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Deutschsprachige Literatur

Kurt – Sarah Kuttner

Ich weiß nicht, ob ich es hier schon einmal erwähnt habe, aber dafür sage ich es jetzt: Sarah Kuttner gehört zu meinen Lieblingsschriftstellerinnen. Ich habe alles von ihr gelesen und ich liebe ihre Geschichten, weil sie es schafft mit viel Humor und Leichtigkeit von den ernsten und schlimmen Dingen des Lebens zu erzählen. So ist es auch in ihrem neuen Roman Kurt, der mich eine schlaflose Nacht gekostet hat, weil ich ihn einfach nicht aus der Hand legen konnte.

Wir müssen hier weg. Bite bilden Sie eine Rettungsgasse.

Sarah Kuttner erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Lena und den beiden Kurts. Mit dem großen Kurt hat Lena ein Haus mitten in Brandenburg gekauft – sie ziehen dorthin, um näher bei dem kleinen Kurt sein zu können, dem Sohn des großen. Der wohnt dort nämlich bei seiner Mutter. Plötzlich nicht mehr in Berlin zu wohnen ist eine ziemliche Umstellung und sich plötzlich um ein eigenes Haus kümmern zu müssen, eine ganz neue Herausforderung. Lena und Kurt nehmen beides auf sich, weil sie sich wünschen, ein Teil vom Leben des kleinen Kurts sein zu können – und weil sie eine kleine Familie sein wollen.

Kurt erzählt ganz wunderbar von den Hürden und Herausforderungen einer Patchworkfamilie, von den schwierigen Begegnungen mit Kurts Mutter und von unterschiedlichen Vorstellungen bei der Erziehung. Alles muss miteinander abgesprochen und verhandelt werden.

Kurt hat winzige Augen. Ganz zugeschwollen vom Schlaf und einem schönen Veilchen. Veilchen sollte man vielleicht gar nicht schön finden, zumindest nicht an kleinen Kindern, aber Kurt steht sein Veilchen, es passt zu dem Mund voller wackeliger Milchzähne und der winzigen Boxernase und lässt ihn viel verwegener wirken, als er eigentlich ist. Die Boxernase hat er vom großen Kurt.

Und dann kommt es ganz plötzlich zu einem Wendepunkt im Leben der Erwachsenen: der kleine Kurt stürzt vom Klettergerüst und stirbt. Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Halt, Moment mal – du darfst uns doch nicht alles verraten! Ich verrate nichts, was nicht auch im Klappentext steht. Der kleine Kurt stirbt. Und damit verschwindet von einem Moment auf den anderen der Grund für den Umzug, der Grund für das gemeinsame Haus und der Grund für dieses ganze Leben in Brandenburg. Der Klebstoff, der alles zusammenhielt.

Sarah Kuttner erzählt von der Trauer, die Lena und Kurt danach befällt. Eine Trauer, die ganz unterschiedlich ist. Kurt trauert um seinen Sohn – während Lena nach ihrer Rolle in diesem Familiengefüge sucht: wer war der kleine Kurt eigentlich für sie? Und was war sie für ihn? Die Trauer macht die Erwachsenen sprachlos, wütend, ratlos, einsam.

Kurt ist jemand, der die Dinge mit sich selbst ausmacht. Da sage ich dir sicher nichts Neues. Aber vor allem glaube ich, dass er einfach Zeit braucht. Es ist jetzt schon fast drei Monate her, aber das ist nichts im Zeitempfinden eines Menschen, der jemanden verloren hat. Vermutlich hat er die ganzen letzten Monate im Schock verbracht. Es wird jetzt erst langsam durchsickern, dass das hier die neue Realität ist.

Ich habe Kurt in einem Rutsch durchgelesen, weil ich einfach nicht in der Lage war, es wieder aus der Hand zu legen. Das Buch bietet alles, was eine gute Geschichte ausmacht: Sarah Kuttner erzählt von einem der schlimmsten Dinge, die einem im Leben widerfahren kann und tut dies mit sehr viel Ernsthaftigkeit, Zärtlichkeit und einer Prise Humor.

Wenn ihr in diesem Frühjahr ein Buch lesen wollt, dann lest bitte dieses hier und ihr werdet es – versprochen – nicht bereuen. Ich habe geweint, gelacht und das Buch am Ende berührt aber auch beglückt zugeklappt. Ich glaube, dass das ein Zeichen von guter Literatur ist.

