Auf dem Buchumschlag von Der unsichtbare Freund steht zwar das Wort Roman, aber im Grunde ist diese Geschichte ein klassischer Thriller. Ein Thriller, der so gut gemacht ist, dass ich Stunde um Stunde auf dem Sofa saß, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu lesen. Dieses Buch hat vieles von dem was ein gutes Buch ausmacht: es ist nicht nur gut geschrieben, sondern verfügt darüber hinaus über tolle Charaktere, die den großen Kampf zwischen Gut und Böse auskämpfen. Ganz nebenbei ist es auch noch spannend und ziemlich gruselig – also wahrlich fesselnde Lektüre!
“Es gab einen Zeitpunkt, an dem die Kindheit zu Ende ging.”
Stephen Chbosky schrieb vor vielen Jahren mein absolutes Lieblingsbuch – vielleicht lieber morgen. Ich habe es als Jugendlicher durch Zufall entdeckt und dann immer wieder gelesen, immer und immer wieder. Es ist immer noch auf Deutsch erhältlich und mittlerweile sogar verfilmt worden. Im Original ist es 1999 erschienen, doch seitdem hat Stephen Chbosky nie wieder etwas veröffentlicht. Bis jetzt! Denn nun liegt endlich sein zweites Buch vor.
Ihr kennt das vielleicht: Es ist ein bisschen schwierig nicht zu viele Erwartungen zu haben, wenn man ein Buch heiß und innig geliebt hat und fast zwanzig Jahre lang auf das zweite Buch warten musste. Der unsichtbare Freund ist kein zweites vielleicht lieber morgen. Es ist sogar ziemlich anders geworden, aber trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – nicht unbedingt schlechter.
“Es gab einen Zeitpunkt, an dem die Kindheit zu Ende ging. Und sie wünschte sich, dass dieser Zeitpunkt für ihn noch weit in der Zukunft lag. Ihr Sohn sollte sich dank seiner Intelligenz aus diesem Albtraum herausarbeiten können und doch trotz seiner Intelligenz den Albtraum nicht als solchen erkennen, solange er darin gefangen war.”
Es geht um Christopher, der zusammen mit seiner Mutter in das kleine Städtchen Mill Grove zieht. Die Stadt ist umgeben von einem dichten und geheimnisvollen Wald, der sogenannte Missionswald übt eine schwer erklärbare Anziehung auf Christopher aus. Der kleine Junge beginnt plötzlich damit, Stimmen zu hören. Es ist eine Wolke, die immer wieder auftaucht, mit ihm spricht und ihn dabei Stück für Stück versucht in die Nähe des Waldes zu locken. Die Wolke hat irgendwann Erfolg: Christopher betritt den Wald und wird für sechs Tage von ihm verschluckt. Er ist spurlos verschwunden und als er wieder auftaucht, ist alles anders. Christopher hat keine Erinnerung mehr an die Tage im Wald, dafür verfügt er plötzlich über ungeahnte Fähigkeiten: er, der immer schlechte Noten nach Hause gebracht hat, liefert plötzlich fehlerlose Klassenarbeiten ab und liest ein Buch nach dem anderen.
Und dann ist da noch dieses mysteriöse Baumhaus. Christopher ist wie besessen von der Idee, im Missionswald ein Baumhaus zu bauen. Und irgendwoher weiß er, dass die Welt untergehen wird, wenn ihm das nicht rechtzeitig gelingt.
“Christopher kehrte in sein Zimmer zurück und wartete auf den Morgen. Eigentlich hätte er sich gern mit einem Buch die Zeit vertrieben, aber inzwischen kannte er sie schon alle auswendig. Er hatte sie im Kopf, wie Lernkarten. Seite um Seite wie Generationen von der Geburt bis zum Tod. Vom Anfang bis zum Ende. Vom Baum bis zum Papier.”
Das klingt vielleicht alles ein bisschen seltsam – doch was Stephen Chbosky daraus macht, ist ein fesselnder Kampf zwischen Gut und Böse. Es ist ein Kampf zwischen dem Fortbestehen unserer Welt und ihrem drohenden Untergang. Christopher ist die Speerspitze dieses Kampfes, an seiner Seite kämpfen seine Freunde, seine Mutter, der Sheriff und Ambrose – ein alter und fast blinder Mann, der im Seniorenheim von Mill Grove liegt.
Die Charaktere sind großartig gezeichnet, viele von ihnen sind mir im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen. Genauso großartig ist der Erzählstil. Es ging mir schon lange nicht mehr so, dass ich bei einem Buch am liebsten gar nicht mehr aufhören wollte zu lesen. Es ging mir auch schon lange nicht mehr so, dass ich mich bei einem Buch so sehr gegruselt habe, dass ich Nachts Angst davor hatte, auf die Toilette zu gehen. Der unsichtbare Freund vereint alle Elemente guter Horror- und Thrillerromane. Ich habe das Buch immer wieder zugeklappt, um mich zu versichern, dass vorne drauf wirklich Stephen Chbosky steht – und nicht Stephen King.
“Bleib auf der Straße. Wenn du auf der Straße bleibst, kriegen sie dich nicht.”
Zwischen all den Horrorelemten steckt in Der unsichtbare Freund aber auch immer noch etwas von dem alten Stephen Chbosky. Fast alle Kinder, die in diesem Buch eine Rolle spielen, tragen irgendeine Form der Last. Allen voran Christopher, dessen Vater sich in der Badewanne das Leben nahm – vor dem Stiefvater flüchteten er und seine Mutter nach Mill Grove. Auch viele der Erwachsenen tragen ein Päckchen aus der Kindheit mit sich – weil man ihnen Schlimmes antat, ihnen etwas wegnahm oder sie einfach nicht genügend lieben konnte. Viele dieser kleinen Geschichten haben mich berührt und werden mich noch lange begleiten.
Okay. Ich geb’s zu, ich kann hier einfach nicht ganz objektiv sein. Und trotzdem: ich liebe Der unsichtbare Freund wirklich sehr und ich wünsche Christopher und all den anderen wunderbaren Figuren ganz viele Leser*innen, die genauso viele spannende, berührende und gruselige Stunden mit diesem Buch verbringen werden wie ich.
Stephen Chbosky: Der unsichtbare Freund. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader. Heyne Verlag, 2019. 920 Seiten, €24.
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