Die Optimisten – Rebecca Makkai

Was für ein Buch! Was für ein Leseerlebnis! Rebecca Makkai hat für mich das Buchhighlight dieses doch sehr seltsamen Frühjahrs geschrieben – Die Optimisten ist eine packende und bewegende Geschichte, die sich über dreißig Jahre erstreckt: von 1985 bis 2015, von Chicago bis nach Paris.

“Ich kenne Männer, die noch niemanden verloren haben. Gruppen, die bisher unberührt geblieben sind. Aber ich kenne auch Leute, die haben zwanzig Freunde verloren. Ganze Mietshäuser, ausgelöscht.”

Als wir Yale Tishman zu Beginn des Buches kennen lernen, ist er gerade am Höhepunkt seiner kurzen Karriere angelangt. Als Mitarbeiter in einer Kunstgalerie in Chicago ist ihm ein Coup gelungen: von einer älteren Dame bekommen sie bisher unentdeckte Gemälde gespendet, die etwa 1920 entstanden sind. Auch privat läuft es gut: Mit seinem Partner Charlie lebt er schon ein paar Jahre zusammen. Kurz vor der Entdeckung der Gemälde, schaute er sich ein Haus an – und träumte davon, dort gemeinsam mit Charlie einzuziehen.

Doch trotz dieses Erfolgs und den gemeinsamen Zukunftsplänen, lastet schon damals ein dunkler Schatten auf Yales Leben. Um ihn herum ist eine Epidemie ausgebrochen – ferne Bekannte aber auch enge Freunde erkranken daran, die allermeisten von ihnen sterben. Bei der Epidemie handelt es sich um AIDS. 1981 berichteten Ärzt*innen in den USA zum ersten Mal über das Auftreten einer neuen Krankheit bei vormals gesunden, jungen Menschen – oftmals Männern. Kurze Zeit später wird das Land von der Erkrankung überrollt. Die ersten Jahre dieser Epidemie waren von Scham, Vorurteilen und Hass geprägt – und von einem fast immer sicheren Todesurteil.

Charlie hatte Recht gehabt, als er sagte, was ihnen helfen würde, wäre der Tod eines Promis. Und tata, schon starb Rock Hudson, der nicht mal auf dem Totenbett den Mut gehabt hatte, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, und endlich, vier Jahre nach Beginn der Krise, schimmerte da draußen etwas auf. Aber nicht genug. Charlie hatte einmal geschworen, den Republikanern fünf Dollar zu spenden, wenn Reagan sich je trauen sollte, eine Rede über AIDS zu halten. (“Und in der Memozeile schreibe ich dann, Ich habe den Umschlag mit meiner großen schwulen Zunge angeleckt”, sagte er.)

Nachdem auch Nico, ein enger Freund von Yale und Charlie, in kürzester Zeit verstorben ist, nimmt der Virus ein immer bedrohlicher werdenden Raum in Yales Leben ein, das Stück für Stück zerbröselt. Er kommt näher und näher und nimmt Yale all die Menschen, die er liebt und die ihm nahe sind. An seiner Seite bleibt in dieser schweren Zeit irgendwann nur noch Fiona, die Schwester von Nico. Sie musste nicht nur ihren Bruder beim Sterben begleiten, sondern auch dessen Partner, der kurze Zeit später ebenfalls starb – und viele andere Freund, um die sie sich fast schon mütterlich sorgte und kümmerte. Doch diese Jahre voller Krankheit und Tod haben auch Spuren in ihrem Leben hinterlassen, in ihr.

Wir treffen sie 2015 in Paris wieder, dort sucht sie nach ihrer Tochter Claire, die ihr Elternhaus verließ, um sich einer Sekte anzuschließen. In Paris übernachtet sie bei einem alten Freund – Richard Campo ist ein bekannter Fotograf, der in den achtziger Jahren die AIDS-Krise mit seiner Fotokamera begleitete. Die Reise nach Paris wird für Fiona zu einer Reise in die eigene Vergangenheit: Wird sie ihre Tochter wiederfinden können? Wird ihr ihre Tochter verzeihen können? Wird Fiona sich irgendwann selbst verzeihen können?