Sarah Kuttner: Kurt. S. Fischer Verlag, März 2019. 20€, 239 Seiten.      

180° Meer – Sarah Kuttner

180° Meer ist ein Roman über Jule, eine junge Frau, die mit sich selbst und ihrer eigenen Vergangenheit ringt. Was soll man nur machen, wenn man die eigenen Eltern hasst? Was soll man machen mit einem Freund, den man aus Langeweile immer wieder betrügt? Was soll man machen mit einem Leben, mit dem man eigentlich gar nicht glücklich ist?

Sarah Kuttner

Ich bin nicht greifbar. Wie ein winziger Schauer, der einem über das Rückgrat fährt, ein Wort, das einem nicht einfällt, das ungute Bauchgefühl, wenn doch eigentlich alles glattgelaufen ist. So bin ich.

Als ich vor etwas mehr als drei Jahren Wachtstumsschmerz von Sarah Kuttner las, schämte ich mich noch ein wenig für die Lektüre. Ich erinnere mich, dass ich darüber nachdachte, ob ich die Besprechung überhaupt auf meinem Blog veröffentlichen dürfte, oder ob ich damit meinen eigenen literarischen Anspruch unterlaufe. Diese Gedanken mache ich mir heutzutage nicht mehr, stattdessen bin ich einfach Fan von Sarah Kuttner – ohne Scham und falsche Zurückhaltung. Deshalb war es für mich auch selbstverständlich, dass ich mir ihren neuen Roman 180° Meer sofort zum Erscheinungsdatum kaufen und kurz danach auch lesen musste. Und, was soll ich sagen? Die Lektüre hat sich mal wieder mehr als gelohnt!

Ich liebe Achselhöhlen, ich mag, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes kleine Höhlen sind, in die man reinkriechen muss, um etwas zu finden. Für mich sind sie der intimste Ort eines Menschen. Oder sagt man Körperteil? Vermutlich nicht, eine Achselhöhle ist nichts, was man klar definiert abschneiden und in Gefriertüten verpacken könnte. Kein Teil also, ein Ort.

Jule, die Hauptfigur von Sarah Kuttner, ist – nachdem der Vater die Familie verlassen hat – alleine mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Mittlerweile ist sie schon längst erwachsen, aber irgendwie immer noch nicht so richtig im Leben angekommen: ihre Kindheit hat sie hinter sich gelassen, ohne sie jemals wirklich loslassen zu können. Stattdessen hat Jule sich in einem Leben eingerichtet, das sie nicht glücklich macht: sie singt nachts in einer Bar, wird immer wieder von Anrufen ihrer Mutter belästigt und betrügt ihren Freund. Es ist ein Leben, über dem ein schwerer Schatten liegt – es ist ein Schatten des Hasses: Hass auf die Welt, den Job, die eigenen Eltern  – und wahrscheinlich auch ganz besonders viel Hass auf sich selbst. Als es zwischen ihr und ihrem Freund Tim kriselt, flüchtet Jule zu ihrem Bruder nach England. Es ist eine Flucht vor den Scherben ihres Lebens, doch dann begegnet sie auf ihrer Reise plötzlich ihrem Vater, der sie ein ganzes Leben lang alleine ließ und nun im Sterben liegt. Schlagartig verwandelt sich Jules Flucht in eine Reise zu sich selbst und zurück in die eigene Vergangenheit.

Nur in seiner Weite und Unnahbarkeit berührt mich das Meer. Diese wunderbare, düstere Aussichtslosigkeit, die ein vor einem hingegossener Ozean vermittelt, fasziniert und rührt mich. Das empfand ich schon als kleines Kind so. Meer ist nichts wert, wenn es sich nicht zu 180° vor mir erstreckt. 

Für mein Empfinden lebt der Roman vor allen Dingen von seiner Hauptfigur und einer Art des Erzählens, die mich mitgerissen hat – weniger von der erzählten Geschichte. Sarah Kuttner hat in all ihren bisherigen Romanen ein Händchen für kompliziertere Charaktere gehabt – für Frauen, die zu viel fühlten, für Frauen, die zu verkopft sind, um glücklich und zufrieden sein zu können. Jule ist da keine Ausnahme und es würde mich nicht wundern, wenn sie, in all ihrem Hass und Unglück, die Leser und Leserinnen möglicherweise auch spaltet. Jule ist zickig und verbohrt, sie ist wütend – auf sich und die Welt. Es ist nicht immer leicht Jule zu mögen, es ist vielleicht sogar viel leichter, sie nicht zu mögen.

