Witwe für ein Jahr – John Irving

John Irving legt mit Witwe für ein Jahr einen fulminanten Roman, einen tragikomischen Schmöker für dunkle Wintertage und eine abenteuerliche Familiengeschichte vor. Diese ganz besondere Mischung aus Tragik, Komik, Pathos und Empathie macht dieses Buch zu einer lesenswerten Lektüre.

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“Tapfer sein bedeutet, dass man sich abfindet mit dem, was einem zustößt, und dass man versucht, das Beste daraus zu machen.”

Witwe für ein Jahr, der neunte Roman von John Irving, ist im Original bereits vor achtzehn Jahren erschienen, in der deutschen Übersetzung von Irene Rumler liegt er seit 1999 vor, entdeckt habe ich ihn aber erst jetzt. Für mich sind die Romane von John Irving – auch wenn ich erst drei von ihnen kenne – immer mit einer ganz besonderen Stimmung verbunden: möchte ich mich in einem Buch geborgen fühlen, dann greife ich zu Büchern von John Irving. Die abgedrehten Charaktere, die wunderbar pralle Handlung, die traurig absurden Geschichten und all dieser unbändige Optimismus, der einen trotz allem Tragischen immer auch das Positive sehen lässt. All das habe ich auch in Witwe für ein Jahr gefunden, wenn auch die Charaktere in diesem Roman nicht ganz so abgedreht sind – es gibt weder Bären noch tauchen Ringer auf.

Stattdessen erzählt John Irving eine schon fast schmerzhaft realistische Geschichte: im Mittelpunkt des Romans steht die Schriftstellerin Ruth Cole, die mit ihren Büchern große Erfolge feiert, in ihrem Liebesleben aber immer an die falschen Männer gerät. Doch das ist noch längst nicht alles, John Irving erzählt eine Geschichte, die über vier Generationen angelegt ist und die zwischendurch die eine oder andere abstruse Wendung nimmt.

Liebe bedeutet, nicht mehr zu wollen, von anderen nicht mehr zu erwarten als das schon Erreichte; es hieß schlicht und einfach, sich vollständig zu fühlen. Niemand konnte es verdient haben, sich noch besser zu fühlen. 

Die Erzählung setzt in Ruths Kindheit ein, die davon bestimmt ist, dass ihre beiden älteren Brüder bei einem tragischen Autounfall verstorben sind. Ruth ist ein Nachkömmling, gezeugt, um den Schmerz des Verlustes zu lindern. Doch es ist ein Schmerz, der nicht zu lindern ist – 1958 beschließt Ruths Mutter Marion Cole, Ruth bei ihrem Vater zurückzulassen. Nicht ganz unschuldig daran ist der sechzehn Jahre alte Eddie, der bei Ruths Vater – Ted Cole, einem berühmten Kinderbuchautor – einen Sommerjob annimmt, der in einer Affäre mit Marion endet. Später begegnen wir der erwachsenen Ruth wieder, die den Verlust der eigenen Mutter und eine Kindheit, die von Tod und Trauer bestimmt gewesen ist, noch immer nicht hinter sich gelassen hat. Die weitverzweigte Geschichte führt den Leser auf wunderbar verschlungenen Wegen  sogar bis in das Rotlichtviertel nach Amsterdam.

Auf die Romane von John Irving trifft eines tatsächlich zu: sie nehmen einen mit in eine andere Welt. Ich wurde mitgenommen auf eine abenteuerliche Reise, während der ich gelitten, gelacht und geweint habe. Was mich besonders begeistert, ist diese ganz besondere Mischung aus Humor und Traurigkeit, die mich lehrt, noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive auf das Leben zu blicken.

Aber darin besteht die Prüfung, Ruthie. Sie besteht darin, dass es manchmal keine Möglichkeit gibt, rechts ranzufahren. Manchmal kann man einfach nicht stehenbleiben, sondern muss irgendwie weiterfahren. Hast du das verstanden?

Ähnlich wie bei meiner Lektüre von Das Hotel New Hampshire, gibt es auch hier zahlreiche Sätze und Gedanken, die ich mir angestrichen und in mein Notizbuch übertragen habe. Sei es die Frage danach, ob Trauer wirklich ansteckend sein kann, oder die Fähigkeit, Momente wahrzunehmen, in denen die Zeit stehenbleibt. John Irvings Romane unterhalten nicht nur ganz wunderbar, sondern sind nebenbei auch noch eine Lehrstunde für das eigene Leben.

Weil die Gefahr besteht, dass ich mich in meiner Begeisterung lediglich wiederhole, wenn ich noch weiterschreibe, bleibt mir lediglich übrig, eine lautstarke Leseempfehlung herauszubrüllen. Ich habe mit Witwe für ein Jahr einen großen Roman gelesen: klug, weise, mitfühlend und unglaublich spannend erzählt John Irving von Tod und Trauer, von Leben und Liebe und vom Schreiben.

