Damals – Siri Hustvedt

Die Romane und Essays von Siri Hustvedt lese ich bereits seit Jahren – und zwar immer wieder mit großem Vergnügen und viel Erkenntnisgewinn. So erging es mir auch bei ihrem neuesten Buch – Damals ist ein kluger, vielschichtiger und großartig erzählter Roman, den ich sehr gerne gelesen habe und unbedingt weiter empfehlen möchte.

Die Vergangenheit ist fragil, fragil wie Knochen, die mit dem Alter brüchig geworden sind, fragil wie an Fenstern gesehene Geister oder wie Träume, die beim Aufwachen zerfallen und nichts hinterlassen als ein Gefühl des Unbehagens oder der Bedrängnis oder, seltener, eine Art unheimliche Befriedigung.

Im Mittelpunkt von Siri Hustvedts neuem Roman steht die Figur S.H., die 1978 mit dreiundzwanzig Jahren von Minnesota (daher auch ihr Spitzname Minnesota) nach New York zieht. Ihre finanziellen Mittel sind gering. Ihr Plan ist es, sich ein Jahr lang nur auf das Schreiben, Lesen und Lernen zu konzentrieren – sie ist neugierig, wissbegierig, lernwillig, ehrgeizig. Ihre Tage verbringt sie damit zu lesen und in ihr Notizbuch zu schreiben, fast schon wie im Rausch – sie saugt alles auf, was ihr in die Hände kommt. Sie lebt in einfachen Verhältnissen in einer dubiosen Nachbarschaft – Tür an Tür mit anderen Künstler*innen, Schriftsteller*innen und der einen oder anderen seltsamen Gestalt.

Eine dieser Gestalten ist Lucy Brite, die direkt nebenan wohnt. S.H. verbringt in einer Mischung aus Angst und Faszination viele Stunden damit, an der dünnen Wand den skurrilen Monologen und dem Gesang ihrer Nachbarin zu lauschen. Lucy singt von verstörenden Dingen: vom Tod, von einem verstorbenen Kind, von Gewalt und Mord – doch was davon entspringt der Phantasie und was ist Wirklichkeit?

Dieses Buch ist ein Porträt der Künstlerin als junge Frau, der Künstlerin, die nach New York kam, um zu leben, zu leiden und ihren Kriminalroman zu schreiben. Wie der Meisterdetektiv, der ihre Initialen teilt, S.H., sieht, hört und riecht die Schriftstellerin die Hinweise. Die Zeichen sind überall – in Gesichtern, am Himmel, in Büchern. 

Das Besondere an Damals ist, dass der Roman auf vier Ebenen spielt. Die erste Ebene ist die Gegenwart: in den Jahren 2016 und 2017 wird dieses Buch von Siri Hustvedt geschrieben, die auf die Vergangenheit zurückblickt. Sie versucht sich zu erinnern und das Knäuel aus Phantasie und Wirklichkeit zu entwirren: was ist damals wirklich passiert, und was ist lediglich eine Legende der Vergangenheit. Die zweite Ebene ist die Vergangenheit: ein großer Teil spielt in New York, in den Jahren 1978 und 1979. Die dritte Ebene ist das Notizbuch, in dem S.H. Gedankenfragmente und Alltagsbeobachtungen notiert. Und die vierte Ebene ist der Roman, an dem sie schreibt. All diese Ebene laufen ineinander, nehmen aufeinander Bezug, ergänzen sich oder widersprechen sich auch stellenweise.

Die Frage, wie autobiographisch dieser Roman ist, ist sicherlich eine zwangsläufige Frage – aber ich glaube, die Antwort darauf, ist nicht wirklich wichtig. Siri Hustvedt und ihre Figur S.H. sind beide leidenschaftliche Leserinnnen und begeisterte Schriftstellerinnen. S.H. zieht nach Morningside Hights und saugt das Leben in New York förmlich auf. Sie interessiert sich für Djuna Barnes, Marcel Duchamp, Berenice Abbot, Edna St. Vincent Millay.

Ich werde mich weit über dich hinauslesen, Vater. Ich werde lesen, lesen und noch mal lesen, alle Bücher in deinem Arbeitszimmer, alle in der Schulbücherei, alle Bücher in den Bibliotheken der ganzen Welt, und ich werde so groß werden, dass ich eine Riesin auf Erden bin. 

Das große Vorbild der beiden Frauen ist die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, die mit Vogelkäfigen auf dem Kopf und Scheinwerfern auf den Hüften posierte und wilde und schmerzhafte Gedichte schrieb. Eine Dada-Poetin. Eine Künstlerin als Urpunk. Damals ist auch als eine Art Denkmal für die Baroness zu lesen und zu verstehen, die heutzutage kaum noch jemand kennt, weil sie zu schrill für die damalige Kunstwelt war. Sie wurde herabgesetzt, ignoriert, lächerlich gemacht – und nebenbei aus der Literatur- und Kunstgeschichte herausgeschrieben. Jetzt hat Siri Hustvedt sie durch ihren Roman wieder hineingeschrieben und schon allein aus diesem Grund sollte Damals gelesen, besprochen und empfohlen werden.