Weißte, kann schon sein, dass es schwer ist, jemanden zu lieben, der sich selbst nicht mag. Aber auf der anderen Seite muss so jemand vielleicht ganz besonders liebgehabt werden. Als Unterstützung quasi. Wie Stützräder. Solche Leute brauchen Stützräder. So!

Ich mochte Jule, sehr. Ich mochte Jule, ihre Liebe zum Meer und den Hund, den sie mitten im Buch adoptiert. Ich weiß nicht, ob 180° Meer tatsächlich so etwas wie ein Generationenroman ist, ich habe aber schon das Gefühl, dass Sarah Kuttner in all ihren Romanen ein ganz besonderes Lebensgefühl aufgreift. Vielleicht berühren mich ihre Romane so sehr, weil ich ihren Charakteren – zumindest alterstechnisch – nahe bin. Mich beschäftigen ganz ähnliche Fragen: wie ist eigentlich mein Verhältnis zu meinen Eltern? Habe ich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen? Bin ich überhaupt glücklich mit meinem Leben? Oder mit meinem Partner?

Sarah Kuttner hat es als Fernsehmoderatorin, die auch noch schreibt, vielleicht etwas schwerer ernst genommen zu werden – gerade von der klassischen Literaturkritik. Ich würde mir wünschen, dass Leser und Leserinnen keine Scheu haben. Für mich ist 180° Meer eine lohnens- und lesenswerte Lektüre. Sarah Kuttner legt einen gut erzählten Roman vor, der sowohl komisch als auch tragisch ist und mich tief bewegt hat.

Sarah Kuttner: 180° Meer. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015. 272 Seiten, €18,99.                              

Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen hochaktuellen, wichtigen und lesenswerten Roman vor. Einen Roman, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung von der Realität eingeholt wurde und dem Buch damit möglicherweise etwas aufbürdet, das dieses gar nicht verdient.

Erpenbeck

Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Das beherrschende Thema in Gehen, ging, gegangen ist die Zeit: Richard hat zu viel freie Zeit, seitdem er in Rente gegangen ist. Seine Frau ist verstorben, er lebt alleine und seitdem er nicht mehr arbeitet – er ist viele Jahre lang Professor gewesen – erscheint ihm das Vergehen der Zeit noch bedrückender, noch langsamer, noch kräftezehrender. Die Zeit, die ihm bleibt, ist begrenzt, doch womit soll er sie füllen? Was kann man mit dem Leben anfangen, wenn man plötzlich nichts mehr hat – keine Frau, keine Arbeit, keinen geregelten Tagesablauf?

Auch die Menschen, die auf dem Oranienplatz kampieren, verfügen über viel freie Zeit. Es handelt sich um Flüchtlinge, um Asylbewerber, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen. Sie hoffen auf Arbeit, auf Sicherheit, auf ein besseres Leben. Sie suchen Schutz vor dem Krieg, vor den Bomben, vor den Gewehrsalven. Auf ihrer Flucht haben sie einen Weg eingeschlagen, der ihnen das Leben hätte kosten können – einzig und allein von der Hoffnung getragen, dort wo sie ankommen, ein besseres Leben führen zu können. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, die Zeit vergeht schleppend, ohne, dass sie sinnvoll gefüllt werden könnte.

Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.

Jenny Erpenbeck führt beide zusammen: die Gruppe Flüchtlinge und Richard, den emeritierten Professor. Richard wird zufällig auf die Männer aufmerksam, er sieht einen Nachrichtenbeitrag über sie, als sie sich dazu entscheiden, in den Hungerstreik zu treten. Sie haben genug davon, Zeit zu vertun. Richard erinnert sich daran, kurz zuvor am Oranienplatz vorbeigelaufen zu sein – so in seiner Welt gefangen, dass er all die Männer und ihr Schicksal gar nicht wahrgenommen hat. Die hungernden Flüchtlinge vom Oranienplatz lassen Richard nicht mehr los, er möchte sie kennenlernen, möchte etwas über ihre Leben erfahren. Kurzerhand beschließt er, sie aufzusuchen, um ihnen all die Fragen zu stellen, die ihn umtreiben.

Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören Sie an? Wie viele Menschen gehören zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Gab es einen Fernseher? Wo schliefen sie? Was gab es zu essen? Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Haben Sie eine Schule besucht? Was für Kleidung trugen Sie? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Haben Sie selbst Familie? Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Mit welchem Ziel sind Sie aufgebrochen? Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich? Wenn Sie Kinder hätten, die hier aufwachsen, was würden Sie ihnen von der Heimat erzählen? Können Sie sich vorstellen, dass Sie hier alt werden? Wo soll man Sie begraben?

Richard befragt die Männer, erforscht ihre Geschichten, begleitet sie in den Deutschunterricht. Während ihm die Flüchtlinge zu Beginn noch fremd gewesen sind, ihr Schicksal ihn im Vorbeigehen sogar gar nicht auffiel, werden sie plötzlich zu einem Teil seines eigenen Lebens: er wird für sie zu einem Ersatzvater, zu einem väterlichen Freund. Er unterstützt sie bei Arztbesuchen und Behördengängen, lädt einige von ihnen zu sich nach Hause ein. Richard und die geflüchteten Männer könnten nicht verschiedener sein, sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Bevor die Flüchtlinge in sein Leben traten, sah Richard sich mit einer Zeit konfrontiert, die verging ohne gefüllt zu werden. Das Schicksal der traumatisierten Männer füllt sein Leben und seine Zeit nun auf vorher nie geahnte Art und Weise aus. Plötzlich hat er wieder eine Aufgabe, sein Leben hat wieder einen Sinn und die Zeit ist wieder kostbar geworden. Der Schluss, den man hier als Leser ziehen könnte, mag platt wirken und doch hat mich das Aufgehen von Richard in einer neuen Aufhabe tatsächlich gepackt.

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen lesenswerten und wichtigen Roman vor, der mich in seiner Nüchternheit sehr gerührt hat. Die großen Momente des Buches liegen zwischen den Worten, zwischen den Sätzen, in all dem, was auch nicht gesagt wird. Die Sprache ist einfach, angenehm zurückhaltend, beinahe leise. Die Autorin hat sich einen stoischen Erzähler gesucht, der sachlich auf das Leben blickt und sich nur selten aus der Ruhe bringen lässt. Manchen mag das farblos erscheinen, manchen mag das erzählerische Momentum fehlen – für mich ist Gehen, ging, gegangen dennoch stimmig. Im Mittelpunkt stehen – neben dem Thema Zeit – die Geschichten der Flüchtlinge, die viel Geld bezahlt und ihr Leben riskiert haben, um es nach Deutschland zu schaffen. Ohne dort wirklich erwünscht zu sein, ohne die Aussicht zu haben, dort bleiben zu dürfen. Die Geschichten, die sie mit sich tragen, sind herzzerreißend und das, was sie aufgeben mussten unvorstellbar.

“[…] wenn Krieg ist, gibt es nichts anderes als Schlagen und Schießen, Schlagen und Schießen, wenn Krieg ist, geht alles in Scherben, wenn Krieg ist, sieht man den Krieg, und sonst nichts mehr.”

Jenny Erpenbeck hat mit Gehen, ging, gegangen ein Buch geschrieben, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung schon längst von der Wirklichkeit überholt wurde. Wer das Buch heutzutage aufschlägt, der liest es mit einer ganz anderen Erwartungshaltung, denn das, von dem er liest, ist bereits Teil unserer Realität geworden. Ich glaube, dass dieses Schicksal dazu führen kann, dem Buch Unrecht zu tun. Für mich ist Gehen, ging, gegangen ein lesenswerter und wichtiger Roman, der sich auf mehreren Ebenen mit zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: was ist mit Recht und Unrecht? Was ist mit der Zeit, die uns zur Verfügung steht? Wie können wir sie sinnvoll nutzen? Wie weit darf Hilfe gehen?

