Was für eine inspirierende Lektüre! In ihrem neuen Essay Unziemliches Verhalten erzählt Rebecca Solnit auf beeindruckende Art und Weise davon, wie sie zu ihrer eigenen Stimme gefunden hat – und davon, wie sie eine Feministin wurde. Entstanden ist dabei nicht nur ein persönlicher Text, sondern ein Text, der unsere gesamte Gesellschaft im Blick hat.
Ich war sowohl die Person, die verschwand, als auch die entkörperlichte Person, die sie aus der Ferne betrachtete, und zugleich war ich keine von beiden. Ich versuchte damals, sowohl unbemerkt zu bleiben als auch wahrgenommen zu werden, wollte sowohl Sicherheit als auch Sichtbarkeit, und diese Bestrebungen kamen einander oft in die Quere.
Weltweit bekannt wurde Rebecca Solnit durch ihren Essay Wenn Männer mir die Welt erklären, den sie im Jahr 2014 veröffentlichte. Sie beschreibt darin das Phänomen der männlichen Besserwisserei und Rechthaberei, vor allem auch Frauen gegenüber, die eigentlich deutlich mehr Expertise haben. Es gibt ein paar berühmte und oft erzählte Beispiele: peinliche Situationen, in denen Männern Autorinnen ihre eigenen Bücher oder ihre eigene wissenschaftliche Arbeit erklären wollen – für dieses Phänomen hat sich der Begriff mansplaining etabliert.
In Unziemliches Verhalten blickt Rebecca Solnit zurück und fragt sich, welche Ereignisse sie eigentlich zu einer Feministin machten und welche Ereignisse sie so wütend werden ließen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht ein Schreibtisch, den sie vor vielen Jahren von einer Freundin geschenkt bekam. Etwa ein Jahr, bevor sie ihr den Schreibtisch schenkte, wurde die Freundin von ihrem Ex-Freund angegriffen und mit fünfzehn Messerstichen schwer verletzt. Der Ex-Freund wollte sie dafür bestraffen, dass sie ihn verlassen hatte, aber sie überlebte den Angriff. Der Schreibtisch, den sie Rebecca Solnit schenkte, ist für diese die tägliche Erinnerung daran, dass ein Mann aus dem Gefühl einer persönlichen Kränkung heraus das Leben einer Frau auslöschen wollte.
Doch der Schreibtisch, an dem ich sitze, wurde mir von einer Frau geschenkt, die ein Mann zu ermorden versucht hatte, und es scheint mir an der Zeit zu berichten, was es für mich bedeutete, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der viele Leute Menschen wie mich lieber tot oder stumm gesehen hätten; zu berichten, wie ich zu einer Stimme fand und wie schließlich der Moment kam, wo ich diese Stimme zu benutzen begann – eine Stimme, die dann am wortgewaltigsten war, wenn ich allein am Schreibtisch saß und stumm mittels meiner Finger sprach -, um zu versuchen, die bislang verschwiegenen Geschichten zu erzählen.
Rebecca Solnit erzählt von ihrem mühevollen Versuch, sich von den frauenfeindlichen Vorstellungen der Gesellschaft zu befreien, aber auch von denen ihrer eigenen Familie. In welche Welt wirst du hineingeboren? Welche Erwartungen werden an dich herangelegt? Welche Rolle wird dir zugetraut? Rebecca Solnit erlebt als junge Frau oft Übergriffigkeiten, mitunter auch Gewalt. Sie macht die Erfahrung, dass männliche Freunde, Kollegen, Vorgesetzte oder auch Verleger, sie oft einfach nicht ernst nehmen. Einem ihrer Verleger begegnet sie auf einer Feier, doch während er mit ihren männlichen Autorenkollegen spricht und scherzt, ignoriert er Rebecca Solnit.
Doch männliche Gewalt erlebt Rebecca Solnit nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern auch in endlos vielen Filmen, Büchern und Songs. Die Ermordung von Frauen ist ein völlig normalisierter Bestandteil vieler Geschichten, die heutzutage rauf und runter erzählt werden. Was macht das mit Frauen, wenn sie sich auf einer Leinwand oder in einem Buch selbst immer wieder als Opfer von männlicher Gewalt sehen müssen?
In Comics war der gewaltsame Tod einer Frau in einer Geschichte, die sich um einen Mann drehte, als Motiv so verbreitet, dass Frauen einen eigenen Begriff dafür prägten, nämlich fridging (etwa: kühlschranken), nach der 1999 erstellten Website Women in Refrigerators, Frauen in Kühlschränken, die dokumentiert, dass eine Unmenge weiblicher Comicfiguren ein grässliches Ende findet. In der Welt der Videogamer wurde jungen Frauen, die Kritik an der Frauenfeindlichkeit in diesen Spielen äußerten, über Jahre hinweg mit Vergewaltigung oder Mord gedroht, und ihre Adressen wurden im Netz veröffentlicht.
Rebecca Solnit ist eine beeindruckende Schriftstellerin, der es gelingt, ihre Leser*innen mit in ihre Gedankenwelt zu nehmen: besonders eindrücklich fand ich die Schilderungen ihrer Vergangenheit und die Art und Weise, wie sie ihre ersten vorsichtigen Schritte als erwachsene Frau gegangen ist – immer verbunden mit der Frage: Wo bin ich willkommen? Wo darf ich sein? Wie viel Raum gibt es für mich?
Ich mag Memoirs, ich mag persönliche Essays, ich mag es, wenn Autor*innen sich Platz und Raum nehmen, um über persönliche oder gesellschaftliche Themen nachzudenken. Was ich besonders schön an den Gedankengängen von Rebecca Solnit finde, ist die Tatsache, dass sie sich immer weiterentwickelt hat – sie hat sich zum Beispiel eine Offenheit gegenüber anderen Lebensrealitäten bewahrt. Rebecca Solnit begeht nicht den Fehler, Feminismus nur in Bezug auf weiße cis Frauen zu denken, sondern bezieht auch schwarze Frauen, queere Frauen oder trans Frauen mit in ihre Überlegungen ein.
Es ist so normal, dass Orte, Plätze, Stellen nach (meist weißen) Männern benannt sind und nicht nach Frauen, dass mir das erst 2015 auffiel, als ich eine Landkarte anfertigte, auf der ich diese Namen in Frauennamen umwandelte und feststellte, dass ich in einem Land aufgewachsen war, in dem Berge, Flüsse, Städte, Brücken, Gebäude, Staaten, Parks die Namen von Männern trugen und fast alle Denkmäler Männer zeigten. Eine Landschaft voller Orte, die nach Frauen benannt waren, und voller Denkmäler, die Frauen zeigten, hätte mich und andere Mädchen womöglich ermutigt. Aber die Namen der Frauen fehlten, und ihr Fehlen war uns nicht einmal bewusst.
Für mich gehört der neue Essay von Rebecca Solnit zu einem meiner Lesehighlights in diesem Jahr: Unziemliches Verhalten ist klug, inspirierend und Mut machend: das Buch macht Mut, in sich hinein zu fühlen und die eigene Stimme zu entdecken und zu erheben. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich ihre Stimmen erheben, um auf Gewalt und Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen!
Rebecca Solnit: Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde. Hoffmann und Campe Verlag, München 2020. 270 Seiten, 23€. Eine schöne Rezension findet sich auf dem Blog Nacht und Tag von Nicole Seifert.
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