Ocean Vuong hat ein Buch geschrieben, das mich so sehr beeindruckt hat, dass ich es gerne sofort noch einmal lesen würde. Auf Erden sind wir kurz grandios erzählt klug, poetisch und in wunderschönen Worten von einer schwulen Liebesgeschichte, der Suche nach der eigenen Identität und der Frage, wie viel Herkunft wir ein Leben lang in uns tragen.
Man sagt, nichts hält ewig, dabei hat man nur Angst, dass es länger hält, als man es lieben kann.
Auf Erden sind wir kurz Grandios ist der Brief eines Sohnes an seine vietnamesische Mutter, die ihn nicht lesen wird. Sie kam in Vietnam als Tochter eines vietnamesischen Bauernmädchens und eines amerikanischen Soldaten zur Welt. Sie ist Analphabetin und spricht nur gebrochen Englisch. Ihr Geld verdient sie in einem Nagelstudio in Connecticut.
Der Sohn wird im Buch nur Little Dog genannt – diesen Spitznamen hat ihm seine Mutter gegeben. Er schreibt ihr einen Brief, von dem er weiß, dass sie ihn niemals lesen kann. Vielleicht ist das die Befreiung, die er braucht, um von all den Dingen erzählen zu können, von denen wir auf den knapp 235 Seiten erfahren.
Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden – ich wollte freikommen. Weil Freiheit, so heißt es, nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute ist.
Ocean Vuong lässt Little Dog in rauen, schonungslosen und wunderschönen Sätzen seine Geschichte erzählen. Er wächst als Außenseiter auf, in der Schule sagen ihm die Kinder sprich Englisch – er wird gemobbt, beschimpft, manchmal auch verprügelt. Geprügelt wird er auch von seiner Mutter, die immer wieder die Kontrolle über sich verliert. Seine Großmutter leidet an Schizophrenie. Manchmal muss die Polizei gerufen. Ocean Vuong schildert explosive Schlaglichter, kleine Sequenzen, in denen die Welt aus den Fugen gerät. Von dem Vorher und Nachher erfahren wir oft nichts – dieses Buch wird in kleinen und nicht immer zusammenhängenden Episoden erzählt.
Als er vierzehn Jahre alt ist ist fängt Little Dog als Ferienarbeiter auf einer Farm an. Er verliebt sich dort in Trevor, den Sohn des Besitzers. Für beide ist Liebe etwas Neues, noch Unbekanntes. Sie nähern sich an, finden zueinander, haben zum ersten Mal Sex miteinander. Ich habe selten zuvor ein Buch gelesen, in dem schwuler Sex so frei von Peinlichkeit oder Fremdscham erzählt wird.
Bitte sag mir, ich bin nicht, sagte er durch das Geräusch seiner Knöchel, als er sie ploppen lässt wie das Wort Doch doch doch. Und du trittst einen Schritt zurück. Bitte sag mir, ich bin nicht, sagte er, ich bin nicht schwul. Bin ich? Bist du’s? Trevor der Jäger, Trevor der Fleischfresser, der Redneck, keine Schwuchtel, Schrotflintenschütze, Scharfschütze, keine Tunte oder Tucke.
Als Trevor im Wald mit dem Fuß umgeknickt, bekommt er Schmerzmittel verschrieben – er bleibt für den Rest seines kurzen Lebens abhängig. Es ist ein trostloses Leben, von dem Ocean Vuong erzählt – die klitzekleinen schönen Momente werden überschattet von Einsamkeit, Gewalt und kaum auszuhaltenden Ängsten. Was macht dieses Buch dennoch lesenswert? Für mich ist es die Erkenntnis, dass der Erzähler es trotz allem geschafft hat, aus diesem trostlosen Leben herauszufinden, um nun davon erzählen zu können.
Obwohl auf dem Cover das Wort Roman steht, stelle ich mir nach dem Lesen natürlich die Frage, wie viel von der eigenen Geschichte von Ocean Vuong da drin steckt. An einer Stelle schreibt er: Ma, du hast mir einmal gesagt, dass Erinnerung eine Entscheidung ist. Aber wenn du Gott wärst, wüsstest du, es ist eine Flut. So ist auch ein bisschen dieses Buch: es ist eine Flut an Erinnerungen, die über uns hinwegspült. Ich musste mich erst einmal darin zurechtfinden: die Erinnerungen sind so fein, so klug, so poetisch – aber es erfordert ein wenig Zeit und Geduld, um sich auf die Gedankenwelt von Little Dog einzulassen.
Es gibt so vieles, was ich dir sagen will, Ma. Ich war einmal naiv genug zu glauben, dass Wissen Klarheit schafft, doch manche Dinge sind so umflort von Zeichen und Bedeutungen, von Tagen und Stunden, Namen, die man vergesse, erhalten und abgelegt hat, dass die Wunde, nur weil man weiß, dass sie existiert, dadurch noch lange nicht freigelegt wird.
Auf Erden sind wir kurz grandios ist kein einfach Buch, keine leichte Lektüre – aber ich habe mich sehr verliebt. Dieses Buch hat so viel: da ist die sensible Darstellung der schwierigen Beziehung zwischen Mutter und Sohn, da ist diese ungewöhnliche schwule Liebesgeschichte, da ist diese Frage nach Identität und Herkunft. Ich habe es schon so oft gesagt: Wir haben so wenig Repräsentation an schwulen Figuren und Charakteren, überhaupt an Menschen, die nicht unserem heteronormativen Weltbild entsprechen – umso wichtiger sind Geschichten wie diese. Ocean Vuong hat ein zartes, kluges und grandioses Buch geschrieben. Eine große Empfehlung!
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser Literaturverlage, Juli 2019. 22€, 234 Seiten.
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