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus Verlag, München 2015. 352 Seiten, €19,99. Weitere Rezensionen gibt es auf: Literatur leuchtet | Das graue Sofa | Lust auf Lesen

Applaus für Bronikowski – Kai Weyand

Der Job ist weg, die Freundin ist abgehauen, das Geld ist alle: Kai Weyands Protagonist Nies hat es in Applaus für Bronikowski wirklich nicht leicht. Doch dann findet er durch Zufall einen neuen Job in einem Bestattungshaus, der sein Leben auf den Kopf stellen soll. Applaus für Bronikowski ist amüsant, unterhaltsam und überaus lehrreich.

Applaus für Bronikowski

Der achtzehnte März brachte die erste warme Frühlingsluft des Jahres. NC wurde an diesem Tag einunddreißig, und außer der Gewissheit, dass sein Bruder anrufen würde, um ihm zu gratulieren, hatte er keine Vorstellung, was er sich von diesem Ereignis versprach.

Seit er dreizehn Jahre alt ist, möchte Nies nur noch NC genannt werden. NC steht für No Canadian – als seine Eltern im Lotto gewannen, beschlossen sie, nach Kanada auszuwandern und die Kinder auf sich allein gestellt zurück zu lassen. Sie wollten sich endlich ihren Lebenstraum erfüllen – einen Traum, in dem ihre Kinder keinen Platz hatten. Nies blieb mit seinem achtzehn Jahre alten Bruder Roland zurück und nannte sich seitdem nur noch NC. Die Brüder sind so unterschiedlich, dass sie sich kaum verstehen. Während Roland später ein erfolgreicher Banker wird, entwickelt sich NC zu einem Sonderling. Eine Lehre als Landschaftsgärtner hat er abgebrochen, auch in der Systemgastronomie kann er nicht Fuß fassen. Die Anstellung als Hausmeister verliert er kurz vor seinem einunddreißigsten Geburtstag – genauso wie seine Freundin Kornelia.

Es ist eine Entscheidung, die man Kornelia kaum übel nehmen kann: NC ist ein Tagträumer, der sein Leben denkt, statt es zu leben. Worte zerlegt er in ihre einzelnen Bestandteile, macht sich Gedanken über Silben und den Sinn der Sprache. Verliert sich in Philosophiererein über die Frage, wie es einem dreibeinigen Hund gelingen kann zu pinkeln  – nur um dann festzustellen, dass der Hund es einfach tut. Ohne lange nachzudenken, ohne das Für und Wider abzuwägen. Eine Fähigkeit, die NC eindeutig nicht besitzt.

NC hatte schon immer viel gelesen, aber nun fing er an, Bücher zu verschlingen. Nicht nur Romane, sondern auch Gedichte. Er wollte hinter das Geheimnis der Wörter kommen, wollte verstehen, was sie in ihrem Kern bedeuteten, warum manche so tief in einen eindrangen, als wären sie Messer, und manche an einem abprallten, als wären sie Gummibälle, warum ihr Klang nicht unbedingt ihre Bedeutung widerspiegelte und warum man ihnen hilflos ausgeliefert war.

Es ist ein Zufall, der NC aus seiner Lethargie befreit: an seinem Geburtstag lässt er sich beim Besuch einer Bäckerei von der Verkäuferin eine Straße empfehlen, in die er spazieren könnte. Sein Weg führt ihn in die Holpenstraße, dort stößt er auf ein Bestattungsinstitut und – es ist ein ziemlich großer Zufall – findet dort schlussendlich einen Job. Doch nicht nur das: NC lernt als Bestatter plötzlich ganz erstaunliche Dinge über Leben und Tod. Vor allen Dingen lernt er, wie wohltuend es sein kann, das eigene Leben in die Hand zu nehmen …

Er war einunddreißig, hatte keinen Job, keine Freundin und nicht genügend Geld, um die Miete für den nächsten Monat bezahlen zu können. Börsennotiert wäre der Kurs seiner Lebensaktie wohl wirklich auf Ramschniveau gesunken. Aber: Er glaubte nicht an Aktien, und er wollte nicht heute damit anfangen.

