Niemand weiß, wer Elena Ferrante ist. Das Geheimnis und die Spekulationen rund um die Autorin haben viel zu ihrem Ruhm beigetragen. Doch eigentlich sollte es doch gar nicht so wichtig sein, wer diese Bücher schreibt, sondern wie sich diese Bücher lesen lassen.
“Wir dachten, wenn wir viel lernten, könnten wir Bücher schreiben und die Bücher würden uns reich machen.”
Meine geniale Freundin erzählt die Geschichte von zwei Freundinnen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in ärmlichen Verhältnissen zusammen in Neapel aufwachsen. Gewalt und Armut beherrschen das Viertel, in dem sie groß werden. Es ist eine Gegend, in der ein Vater, der seine Tochter vor Wut aus dem Fenster wirft, kaum Aufmerksamkeit erregt. Obwohl Lina und Elena aus einfachen Haushalten stammen, tun sich beide in der Schule aufgrund ihrer Intelligenz hervor. Während Lina wenig für ihre Klugheit tun muss, zeichnet sich Elena durch einen unglaublichen Fleiß und Ehrgeiz aus. Gegen den Willen ihrer Eltern und mit viel Überzeugungskraft ihrer Lehrer gelingt es Elena, eine weiterführende Schule zu besuchen. Linas Bildungsweg wird dagegen irgendwann abrupt unterbrochen: sie muss ihrem Vater in der Schuhfabrik helfen. Während sich Elena die Chance bietet, dank Bildung ihrer Herkunft zu entfliehen, bleibt Lina in den Verhältnissen, in die sie hineingeboren wurde, gefangen.
Obwohl sie und ich auch weiterhin im selben Rione wohnten, obwohl wir dieselbe Kindheit gehabt hatten, obwohl wir beide in unserem sechzehnten Lebensjahr waren, lebten wir plötzlich in zwei verschiedenen Welten.
Elena Ferrante lässt Meine geniale Freundin aus der Perspektive von Elena erzählen, die zurückblickt auf ihre frühesten Erinnerungen an eine ganz besondere Freundin und die gemeinsame Geschichte verfolgt, bis beide sich an der Schwelle zum Erwachsensein befinden. Es ist eine faszinierende Freundschaft, weil beide Mädchen sich lieben und sich gleichzeitig beneiden – Elena neidet Lina ihr gutes Aussehen und ihre Intelligenz, Lina neidet ihrer Freundin die Möglichkeit, weiterhin zur Schule zu gehen. Dieser Neid, diese Eifersucht, werden immer wieder deutlich. Überhaupt ist Meine geniale Freundin ein beeindruckendes Zeugnis, nicht nur einer Freundschaft, sondern auch des Aufwachsens. Der Leser erlebt, wie Elena und Lina langsam älter werden, in die Pubertät kommen, die ersten zarten Bande mit Jungen knüpfen. Die Verwirrung, die Bedürfnisse und die Schmerzen der Pubertät, wurden mir eindrucksvoll in Erinnerung gerufen.
Ich war mit diesen Jungen aufgewachsen, hielt ihr Benehmen für normal, ihre grobe Sprache war meine. Doch ich ging seit nunmehr sechs Jahren einen Weg, über den sie nichts wussten, den ich jedoch so hervorragend meisterte, das ich die Beste war. Bei ihnen konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.
Was gleich zu Beginn des Romans auffällt ist übrigens das riesige Figurenensemble – im Personenverzeichnis, das dem Buch angefügt ist, werden mehr als vierzig Figuren erwähnt, die mehr oder weniger zentrale Rollen in dem Buch spielen. Es ist nicht immer ganz einfach, die Übersicht zu behalten: wer ist eigentlich Nino? Mit wem ist noch einmal Enzo verwandt? Und zu wem gehörte eigentlich Rino? Während Elena ihre Freundin Lila nennt, wird sie von allen anderen Lina gerufen, Elena dagegen wird von vielen Lenu genannt. Als ich mich aber erst einmal eingelesen hatte, konnte ich irgendwann kaum noch aufhören: Meine geniale Freundin hat auf mich eine unheimlich starke Sogwirkung entwickelt und als ich die letzte Seite zugeklappt hatte, hätte ich am liebsten sofort weitergelesen. Das ist wohl das schon weithin bekannte #FerranteFever!