John Irving:Irving Witwe für ein Jahr. Diogenes Verlag, Zürich 1999. 762 Seiten, €12,90. Jeder, der gerne John Irving liest, kann sich übrigens auf neue Lektüre freuen – am 23. März erscheint im Diogenes Verlag sein neuer Roman Straße der Wunder.

 

16 Comments

  • Reply
    dasgrauesofa
    March 4, 2016 at 9:41 am

    Liebe Mara,
    “Witwe für ein Jahr” ist auch einer meiner Lieblings-Irvings. Ein toller, prall-voller Roman, der den Leser für Stunden in eine andere Welt entführt. Aber dass Du geschrieben hast, dass der Roman schon vor 18 Jahren erschienen ist, hat mich sehr schockiert: Was, so lange ist das schon her? Dass ich Spätsommerabende auf dem Balkon verbracht habe (es wurde schon früh dunkel und ich musste für Leselicht sorgen), um Ruth zu begleiten. Das ist ja wirklich: Verdammt lang her!
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 5:05 pm

      Liebe Claudia,

      so geht es mir übrigens auch mittlerweile häufig, dass ich denke, dass manche Dinge doch viel zu lange her sind und ich schon verdammt alt bin. Vielleicht tröstet dich das ja ein wenig. Das wir die Begeisterung für “Witwe für ein Jahr” teilen, freut mich aber sehr – ich habe auch immer wieder mit Ruth mitgelitten und war fast ein wenig wehmütig, das Buch zuklappen und aus der Hand legen zu müssen. Ich hätte sie gerne noch weiter begleitet.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    jancak
    March 4, 2016 at 2:25 pm

    Ich habe den Roman vor ein paar Jahren gelesen, nach dem ich ihn im Schrank gefunden habe und auch ein bißchen den Hype beim Erscheinen miterlebt habe.
    Vor ein paar Wochen habe ich bezüglich meiner Tansgendergeschichte “In einer Person” gelesen, das mir sehr empfohlen wurde und mir da noch einmal meine Rezension angeschaut.
    Denn interessant, daß ich mich an das Buch nicht mehr erinnern konnte und nur noch vage wußte, daß da viel Sex passiert.
    Ich habe einiges von Irving gelesen “Die vierte Hand” habe ich mir gekauft, als ich über eine Nierentransplantation schreiben wollte, interessant, daß ich ihn manchmal als Inspirationsquelle oder Quasi “Ratgeber” benütze, einige Bücher von ihm gefunden, zum Beispiel vor ein paar Tagen”Zirkuskind” und mich über die fürchterliche Übersetzung von “Laßt die Bären los”, als es in Wien bei “Eine Stadt-ein Buch” verteilt wurde, sehr geärgert.
    Ich denke, ein interessanter Autor, der jetzt ja Geburtstag hat, ein Sprachgewandter mit vielen Übertreibungen, der auch ein bißchen vor sich hinschluddert und bin auf seine weiteren Roman, vor allem auf die, die in Wien spielen, die über Grillparzer zum Beispiel, sehr gespannt!
    Viele Grüße aus Wien, wär schön wenn wir uns in Leipzig treffen!

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 5:03 pm

      Liebe Eva,

      wie schön von dir zu lesen – ich freue mich, dass du meine Begeisterung für Irving teilst. Auch ich kenne noch nicht allzu viel von ihm und freue mich schon sehr darauf, weitere seiner Bücher zu entdecken – ganz besonders freue ich mich auch auf seinen neuen Roman.
      In Leipzig bin ich schon ganz schön ausgebucht, wie werden uns in der Bloggerlounge aber ganz sicherlich mal über den Weg laufen und ich freue mich, wenn dann Zeit für ein kurzes Gespräch ist.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    juneautumn
    March 4, 2016 at 7:31 pm

    Liebe Mara,

    “Witwe für ein Jahr” kenne ich noch nicht, auch wenn ich schon einige Irvings gelesen habe. Mein nächster wird wohl “Owen Meany” sein, der schon im Regal wartet. Oder vielleicht bringt der Osterhase “Straße der Wunder”? Das wäre natürlich fein 🙂
    Ich weiß genau, was Du meinst, wenn Du Dich “in einem Buch geborgen fühlen” möchtest, das geht mir mit den Irvings auch immer so. Und ich bin froh, dass ich noch ein paar vor mir habe, denn es ist jedes Mal, wie einen kleinen Schatz zu bergen.
    Ein schönes Lesewochenende wünscht Miriam