Kai Weyand legt mit Applaus für Bronikowski ein erstaunliches Buch vor, das auf herrlich amüsante Weise einen Blick auf das Leben und den Tod wirft und dabei gleichzeitig mit den Vorurteilen und Klischees gegenüber dem Bestatterberuf aufräumt. Komik und Tragik gehen dabei Hand in Hand, wobei das Komische eindeutig überwiegt. Kai Weyand ist es ganz wunderbar gelungen, eine etwas unschlüssige und verzagte Hauptfigur zu zeichnen und sie immer wieder in grotesk-skurrile Situationen zu schicken. Obwohl NC schon einunddreißig Jahre alt ist, liest sich Applaus für Bronikowski fast wie ein Coming-of-Age-Roman: erst als Bestatter und im Anblick des Todes, gelingt es dem friedvollen Taugenichts, sein Leben endlich zu meistern und in die eigene Hand zu nehmen. Als ich das Buch zuklappte, fühlte ich mich erheitert, gut unterhalten und seltsam berührt – es ist uncool, ein Träumer und kein Macher zu sein, aber NC hat sich dann irgendwie doch in mein Herz geschlichen. Und ganz nebenbei habe ich auch noch alle Feinheiten des Bestatterwesens kennengelernt.

Für mich ist Applaus für Bronikowski ein feiner kleiner Roman, der mich gut unterhalten und dennoch nachdenklich gemacht hat. Eine schöne Unterhaltung und ein Roman, der in diesem Jahr zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreis stand.

Kai Weyand: Applaus für Bronikowski. Wallstein, Göttingen 2015. 188 Seiten, €19,90. Weitere Besprechungen bei: Fantasie und Träumerei, Fräulein Julia, Zeilensprünge und Poesierausch.

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky

Alina Bronsky erzählt in ihrem neuen Roman eine Geschichte von Heimat und Heimkehr. Es geht um Tschernobyl und es geht um die Menschen, die trotz der Gefahr zurückkehren, um dort zu sterben, wo sie geboren worden. Aus diesem ernsten Thema macht Alina Bronsky einen sommerlich leichten Roman – das ist nett zu lesen, kann mich aber nicht gänzlich überzeugen.

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Nach dem Reaktorunglück bin ich, wie fast alle, weggegangen. Es war 1986, und am Anfang wussten wir nicht, was passiert war. 

Baba Dunja kehrt in ihr Heimatdorf Tschernowo zurück, um die letzten Tage ihres Lebens dort verbringen zu können, wo sie ihr ganzes vorheriges Leben gelebt hat. Dort wo sie ihre zwei Kinder groß gezogen hat, die schon längst nicht mehr in Russland wohnen. Dort, wo sie ihren Mann Jegor kennengelernt hat. Das Dorf ist idyllisch – von den dreißig halbverfallenden Häusern ist mehr als die Hälfte wieder bewohnt.

Es ist ein erstaunliches Phantasiekonstrukt, das Alina Bronsky in ihrem Roman beschwört: sie erzählt von Menschen, die in die Sperrzone rund um Tschernobyl zurückkehren. Es handelt sich um alte Menschen, um Menschen die bereits erkrankt sind, die nicht mehr viel Leben vor sich haben. Es handelt sich um Menschen, die ihr restliches Leben lieber in ihrer verstrahlten Heimat verbringen, als in einer anonymen Hochhaussiedlung in der Großstadt. Also Gemeinschaft statt Entfremdung und sozialer Kälte. In Tschernowo hat sich tatsächlich eine erstaunliche Gemeinschaft gebildet: da gibt es Baba Dunja, die ehemalige Krankenschwester, die für alle die Dorfvorsteherin ist. Da gibt es Marja und ihren Hahn Konstantin. Da gibt es Petrow, der vom Krebs zerfressen wird. Da gibt es den alten Sidorow, der glaubt, mit seinem Plastiktelefon in die weite Welt hinaustelefonieren zu können. Dabei sind die Leitungen nach Tschernowo schon lange tot. Den Kontakt zur Außenwelt hält Baba Dunja per Post, Brief um Brief schickt sie zu ihrer Tochter und Enkelin nach Deutschland.

Tschernowo ist nicht groß, aber wir haben einen eigenen Friedhof, weil die in Malyschi unsere Leichen nicht mehr wollen. Im Moment wird in der Stadtverwaltung diskutiert, ob für eine Beisetzung der Tschernowo-Leute in Malyschi ein Bleisarg vorgeschrieben werden soll, weil verstrahlte Materie auch dann weiterstrahlt, wenn sie nicht mehr lebt.