Durch die vielen Ebenen, die Doppelbödigkeit und Schnörkel, ist der Roman auf den ersten Seiten nicht immer zugänglich. Siri Hustvedt hat keinen Schmöker geschrieben, den man nebenbei weglesen kann. Aber ich kann nur sagen: es lohnt sich dran zu bleiben, denn dieses Buch bietet so viel! Damals ist eine großartige Geschichte über Lust und Leidenschaft, über das Bücher lesen und schreiben, über Neugier und die Frage, wie man lernt, sich in seinem Leben zurechtzufinden. Es ist außerdem eine berührende Erzählung über Gegenwart und Vergangenheit und die Frage, wie man Erinnerungen erhalten und konservieren kann – und von welchen Erinnerungen man sich lieber trennen sollte, um weiterleben zu können.

Merken Sie sich: Die Welt liebt starke Männer und hasst starke Frauen.

Ich habe außerdem selten zuvor ein Buch gelesen, das so viel Lust darauf macht, andere Bücher zu entdecken. Ich kannte  Elsa von Freytag-Loringhoven vorher nicht, jetzt ist sie mir ans Herz gewachsen. Siri Hustvedt hat einen starken, kämpferischen, feministischen Roman geschrieben: Ich wünsche Damals viele Leser*innen, die Lust haben, sich auf dieses Buch einzulassen – ihr werdet es nicht bereuen!

Siri Hustvedt: Damals. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Oswald. Rowohlt, Hamburg 2019. 439 Seiten, 24€. 

10 Comments

  • Reply
    elizzy91
    May 19, 2019 at 11:51 am

    Das hört sich überaus interessant an! Danke für diese schöne Rezension!

    • Reply
      Linus
      May 19, 2019 at 11:55 am

      Gerne! Ich freue mich, dass ich dein Interesse wecken konnte!

  • Reply
    Iris
    May 20, 2019 at 7:12 am

    Danke für die gute Rezension, ich liebe Siri Hustvedt auch schon seit Jahren und bin gespannt auf ihren neuen Roman. Könntest du bei Übersetzungen vielleicht immer noch den Originaltitel angeben, damit man es auch im Original besser findet? Nochmals danke und liebe Grüße!

    • Reply
      Linus
      June 8, 2019 at 8:35 am

      Hallo Iris,

      vielen Dank für den Hinweis, darauf war ich einfach echt noch gar nicht gekommen – werde ich aber in Zukunft auf jeden Fall daran denken. Danke!

      Liebe Grüße
      Linus

  • Reply
    marinabuettner
    May 20, 2019 at 2:35 pm

    Ich empfand es ganz ähnlich. Ihr ist wirklich ein ungewöhnlicher Roman gelungen!
    Viele Grüße!

    • Reply
      Linus
      June 8, 2019 at 8:36 am

      Das finde ich auch! Freut mich, dass es dir ebenfalls gut gefallen hat!

  • Reply
    Gabriele Mittag
    May 21, 2019 at 6:14 am

    Danke für die Rezension. Ich liebe die Bücher der Autorin auch schon seit Jahren und ohne deine Buchbesprechung hätte ich vielleicht gar nicht mitbekommen, dass es ein neues Buch von ihr gibt. Ihre Bücher sind ja selten „leichte Kost“,aber immer eine Bereicherung.
    Gabriele

    • Reply
      Linus
      June 8, 2019 at 8:37 am

      “Leichte Kost” ist es dieses mal tatsächlich wirklich nicht, aber ich finde, die Bücher machen immer ganz viel mit einem und so ist es doch wert, Zeit und ein bisschen Mühe zu investieren. Falls du das Buch lesen solltest, wünsche ich dir schon jetzt viel Vergnügen!

  • Reply
    Monika Brandenstein
    June 7, 2019 at 10:05 am

    Bin zufällig auf deine Seite gekommen und freue mich, dass ich hier jetzt stöbern kann.
    ‘Damals’ von Siri Hustvedt ist mir noch ganz frisch erinnerlich, weil gerade vor ein paar Wochen gelesen. Deine Rezenzion setzt dieses spannende Leseerlebnis ins richtige Licht. Danke sowohl dafür als auch für das Foto von Elsa von Freytag-Loringhoven. Ich konnte sie mir – nach den Beschreibungen im Buch – bereits sehr gut vorstellen. Aber es ist herrlich, sie leibhaftig auf diesem “(positiv) verrückten” Bild zu sehen.
    Liebe Grüße – Monika

    • Reply
      Linus
      June 8, 2019 at 8:40 am

      Liebe Monika,

      ich freue mich darüber, dass du mich und meinen Blog entdeckt hast und wünsche dir ganz viel Freude beim Stöbern. Bei “Damals” hat mir besonders gut gefallen, dass das Buch so viele Spuren und Fährten auslegt, die einen zum Entdecken einladen – so wie mit Elsa von Freytag.Loiringhoven, die ich vorher noch nicht kannte und erst durch das Buch entdecken durfte!

      Liebe Grüße
      Linus

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