“Wenn ich über den Tod nachdenke, fange ich an, alles in Zweifel zu ziehen.”

Ich kann es nicht anders sagen: Die Optimisten hat mich förmlich umgehauen. Beim Lesen ist mir erst klar geworden, wie wenig ich über die 80er Jahre wusste. Wie wenig ich darüber wusste, was damals eigentlich passierte. Das Lesen ist manchmal nur schwer auszuhalten, weil so viele Menschen so schwer erkranken und so qualvoll sterben. Viele von ihnen sterben entfremdet von ihren eigenen Familien, die sie vor lauter Scham verstoßen haben. Viele von ihnen sterben alleine in Krankenhauszimmern, in denen sie von Schwestern gepflegt werden, die Angst davor haben, sie zu berühren. Es ist manchmal so unerträglich, dass es mir beim Lesen oft die Luft abgeschnürt hat.

Am Anfang habe ich nicht ganz verstanden, warum der Erzählstrang rund um die Gemälde, die Nora – die alte und schwer erkrankte Großmutter von Nico – der Kunstgalerie spenden möchte, so wichtig ist und im Buch so viel Platz einnimmt. Ich glaube, jetzt kann ich das besser verstehen: Nora hat die Gemälde aus einer längst vergangenen Zeit jahrelang aufgehoben, um sie irgendwann einer späteren Generation zugänglich zu machen. Nora lebte zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg in Paris, viele ihrer Freunde und Bekannte verlor sie in den beiden Kriegen. Was geschieht mit unseren Erinnerungen, wenn eine ganz Generation verschwindet? Nora war es wichtig, die Gemälde zu spenden, um die Erinnerung an etwas aufrechtzuerhalten, das sonst ausgelöscht wäre.

“Jeder weiß, wie kurz das Leben ist. Fiona und ich wissen das ganz genau. Aber niemand spricht je davon, wie lang es ist. Dabei – also, ich weiß nicht, ob das Sinn ergibt, aber jedes Leben ist zu kurz, selbst ein langes, und trotzdem ist das Leben mancher Menschen auch zu lang.”

Fiona ist eine der wenigen Menschen aus ihrem Umfeld, die es geschafft hat die 80er Jahre zu überleben – wer von den Freunden ihres Bruders hat es ebenfalls geschafft zu überleben? Wer ist noch da? Wer kann die gemeinsamen Erinnerungen bewahren und an die nächste Generation weitergeben? Was mir beim Lesen auch bewusst geworden ist, wie viel Aktivismus und Protest es damals gab: Yale und seine Freunde müssen darum kämpfen, dass ihr Leiden gesehen wird. Sie müssen darum kämpfen, dass ihnen geholfen wird. Sie müssen darum kämpfen, dass ihre Stimmen gehört werden. Oftmals vergeblich.

Auf den letzten Seiten war ich so bewegt, dass meine Augen feucht wurden – irgendwann konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich liebe das Buch sehr, es ist mein Highlight in diesem Frühjahr und ich wünsche Rebecca Makkai ganz viele Leser*innen, die sich ebenfalls trauen, sich auf diese emotionale Geschichte einzulassen.

Rebecca Makkai: Die Optimisten. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell. Eisele Verlag, März 2020. Wer weitere Bücher zum Thema HIV und AIDS sucht, der kann ich hier fündig werden.

2 Comments

  • Reply
    Norbert Häseler
    April 15, 2020 at 12:44 pm

    Hervorragend geschrieben. Ich habe das Buch ebenfalls gelesen und selten hat mich ein Buch so bewegt!

  • Reply
    Nadine
    June 11, 2020 at 9:12 am

    Ich glaube, ich muss es jetzt endlich mal lesen. Ständig springt es mich an und ich höre nur positive Meinungen.

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