Alina Bronsky erzählt diese Geschichte erstaunlich und poetisch – trotz der bedrückenden Lage, in der sich die Dorfgemeinschaft befindet, tragen die Bewohner ihr selbstgewähltes Schicksal mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Resignation. Der ruhige Erzählfluss nimmt zur Hälfte des Buches dann schließlich doch noch Fahrt auf: plötzlichen tauchen Fremde im Dorf auf und der Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft wird nachhaltig erschüttert. Die plötzlich rasant einsetzende Handlung wirkte auf mich wenig stimmig, sondern schon fast ein bisschen herbeigezwungen. Ohne zu viel darüber zu verraten, was passiert, kann ich doch so viel sagen, dass die Handlung ab einem gewissen Punkt eine Wendung nimmt, mit der ich mich nur noch schwer anfreunden konnte.

Baba Dunjas letzte Liebe ist ein seltsames kleines Büchlein: gemocht habe ich die alte Dame. Baba Dunja geht tapfer durch ihr Leben und strahlt dabei eine gewisse melancholische Heiterkeit aus. Die Schwierigkeiten, die ihr im Leben begegnen, meistert sie mit stoischer Ruhe. Diese kleine Frau, die eigentlich gar nicht wirklich Baba Dunja heißt, hat mich mit ihrem Durchhaltewillen beeindruckt: sie liebt ihr Leben und sie liebt ihre Heimat, auch wenn sich diese in eine verstrahlte Sperrzone verwandelt hat.

Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht mal mehr zum Zähneputzen.

Alina Bronsky schafft auf gerade einmal 150 Seiten ein kleines Paradies, bei dem man manchmal fast vergessen kann, dass es verstrahlt ist. Es ist ein Paradies, das von Pragmatismus und Zufriedenheit geprägt ist, einer Zufriedenheit, die sich dadurch auszeichnet, dass auf diesem kleinen Fleckchen Erde eine Handvoll älterer Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das lässt sich schnell lesen, das berührt stellenweise, ab und an kann man auch lachen – doch sehr viel mehr bleibt leider für mich nicht übrig. Es gäbe so viel mehr zu erzählen über die Menschen in Tschernowo, es gäbe so viel mehr zu erzählen über all die losen Fäden, über das Reaktorunglück, über die seltsamen Fremden, die das Dorf aufsuchen, über die Enkeltochter. Doch all das wird nur angerissen und gestreift – was mir dabei fehlt, ist die Tiefe, die aus Baba Dunjas letzte Liebe mehr macht als eine nette und schnell zu lesende Lektüre für den Nachmittag.

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 160 Seiten, 16,90€. Auf Buzzaldrins Bücher gibt es bereits eine Besprechung zu Nenn mich einfach und Superheld sowie ein Interview mit der Autorin.

Das Buch der Bücher für die Insel – Markus Gasser

Die Frage, welche Bücher man mit auf eine einsame Insel mitnehmen würde, gehört wohl zu den beliebtesten Fragen unter Bibliophilen, aber auch zu denjenigen, die kaum zu beantworten sind. Wie sollte man sich jemals entscheiden können, angesichts der Tatsache, dass es so viele gute Bücher gibt? Markus Gasser versucht in Das Buch der Bücher für die Insel eine Antwort auf die Frage zu finden und stellt in fünfzig Kapiteln potentielle Inselbücher vor. Das ist nicht nur höchst lesenswert, sondern auch eine große Gefahr für jeden Wunschzettel.

Bücher für die Insel

Solange in der Bibliothek noch Licht brennt, kann die Welt nicht verloren sein!

Dieser Satz steht auf der Rückseite des Buches und auch wenn ich eigentlich niemand bin, der bei Büchern wert auf das Äußere legt (zumindest nicht ausschließlich), muss ich doch gestehen, dass ich mir dieses Buch allein aufgrund der wunderbaren Gestaltung gekauft habe. Der Titel in Kombination mit dem großartigen Cover, den zwei roten Lesebändchen und diesem Satz auf dem Buchrücken hat mich einfach verzaubert. In diesem Fall stimmte jedoch nicht nur die äußere Gestaltung, auch der Inhalt hat mich dann begeistern können.

