Amity Gaige hat einen Roman geschrieben, der es in sich hat: Unter uns das Meer ist eine ungewöhnliche Familiengeschichte über eine Ehe, die sich schon länger in der Krise befindet – und erzählt gleichzeitig auf schmerzhaft anschauliche Weise davon, wie schwer es ist, mit der Trauer weiterzuleben, wenn man zurückgelassen wird.
Geburt und Tod sind Fixpunkte, und die Jahre, um die Vierzig ermöglichen einem einen guten Blick auf beides. Michael hatte davon geträumt, in einem Jahr die gesamte Welt zu umsegeln. Ich wollte lediglich das Jahr überstehen, ohne das Boot eigenhändig zum Kentern zu bringen.
Juliet, ihr Mann Michael und die beiden gemeinsamen Kinder leben ein unauffälliges Vorstadtleben. Es geht ihnen nicht schlecht, aber die Ehe kriselt schon länger. Während Michael mit beiden Beinen im Berufsleben steht, muss sich Juliet von ihren beruflichen Träumen Stück für Stück verabschieden: eigentlich möchte sie eine Doktorarbeit über Bekenntnislyrikerinnen (auf Englisch wird auch von confessional poetry gesprochen) schreiben, aber die Betreuung der beiden Kinder frisst ihre Energie – statt an ihrer Doktorarbeit zu schreiben, schreibt sie Produktbewertungen in Onlineshops. Auch politisch driften Juliet und Michael zunehmend auseinander, Michael besucht ein Survivaltraining der Prepperszene – und wählt plötzlich republikanisch. Was machst du, wenn du merkst, dass zwischen dir und deinem Mann sich plötzlich kilometerweite Abgründe auftun?
Doch Michael hat einen Plan entworfen, um die Ehe mit Juliet zu retten. Er gibt seinen Job auf, kauft sich eine Segelyacht (für die er eigentlich gar nicht genügend Geld hat) und beschließt, mit seiner Frau und seinen Kindern ein Jahr lang um die Welt zu segeln.
Kann man “vor seinen Problemen davonlaufen”? Natürlich nicht. Man läuft bloß von einem Problem in die Arme eines anderen Problems. Doch was ich vielleicht früher nicht wusste, als ich ein Kind war … gewisse Probleme sind fest in einem selbst verankert. Ich meine Widersprüche. Zum Beispiel, dass in 99% der Zeit unsere Eigeninteressen im Widerspruch stehen zu jeder Art von sozialer Verabredung. Wir sind gepolt auf Betrug & Verrat und hoffen einfach nur, dass diejenigen, die wir lieben, unbeschadet bleiben.
Die Geschichte wird von Amity Gaige aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt: wir erfahren bereits auf der zweiten Seite, dass die Reise nicht gut ausgegangen ist, es sind nur Juliet und die Kinder wieder zurückgekehrt. Dies schadet jedoch nicht der Spannung, weil die Frage, was genau passiert ist, lange ungeklärt bleibt. Juliet erinnert sich zurück an die Vergangenheit, denkt über die Gegenwart nach und liest in den Logbucheinträgen nach, die Michael auf der Segelyacht verfasst hat. All diese Einzelteile setzen sich Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammen.
Deutlich wird dabei auch, dass die Konflikte zwischen Michael und Juliet viel tiefer liegen. Juliet leidet seit der Geburt ihrer Kinder an einer postnatalen Depression, die Bewältigung des gemeinsamen Alltags überfordert sie oft – es ist auch ein Trauma aus ihrer Kindheit, das immer wieder hervorbricht und sie gefangen hält. Michael dagegen weiß oft nicht, wie er mit seiner Frau umgehen soll – oder wie er ihr helfen kann.
Was kann ich tun, hat er mich immer gefragt. Wie kann ich helfen? Wie wär’s, wenn du einfach mal von dir aus eine winzige Kleinigkeit beisteuern würdest? Wie wär’s, wenn du mich eine Dusche nehmen lassen würdest, ohne den Hahn abzudrehen, damit ich das Schreien der Kinder höre? Und wenn du schon nicht in der Lage bist, die Kinder vom Schreien abzuhalten, wenn du nicht in der Lage bist, Nein zu sagen, für sie die Kappen auf die Filzstifte zu tun, Erdbeeren so zu schneiden, wie sie es mögen, oder sie mit Sonnencreme oder Insektenschutz einzureiben, wenn du tatsächlich nicht in der Lage bist, pünktlich nach Hause zu kommen oder meine Gefühle zu verstehen, mich nach meiner Arbeit oder nach meinen Träumen oder meinen Enttäuschungen zu fragen, könntest du dann nicht wenigstens versuchen, dir vorzustellen, was es bedeutet, ich zu sein?
Ich habe Unter uns das Meer sehr gerne gelesen: es ist rasant, spannend und gut erzählt – und es ist tatsächlich das, was ich unter einem klassischen Pageturner verstehe. Ich habe manchmal bis tief in die Nacht gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es mit Juliet, Michael und den Kindern weitergehen wird. Amity Gaige hat einen eleganten und leicht zugänglichen Roman geschrieben, der thematisch jedoch keine leicht verdauliche Kost ist: wie gehen wir damit um, wenn eine Ehe kriselt? Was passiert mit einer Ehe, wenn einer der beiden Partner*innen an einer Depression erkrankt? Wie verarbeiten wir Traumata aus unserer Kindheit? Was machen wir mit all dem, was wir schon unser ganzes Leben lang mit uns herum schleppen?
Wer das passende Buch für den Herbst sucht, der macht mit Unter uns das Meer nichts falsch, ganz im Gegenteil: Amity Gaige hat einen beeindruckenden und mitreißenden Roman geschrieben, der mich noch eine Weile lang beschäftigen wird.
Amity Gaige: Unter uns das Meer. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von André Mumot. Eichborn Verlag, 2020. 380 Seiten, €22.
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