Ein Leben mehr – Jocelyne Saucier

Ein Leben mehr von Jocelyne Saucier ist gerade einmal 190 Seiten schmal und doch enthält dieses Büchlein so vieles: es geht um das selbstbestimmte Leben im Alter, um Einsamkeit, Naturverbundenheit, um Freundschaft und Liebe und darum, wie wir das Ende unseres eigenen Lebens gestalten wollen. Ein Leben mehr ist ein kluger, ruhiger und poetischer Roman, der mich tief berührt hat.

“Eine Geschichte, in der es um Menschen geht, die spurlos verschwinden, um einen Todespakt, der dem Leben sein Salz gibt, um den unwiderstehlichen Ruf der Wildnis und um die Liebe, die dem Leben seinen Sinn gibt.”

Jocelyne Saucier erzählt von drei alten Männern, die sich tief in die kanadischen Wälder zurückgezogen haben, um dort unter spartanischen Bedingungen zu leben. Sie bewohnen schlichte und einfache Hütten, mitten in der unberührten Natur. Sie leben dort glücklich zusammen, glücklich und frei, denn sie allein können darüber bestimmen, wie sie leben und wie sie sterben wollen. Die Ruhe wird jedoch jäh gestört, als eine Fotografin die Männer aufsucht. Sie recherchiert zu den großen Bränden, die 1916 in den kanadischen Wäldern gewütet und ganze Landstriche zerstört haben. Die Fotografin ist sofort fasziniert von dem naturbelassenen Leben, das die Männer in der Einöde führen. Sie hört sich ihre Erzählungen an und taucht ein in die stille und unberührte Natur.

Doch die Fotografin sollte nicht die einzige Besucherin der Männer gewesen sein. Später stößt auch noch die einundachtzigjährige Marie-Desneige dazu, die Tante eines gemeinsamen Bekannten. Für die alte Frau ist das Leben in der Wildnis sowohl Geschenk als auch Neuanfang, denn die vergangenen Jahrzehnte hat sie eingeschlossen in einer Nervenheilanstalt verbracht. Als sie sich den Männern anschließt, wird ihr ein Leben mehr geschenkt.

Wir erzählten uns unser Leben, ich erzählte von meinem Leben unterwegs, immer auf der Suche nach einem neuen Gesicht, einer neuen Begegnung, und er von seinem Leben in der Wildnis, wo er der Zeit beim Vergehen zusah und nichts anderes zu tun hatte, als zu leben. 

Jocelyne Saucier erzählt ihren Roman aus unterschiedlichen Perspektiven, zwischendurch gibt es auch immer wieder Einschübe. Es hat mich überrascht, wie stark dieser Erzählfluss mich nach ein paar Seiten gepackt und mitgerissen hat – so sehr, dass ich das Buch manchmal kaum noch aus der Hand legen konnte. Die Autorin erzählt die unterschiedlichen Lebensgeschichten ihrer Figuren mit zarten Strichen und wenig Worten, und doch so einfühlsam, dass ich das Gefühl hatte, mit ihnen in den kanadischen Wäldern zu leben.

Obwohl der Roman so schmal ist, hat er ganz unterschiedliche Facetten: es geht um den Wunsch das eigene Leben frei gestalten zu dürfen, ohne Zwänge und Verpflichtungen. Es geht darum, selbst darüber zu bestimmen, wann dieses Leben zu Ende sein soll. Es geht um Einsiedelei und eine ganz ursprüngliche Verbindung mit der Natur. Jocelyne Saucier erzählt von einer tief verbundenen Freundschaft zwischen Männern, die sich verändert, als die beiden Frauen hinzustoßen.

Ich liebe Geschichten, ich liebe es, wenn man mir ein Leben von Anfang an erzählt, mit allen Umwegen und Schicksalsschlägen, die dazu geführt haben, dass ein Mensch sechzig oder achtzig Jahre später vor mir steht, mit einem ganz bestimmten Blick, ganz bestimmten Händen und einer ganz bestimmten Art zu sagen, dass das Leben gut oder schlecht gewesen ist. 

Die zentralen Themen der Menschheit – das Leben, die Liebe und der Tod – sind auch die zentralen Themen des Buches und der Autorin gelingt es, frei von Kitsch und Sentimentalität zu erzählen und mich zu berühren. Für mich ist ein Ein Leben mehr vieles in einem, doch vor allem eine wunderschöne und berührende Liebesgeschichte. Es ist Marie-Desnaige, die sich in einen der Männer verliebt. Einer einundachtzigjährigen Frau und einem zweiundneuzigjährigen Männer wird somit noch einmal eine neue Liebe und ein Leben mehr geschenkt. Die Gefühle zwischen den beiden beschreibt Jocelyne Saucier mit großer Zartheit und Sensibilität. Es ist dieser Teil der Geschichte, der mich wohl am stärksten berührt hat: zwei Menschen, die mit dem Ende ihres Lebens bereits abgeschlossen haben, trauen sich noch einmal, ihren eigenen Gefühlen Raum zu geben.

Ich habe das Gefühl, mit Ein Leben mehr einen schmalen aber großen und großartigen Roman gelesen zu haben, der mich tief berührt zurückgelassen hat.

Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 191 Seiten, €19,99. Weitere Rezensionen auf: Kapriziös, Papiergeflüster, Literaturen.

7 Comments

  • Reply
    Bri
    February 6, 2017 at 2:02 pm

    Ein großartiges Buch – eben weil es so schmal dieser Roman auch ist, so vieles in so wunderbarer Weise einfängt. Spielerisch leicht, wie die hellen Tupfen auf den Gemälden, die Boychuck malt … ein wunderbares Buch, das ich gerne verschenke.

    • Reply
      Mara
      February 13, 2017 at 12:57 pm

      Liebe Brigitte,

      ja, ich glaube auch, dass ich das Buch noch das eine oder andere mal verschenken werde – dafür eignet es sich wirklich prima. Ab März gibt es den Roman dann ja auch als Taschenbuch.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        Bri
        February 13, 2017 at 3:13 pm

        Wobei so ein kleines feines Hardcover sich schon sehr zum verschenken eignet 😉 LG, Bri

  • Reply
    Gaby
    February 6, 2017 at 2:26 pm

    Ein ganz wunderbares Buch… wenn dir das gefallen hat, würde dir bestimmt auch von Robert Seethaler ‘Ein ganzes Leben’ gefallen. 😉

    • Reply
      Mara
      February 13, 2017 at 12:56 pm

      Vielen Dank für den Hinweis – ich kenne ja noch gar nichts von Robert Seethaler und habe mir den Tipp gleich mal notiert! 🙂

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (6) | Buzzaldrins Bücher
    March 17, 2017 at 12:23 pm

    […] Saucier – Ein Leben mehr […]

  • Reply
    Ein lebensmüdes Lächeln macht frei | brasch & buch
    April 3, 2017 at 5:35 pm

    […] zeigen die einstimmig begeisterten Besprechung auf vielen Blogs, wie Literaturen, Kaffeehaussitzer, buzzaldrins, Papiergeflüster, Kapri-zioes, masuko13,  Zeichen & Zeiten und auch im Feuilleton der […]

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