampshire” eine bezaubernde Familiengeschichte gelungen, in der er von motorradfahrenden Bären, einem Hotel in Wien, einem ausgestopften Familienhund und der Liebe zwischen Geschwistern erzählt – das ist berührend, wahnsinnig komisch und wunderbar unterhaltsam.
Familien müssen wohl so sein – eben noch Kämpfe bis aufs Blut, und im Handumdrehen die große Versöhnung.
In Das Hotel New Hampshire erzählt John Irving die üppige Geschichte der Familie Berry, die in Dairy wohnt – einem kleinen Örtchen mitten in Maine. Familie Berry besteht neben den Eltern aus fünf Geschwistern: dem ältesten Sohn Frank, der bildschönen Franny, der kleinwüchsigen Lilly, dem Nesthäckchen Egg und John, dem Erzähler des Romans. Daneben wird der Roman von zahlreichen ungewöhnlichen Nebenfiguren bevölkert: von Großvater Iowa-Bob, der in seiner Freizeit Gewichte hebt; von Familienhund Kummer, der zuviel pupst; von dem Bären State o’Maine, der gerne Motorrad fährt; oder von Susie, die in einem Bärenkostüm steckt, weil sie die Welt anders nicht erträgt.
“State o’Maine” Der doofe Bbär hieß tatsächlich so, und zusammen miit einem Motorrad – einer 1937er Indian mit handgefertigtem Beiwagen – kaufte ihn mein Vater im Sommer 1939 für 200 Dollar und die besten Kleider in seiner Feldkiste.
Das Leben von Familie Berry ist geprägt von den Schnapsideen des Vaters – nachdem Win Berry zunächst samt Bär und Motorrad durch das Land tourte, beschließt er anschließend in einem ehemaligen Mädcheninternat in Dairy ein Hotel zu eröffnen. Eine Idee, die nicht von viel Erfolg gekrönt ist, das weitere Leben der Berrys aber für immer bestimmen sollte. Eine ähnliche Schnapsidee ist der Umzug nach Wien, dort gibt es ein Hotel, was die Familie übernimmt und sich mit skurrilen Revolutionären und ziemlich lauten Huren teilt.
Das erste Hotel New Hampshire kam so zustande: Als die Leute von der Dairy School einsahen, daß künftig auch Mädchen aufgenommen werden mußten, wenn die Schule überleben sollte, war es um das Thompson Female Seminary geschehen; plötzlich hatte Dairys immer flauer Immobilienmarkt ein unbrauchbarees Objekt anzubieten. Kein Mensch wusste, was aus dem riesigen Gebäude werden sollte, das einmal eine reine Mädchenschule gewesen war.
John Irving erzählt jedoch nicht nur eine skurrile Geschichte, sondern eine Geschichte, die aus ganz vielen Schichten besteht. Diese Skurrilität, die alle seine Bücher ausmacht, ist eine dieser Schichten, doch daneben gibt es noch viel mehr: es geht auch um den Tod, um eine Vergewaltigung und um Geschwisterliebe, die es so nicht geben dürfte. Was auch immer Familie Berry im Laufe der Jahrzehnte geschieht, welches Schicksal sie auch immer ereilt: die Familie versucht es mit ganz viel Fassung zu tragen. In den Hotels der Berry ist kein Platz, um Trübsal zu blasen oder in Verzweiflung auszubrechen: stattdessen wird das Leben so genommen, wie es nun mal ist – mit all seinen Höhen und all seinen Tiefen. Vielleicht ist das eines der Dinge, die ich aus diesem Buch mitgenommen habe – die Kraft, Schicksalsschläge mit Menschlichkeit und dem unbedingten Glauben zu ertragen, dass es immer irgendwie weitergeht.
Ich war nur ein Realist in einer Familie aus lauter Träumern, großen und kleinen. Ich wußte, ich konnte nicht mehr wachsen. Ich wußte, ich würde nie richtig erwachsen werden; ich wußte, meine Kindheit würde nie von mir abfallen, und ich würde nie wirklich erwachsen – und verantwortungsbewußt – genug sein für die gottverdammte Welt, wie Frank sie nannte. So sehr konnte ich mich nicht ändern, und ich wußte es.
Mitgenommen habe ich auch ganz viele Sätze, die sich für immer in mein Herz geschrieben habe: bleib weg von offenen Fenstern und Kummer schwimmt immer oben sind zwei davon.
Das ausufernde Erzählen und die skurrilen Charaktere sind sicherlich nicht jedermanns Sache. Für mich ist Das Hotel New Hampshire ein fulminanter Roman, voller Poesie, Lebensweisheit und einer beeindruckenden Erzählkraft. Der einzige Fehler dieses Buches ist, dass es nur 600 Seiten lang ist: ich hätte mich über weitere 600 Seiten nicht beklagt.
21 Comments
wildgans
January 18, 2016 at 7:47 amEines meiner Lieblingsbücher – vor allem der Satz mit den offenen Fenstern …Der Film ist auch gelungen, finde ich!
Gut, dass unser alter Hund nicht so pupst!
Gruß von Sonja
Mara
January 24, 2016 at 9:02 pmLiebe Sonja,
den Film kenne ich noch nicht, das werde ich aber sobald wie möglich nachholen – vielen Dank für den Tipp! 🙂
Andrea
January 18, 2016 at 7:55 amEiner der wenigen “komischen” Romane, der mich wirklich zum lauten Lachen brachte. Ich liebe dieses Buch.
Und wiedereinmal eine tolle Rezension.
Liebe Grüße
Andrea
Mara
January 24, 2016 at 9:02 pmLiebe Andrea,
so erging es mir auch! Eigentlich mag ich gar keine komischen Romane, hier aber hat irgendwie einfach alles gepasst. Schön, dass dein Leseerlebnis ähnlich gewesen ist.