Reichtum war nach wie vor ein Funkeln von Goldmünzen, die in unzähligen Kisten verschlossen waren, doch um zu ihm zu gelangen, brauchte man nur zu lernen und ein Buch zu schreiben.
Die Sprache von Elena Ferrante – soweit ich das in der Übersetzung überhaupt beurteilen kann – ist schlicht und zurückhaltend, der Roman ist still und leise und doch so angefüllt mit Leben und all den kleinen Dramen, die uns ausmachen. Am Ende bleibt lediglich die Frage, wie es diesem unscheinbaren Buch gelungen ist, ein großer Welterfolg zu werden. Eine wirkliche Erklärung dafür, habe ich auch nicht, doch was mich am meisten fasziniert hat, ist wohl die Tatsache, dass Elena Ferrante in dieser Geschichte nichts verschweigt – all diese Gefühle, für die man sich vielleicht sogar ein wenig schämt, werden hier benannt. Elena und Lina sind wütend, eifersüchtig, neidisch, unsicher, ängstlich und es ist Aufgabe des Lesers sie durch dieses Universum an Gefühlen zu begleiten. Das ist schlicht und sehr menschlich, dennoch aber auch unheimlich berührend.
Mein einziger Wunsch am Ende dieser Besprechung ist, dass ich euch alle neugierig auf Meine geniale Freundin machen konnte, darauf, euch dieses Buch anzuschauen, obwohl es gerade so sehr gehyped wird. Und ich hoffe, euch vielleicht ein ganz klein wenig mit dem Ferrante Fieber infiziert zu haben!
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 422 Seiten, €22. Weitere Informationen: Homepage über Elena Ferrante.
19 Comments
rabenfrau
August 30, 2016 at 7:13 amAlso.. neugierig gemacht auf jeden Fall. Ich bin ja immer skeptisch wenn so ein Wind um bestimmte Bücher oder Autoren gemacht wird, und um Ferrante wird definitiv sehr viel Wind gemacht. Skeptisch bin ich aber immer noch, das kann ich nicht ganz ablegen. Aber deine Besprechung macht auf jeden Fall Lust auf den Roman. ^^
Liebe Grüße,
Katja
Mara
September 4, 2016 at 11:18 amLiebe Katja,
wie schön, darüber freue ich mich natürlich sehr. Wenn dich die Geschichte anspricht, dann solltest du dich nicht vom Hype abhalten lassen. Verschaffe dir einfach deinen eigenen Eindruck – mir hat es, wie gesagt, sehr gut gefallen!
Liebe Grüße
Mara
eachtach
August 30, 2016 at 7:29 amHochinteressant, ich hab es kürzlich auf Englisch gelesen, fand es auch interessant und, naja, nett, die Sprache aber platt und oft unnötig kompliziert, hat sicher an der Übersetzung gelesen. Da sieht man’s mal wieder, was das ausmachen kann1
Mara
September 4, 2016 at 11:17 amIch glaube auch, dass die Übersetzung ganz viel beeinflussen kann – sowohl positiv als auch negativ. Platt ist die Sprache für mein Empfinden nicht, aber schon eher schlicht . Man müsste die Bücher wohl tatsächlich im Original lesen können!
Silvia
August 30, 2016 at 2:12 pmIch bin jetzt neugierig auf das Buch, weil ich bisher eher schlechte Kommentare darüber gelesen habe. Ich muss mal reinlesen.
Mara
September 4, 2016 at 11:16 amUnbedingt! Berichte dann bitte mal, wie es dir gefallen hat! 🙂
fruehlingsmaerchen
August 30, 2016 at 3:46 pmAlso bei mir hast du es auf jeden Fall geschafft, meine Neugierde zu wecken. Ich hab von den Buch noch überhaupt nichts gehört bisher, möchte es jetzt aber unfassbar gerne lesen!