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 4:54 pm

      Liebe Miriam,

      “Witwe für ein Jahr” kann ich dir sehr empfehlen – “Owen Meany” kenne ich noch nicht, ich habe es vor vielen Jahren mal versucht, dann aber abgebrochen. Da steht ein erneuter Versuch an! Ich freue mich aber auch schon jetzt auf den neuen Roman und kann es kaum noch abwarten!
      Ich freue mich übrigens sehr, dass du das Gefühl der Geborgenheit nachvollziehen kannst – brauche ich Trost, dann greife ich zu einem Roman von John Irving. Momentan habe ich hier noch einige ungelesene stehen, was ich aber mache, wenn ich alle gelesen habe, weiß ich auch noch nicht so ganz genau!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Annika
    March 4, 2016 at 8:53 pm

    Hallo Mara,
    zu meiner großen Schande muss ich gestehen, dass ich noch nichts von Irving gelesen und nur zwei Filme geschaut habe. Allerdings habe ich letztens bei The Guardian Book Podcast ein Interview/ eine Lesung von ihm gehört, die mich wirklich angesprochen hat- vielleicht ist die auch was für dich.
    Grüße
    Annika

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 4:51 pm

      Liebe Annika,

      vielen Dank für den Tipp, das klingt tatsächlich so, als wäre es etwas für mich – ich schaue gleich mal, ob ich das Interview finde! Und bei dir hoffe ich sehr, dass du vielleicht doch bald mal deinen allerersten Irving lesen wirst – ich wünsche dir schon jetzt viel Freude dabei!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    susa
    March 5, 2016 at 8:05 am

    Irving hat drei aus dem großen Koffer meiner Lebensbücher geschrieben : Das Hotel New Hampshire, Gottes Werk und Teufels Beitrag und Owen Meany. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten mit ungebrochener Faszination und jahrelang war ich aufgeregt, wenn ein neuer Roman angekündigt wurde. Das ist heute nicht mehr so, seine letzten Bücher haben mich alle nicht mehr überzeugt. Die Witwe war für mich eine Marke in seinem Oeuvre, danach ging es langsam aber stetig abwärts. Aber who cares, schließlich ist kein andrer Autor dreimal in besagtem Koffer vertreten….
    bibliophile Grüße,
    Susa

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 4:49 pm

      Liebe Susa,

      hab vielen Dank für diese interessante Sichtweise. Ich habe vor mehr als zehn Jahren “Garp” gelesen und war schockverliebt, danach habe ich mich an Owen Meany versucht und es nie zu Ende gelesen. Aus lauter Angst, dass mir nichts so gut gefallen könnte, wie “Garp”, habe ich dann lange nichts mehr von Irving in die Hand genommen. Wirklich wieder entdeckt habe ich dann im vergangenen Jahr für mich und freue mich deshalb auch ungemein auf seinen neuen Roman.
      Und wer weiß: vielleicht schafft es das neue Buch ja doch, dich zu überzeugen!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    irveliest
    March 6, 2016 at 7:13 pm

    Liebe Mara,
    ich habe doch tatsächlich noch keinen Irving gelesen… Kommt auf die To-Read-Liste 🙂
    Viele Grüße, Heike

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 4:43 pm

      Was? Wie konnte das denn passieren, liebe Heike? Ich hoffe, dass du das bald nachholst! 🙂

  • Reply
    susannekk
    March 7, 2016 at 9:22 am

    Ich konnte nicht warten bis Irvings neuer Roman endlich auf Deutsch herauskommt, ich brauchte für anstrengende Tage einen Seelenschmeichler, also habe ich ihn schon auf Englisch gelesen: privatliteratur.wordpress.com

    • Reply
      Mara
      March 8, 2016 at 4:41 pm

      Oh, dann schaue ich mir gleich mal an, wie dir das Buch gefallen hat – vielen Dank für den Link! Wenn ich besser Englisch könnte, hätte ich wohl auch nicht länger warten können, so freue ich mich weiterhin auf die deutsche Ausgabe!

  • Reply
    madameflamusse
    March 8, 2016 at 9:40 pm

    Ich finde auch es ist einer der besten Irvings. Teilweise auch verfilmt nicht schlecht. Irgendwie ging es mir auch so das ich ziemlich eingetaucht bin. Bei Irving gehts mir immer so das ich es entweder unglaublich gern mag oder gar nicht, dieses und Gottes Werk und Teufels Beitrag sind meine Lieblinge <3 schön das Du es auch so magst

  • Reply
    John Irving: Literatur als Medizin | Buzzaldrins Bücher
    March 11, 2016 at 1:03 pm

    […] geschrieben. Zuletzt gab es hier eine Empfehlung für Das Hotel New Hampshire und Witwe für ein Jahr.  Meine Begeisterung für John Irving ist im vergangenen Jahr noch einmal so richtig entflammt. […]

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