Liebe Grüße
Mara
Leseseiten
January 18, 2016 at 9:34 amDieses Buch ist ein ganzer Kosmos von grandiosen Geschichten – humor- und gefühlvollen – und man kann gar nicht oft genug darauf aufmerksam machen! Für mich mit “Witwe für ein Jahr” Irvings bester Roman.
Mara
January 24, 2016 at 9:00 pmWie schön, genauso habe ich das auch empfunden! “Witwe für ein Jahr” habe ich übrigens dieses Wochenende angefangen zu lesen und bin bis jetzt sehr angetan davon. 🙂
Janice
January 18, 2016 at 9:42 amHallo Mara!
Ich liebe die Bücher von John Irving <3
Ganz besonders 'Owen Meany' und 'The World according to Garp' habe ich mit Begeisterung verschlungen!
Ich wünsche dir noch viele herrliche Lesestunden mit seinen Büchern!
Liebe Grüße
Janice
Mara
January 24, 2016 at 9:00 pmLiebe Janice,
“Garp” kenne ich auch schon, “Owen Meany” steht hier aber noch ungelesen – das werde ich aber sicherlich demnächst in Angriff nehmen, ich bin schon ganz gespannt auf die Lektüre!
Liebe Grüße
Mara
Sophie
January 18, 2016 at 10:59 amFreue mich schon sehr auf das Büchlein, habe es letztes Jahr noch in meine hübsche Diogenes-Sammlung aufgenommen. (: Hoffe sehr, dass mir Irving gefallen wird.
Mara
January 24, 2016 at 8:59 pmLiebe Sophie,
das hoffe ich natürlich auch sehr! Bitte berichte doch, wenn du das Buch gelesen haben solltest. 🙂
Masuko13
January 20, 2016 at 6:00 pmJa! Viele Szenen bleiben für immer im Gedächtnis – ganz besonders aber jene mit den offenen Fenstern … du hast mir eine wundervolle Erinnerung geschenkt! Danke dafür 🙂
Ich habe schon zweimal den Film gesehen und mich deshalb nie an die Lektüre dieses großartigen Romans gewagt. Irgendwann aber landet er ganz sicher in meinem Urlaubsgepäck!
Mara
January 24, 2016 at 8:56 pmLiebe Masuko,
ach, wie schön! Ich freue mich sehr, dass ich dir diese ganz besondere Geschichte durch meine Rezension wieder in Erinnerung rufen konnte – mir geht es übrigens genau umgekehrt: das Buch habe ich nun begeistert gelesen, dafür kenne ich den Film noch. Das werde ich nun aber auf jeden Fall nachholen!
Liebe Grüße
Mara
Masuko13
January 24, 2016 at 9:05 pmHach, unvergessliche Nastassja Kinski! Da hast du noch was Schönes vor dir. Liebe Grüße
Buchschätzerin
January 20, 2016 at 8:10 pmHallo Mara,
Offene Fenster? Ich habe mich verführen lassen und versuche es mit Irvings Hotel, nachdem ich mit Owen Meany sehr gekämpft habe. Ich bin gespannt und rechne mit einer bunten, wirren, verträumten Geschichte!
Danke für den schönen Beitrag!
Herzliche Grüße von der Buchschätzerin
Mara
January 24, 2016 at 8:53 pmLiebe Buchschätzerin,
ich freue mich sehr darüber, dass ich dich so neugierig machen konnte und wünsche dir ganz ganz viel Freude bei der Lektüre. Bitte berichte doch vielleicht, wie es dir gefallen hat! 🙂
Liebe Grüße
Mara
Mariki
January 26, 2016 at 5:02 pmAch! Was soll ich sagen – du weißt ja, wie sehr ich Irving (ge)lieb(t hab)e.
Mara
January 31, 2016 at 8:59 pmIch weiß! Ich hoffe, sein neuer Roman wird dir wieder gefallen! 🙂
Filmfreitag: Hotel New Hampshire
January 29, 2016 at 3:51 pm[…] wunderschöne Rezension zum Buch findet ihr bei Mara, dort gibt es mehr Details zu den Figuren und tolle Zitate aus dem […]
Witwe für ein Jahr - John Irving | Buzzaldrins Bücher
March 4, 2016 at 8:24 am[…] wie bei meiner Lektüre von Das Hotel New Hampshire, gibt es auch hier zahlreiche Sätze und Gedanken, die ich mir angestrichen und in mein Notizbuch […]
John Irving: Literatur als Medizin | Buzzaldrins Bücher
March 11, 2016 at 12:40 pm[…] Begeisterung für diesen Schriftsteller geschrieben. Zuletzt gab es hier eine Empfehlung für Das Hotel New Hampshire und Witwe für ein Jahr. Meine Begeisterung für John Irving ist im vergangenen Jahr noch […]
Hauke Harder
March 9, 2018 at 2:44 pmMoin, danke für diese Besprechung und die für mich feine Erinnerung. Ich bin Irving-Fan und liebe alle seine Bücher – ja, alle! Wobei besonders die alten Werke ewig in mir wohnen. Besonders natürlich “Owen Meany”. Erst kamen zu mir die freigelassenen Bären und dann das obige Hotel und somit wurde ich der erwähnte Fan. Auch lustig: in der Witwe für ein Jahr hat unser uns besuchende Diogenes-Verlagsvertreter eine kleine Rolle erhalten und somit bekommen die tollen Irving-Figuren sogar noch mehr Leben 😉
Weiterhin viel Freude mit Irvings Büchern und Filmen!
Herzliche Grüße, Hauke