Mara
September 4, 2016 at 11:16 amOh, liebe Liesa, das freut mich natürlich sehr! Jetzt hoffe ich nur darauf, dass es dir auch gefallen wird. 🙂
Constanze Matthes
August 30, 2016 at 5:58 pmWenn ich sehe, in welchen Bereichen des Lebens noch größere Hypes entstehen und gepflegt werden, sehe ich das Ferrante-Fieber eher gelassen; zumal die Begeisterung für die Bücher aus anderen Ländern nach Deutschland schwappt. Gerade durch die aktuelle Diskussion werde ich angeregt, diesen Roman zu lesen. Die Frage nach der Autorenschaft finde ich persönlich sehr spannend, weil ich es interessant finde, wie ein Werk vom Verfasser und dessen Erlebnissen und Erfahrungen geprägt sein kann. Über kurz und lang wird sich vielleicht das Rätsel eines Tages lösen. Viele Grüße
Mara
September 4, 2016 at 11:15 amLiebe Constanze,
in der taz habe ich am Wochenende eine interessante Rezension zum Buch gelesen, die auch auf die Frage der Autorenschaft einging. Ansonsten kann ich dir nur zustimmen: der Hype ist im Vergleich zu anderen Bereichen des Lebens noch deutlich verhalten; ich finde es schön, dass durch die Aufmerksamkeit Menschen zum Lesen angeregt werden, die ansonsten vielleicht weniger zu Büchern greifen oder erst recht nicht zu einem solchen Buch.
Wenn du Elena Ferrante lesen solltest, wäre ich sehr gespannt darauf, wie es dir gefallen wird!
Liebe Grüße
Mara
Thomas
August 30, 2016 at 7:09 pmNach der eher verhaltenen Besprechung im Quartett ist es schön bei Dir auch mal was zum Inhalt des Buches zu erfahren. Ich werde weiterhin gespannt die Diskussionen verfolgen. Aufgrund der vielen aktuellen Bücher gehört dieses aber wohl eher in die Kategorie “Ich warte ab bis es als Taschenbuch erscheint”. Danke für den schönen Artikel.
Mara
September 4, 2016 at 11:13 amLieber Thomas,
ich finde es – um ehrlich zu sein – erstaunlich, wie sehr diese Bücher polarisieren! Ein wenig erinnert mich das an die Reaktionen auf Knausgard im vergangenen Jahr. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wenn etwas erfolgreich ist oder erfolgreich beworben wird, die Reaktionen deutlich kritischer ausfallen und die Bücher dementsprechend stärker in Frage gestellt werden. Ich bin auf jeden Fall gespannt, ob du das Buch noch lesen wirst und wie es dir gefallen wird!
Liebe Grüße
Mara
bluuu
August 31, 2016 at 7:18 amIch habe bereits alle vier Bände der Freundinnen-Serie gelesen, allerdings auf Polnisch. Habe mir auch Gedanken gemacht, wie sich der Inhalt in der Originalsprache “anfühlen” würde, aber die Übersetzung war einfach klasse, fast mit Neid-Faktor begleitet (warum kann ich nicht SO schreiben?!) 😉
Liebe Grüsse!
Mara
September 4, 2016 at 11:08 amOh, in Polen gibt es bereits alle vier Bände? Da beneide ich dich aber und freue mich gleichzeitig, dass dir die Bände auch so gut gefallen haben – es ist ja spannend, dass die Meinungen über dieses Buch dann doch ein wenig auseinander gehen.
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Bücherflocke
July 28, 2017 at 2:48 pmMich hat der Roman enttäuscht. Gut geschrieben, gut beobachtet, eine kraftvolle Stimme – ja, schon. Aber irgendwie bleibt alles in Anekdoten hängen und kommt über den Rione nicht raus, wie die unglückselige heimliche Hauptfigur auch nicht. Und die Erzählerin selbst möchte man irgendwann bloß noch schütteln, wie sie es ans Gynasium und in eine andere Welt schafft, ohne sich selbst dadurch im Geringsten zu ändern. Hmpf. Ich musste an Alina Bronskys “Scherbenpark” denken – da hatte ich auch dauernd das Gefühl, eine richtige Stimme erzählt das Falsche …
Mara
August 3, 2017 at 11:41 amHallo Bücherflocke,
es ist schade, dass bei dir der Funke nicht ganz übergesprungen ist. Deine Anmerkungen kann ich nachvollziehen. Und dennoch: versuch es unbedingt auch nochmal mit dem zweiten Band, der deutlich besser ist, als der erste!
Liebe Grüße
Mara
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