Wow. Was für ein Buch ist das denn? Ich muss gestehen, dass ich schon lange kein Buch mehr gelesen habe, das mich so intensiv begleitet und mitgenommen hat. Je tiefer das Wasser ist hart, rau, schockierend – und hat mich tief berührt. Eine ganz und gar ungewöhnliche Familiengeschichte!
“Man kann nichts falsch machen, wenn man das Richtige tut.”
Je tiefer das Wasser, desto hässlicher der Fisch – so lautet der Originaltitel dieses ungewöhnlichen Buches. Katya Apekina erzählt die Geschichte einer Familie, die in ihre Einzelteile zersplittert ist: Edith (16 Jahre alt) und Mae (13 Jahre alt) sind zwei Schwestern, die plötzlich auf sich allein gestellt sind, als ihre Mutter Marianne versucht, sich das Leben zu nehmen – sie werden gegen ihren Willen nach New York zu ihrem Vater Dennis Lomack gebracht. Dennis ist ein berühmter Schriftsteller, der seine Familie bereits vor Jahren verlassen hatte.
Die Geschichte wird aus der Perspektive mehrerer Menschen erzählt (es sind fast 20 Erzähler*innenstimmen), aber im Zentrum stehen die beiden Schwestern – Edith und Mae sind traumatisiert von einer Vergangenheit, in der sie wenig Stabilität und Sicherheit erlebt haben. Beide Eltern haben mit psychischen Problemen zu kämpfen: Marianne war erst neun Jahre alt, als sie Dennis kennenlernte, der damals schon ein erwachsener Mann war – er wartete bis sie 18 war, bevor er mit ihr zusammenkam. Marianne war seine Muse, sie musste eine bestimmte Rolle für ihn spielen, um ihn zum Schreiben zu inspirieren. Irgendwann hatte er sie emotional leer gesaugt – wie ein Vampir. Danach verschwand er nach New York, seine Familie blieb zurück.
Dennis Aufgabe war es seine Kinder zu beschützen! Kindheit ist kostbar, es gibt keine zweiten Versuche. Denny hatte die Kindheit seiner Töchter verpasst, und damit hatte auch ich sie verpasst. Das konnte ich nie zurückbekommen. Ebenso wenig wie die Chance auf eigene Kinder.
Edith und Mae haben beide mit der neuen Situation zu kämpfen, doch gehen beide ganz unterschiedlich damit um: während Edith alles daran setzt, wieder zurück zu ihrer Mutter nach Louisiana zu kommen, lässt sich Mae immer mehr in die Welt ihres Vaters verstricken und wird für ihn zu der Muse, die ihre Mutter früher gewesen ist.
Das Buch beginnt mit dem Suizidversuch der Mutter, aber Katya Apekina erschafft auf den folgenden Seiten ein ganzes Panorama unterschiedlicher Stimmen: es erzählen nicht nur Edith und Mae, sondern auch Dennis, Marianne, ihre beste Freundin Doreen oder Rose, die Tante der beiden Schwestern. Es gibt zahlreiche Rückblenden und es werden zwischendurch auch Briefe, Zeitungsartikel oder Ausschnitte aus der Patientenakte von Marianne eingefügt. All das sind kleine Puzzlesteinchen und es ist die Aufgabe der Leser*innen all diese Puzzlestücke zusammenzusetzen. Nebenbei bemerkt: die Briefe enden fast alle mit der Floskel Nicht aufhören anzufangen und ich finde das ein sehr schönes Motto für fast alles im Leben.
physiker sagen, dass manche partikel nur existieren, wenn man sie beobachtet, ein elektron, das nicht von einem orbit zum nächsten hüpft wie ein floh oder das nicht von einem physiker angestupst wird, hört auf zu sein. ich glaube, genau das ist mit mir passiert. ich habe aufgehört zu sein.
Je tiefer das Wasser führt die Leser*innen in eine unglaublich dunkle und düstere Welt – und wir können nur hilflos dabei zuschauen, wie die beiden Mädchen immer tiefer in einen Strudel hineingezogen werden: Edith auf der Suche nach ihrer Mutter und Mae bei dem Versuch ihrem Vater zu gefallen und ihm nahe zu kommen. Ich hatte selbst beim Lesen das Gefühl buchstäblich mit hineingezogen zu werden in diesen Horror, der alles zu verschlucken droht. Was mir gefallen hat: Katya Apekina überlässt dabei vieles der Phantasie ihrer Leser*innen, vieles von dem was passiert wird nur angedeutet oder vage angeschnitten, viele Puzzlestückchen müssen wir selbst zusammensetzen, um das Bild zu vervollständigen.
Ich wünsche Katya Apekina ganz viel Aufmerksamkeit für diesen großartig geschriebenen Debütroman, der mich nicht nur mitgerissen sondern auch tief bewegt hat. Ich habe beim Lesen überlegt, mit welchem Buch ich Je tiefer das Wasser wohl vergleichen würde und mir fielen sofort Und es schmilzt von Lize Spit und Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld ein. Alle drei Romane sind irgendwie voller Düsterheit und gleichzeitig von erschreckender Schönheit.
Katya Apekina: Je tiefer das Wasser. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Suhrkamp, 2020. 392 Seite, €24.
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