Kaum wendet sich ein Gespräch unter Literaturenthusiasten kurz vor der Sperrstunde der Frage zu, welche Bücher man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, herrscht gebannte Stille am Tisch; man gibt sich feurigem Grübeln hin. Dann wirft einer seine Liste der persönlichen Lieblingsgrößen in die Runde und schon fällt ein anderer ihm ins Wort: weshalb dieser Roman fehle, während es jene Erzählung auf Platz drei geschafft habe. Und eine endlose Debatte bricht los, als könnte die perfekte Liste die Weltgeschichte verändern.  

Das Buch der Bücher für die Insel ist in fünfzig kleine Kapitel unterteilt, in denen Bücher und Autoren vorgestellt werden. Die fünfzig Kapitel sind noch einmal in fünf übergeordnete Abschnitte gegliedert: Die Neuschöpfung des Universums, Helden, Wie leben die Anderen?, Die Abenteuer des Lesens und Die Archive der Finsternis. Im Grunde handelt es sich bei den fünfzig Kapiteln um fünfzig Rezensionen, um Skizzen, die den Autor, das Buch und sein Werk einordnen und dabei Lust auf die Lektüre und das Entdecken machen.

Erwähnung finden unter anderem Herman Melville, J.R.R. Tolkien, Emily Brontë, Jane Austen, Jonathan Franzen, Roald Dahl, Alice Munro und David Mitchell. Es wird bereits früh im Buch deutlich, dass es Markus Gasser nicht darum geht, eine objektive Liste der größten Bücher zusammenzustellen. Es geht ihm viel mehr darum dazulegen, welche Bücher ihm etwas bedeuten, was ihn manche Bücher gelehrt haben und welche Kraft das Lesen von Literatur haben kann. Das ist nicht nur klug und charmant, sondern auch immer wieder unterhaltsam und vor allen Dingen höchst lesenswert. Auch ich – als passionierte Leserin – finde mich in vielen seiner Gedankengängen wieder, entdecke Autoren und Bücher wieder, die ich auch gerne gelesen habe und werde neugierig auf Bücher, die ich bisher noch nicht zur Hand genommen habe. Deshalb darf ich mir an dieser Stelle auch nicht die Warnung verkneifen, dass dieses Buch wahrlich eine Gefahr für jeden Wunschzettel darstellt.

Es nimmt die Frage nach der Bibliothek für die einsame Insel spielerisch ernst und begibt sich mit seinen Lesern auf eine Weltreise durch die Kontinente der Literatur. In fünfzig Kapiteln macht es Romane und Erzählungen und deren Autoren lebendig und beschwört die Atmosphäre ihrer Zeit herauf.

Das Buch der Bücher für die Insel lässt sich wie ein ganz normales Buch lesen – von vorne nach hinten. Es lässt sich aber auch querfeldein entdecken, man kann immer wieder durchblättern, sich nur bestimmte Kapitel vornehmen oder es auf dem Nachttisch liegen lassen, um es in passenden Momenten immer wieder in die Hand zu nehmen. Es geht Markus Gasser jedoch nicht nur darum, die Bücher vorzustellen, die ihm viel bedeuten, sondern er versucht auch Antworten auf grundsätzlichere Fragen zu finden: warum lesen wir eigentlich? Welche Bücher würden wir auch ein drittes Mal zur Hand nehmen? Warum machen uns manche Bücher neugierig und andere nicht? Markus Gasser gelingt es nicht nur Koffer mit Büchern zu bepacken, mit denen man am liebsten sofort auf eine Insel reisen möchte, sondern er schafft es auch, einen zum Nachdenken anzuregen: warum bedeuten mir bestimmte Bücher besonders viel? Welche Bücher würde ich nochmals lesen? Und welche in einen Urlaubskoffer packen? Das Buch der Bücher für die Insel ist also nicht nur Leseratgeber und Packanleitung, sondern lädt auch zur eigenen Auseinandersetzung mit Literatur ein. Verzeihen muss man dem Autor lediglich, dass er manchmal doch etwas prätentiös und bemüht originell daherkommt.

Die Themen, denen es folgt, sind zugleich eins mit den Gründen, warum wir lesen und warum Bücher unverzichtbar sind: weil sie unser Universum neu erschaffen; weil wir in ihnen die Unbeugsamkeit wie die Schwächen großer und kleiner Heldinnen und Helden bewundern; weil wir uns schwelgerisch unbefangen in Abenteuern und fremden Welten verlieren; und weil Bücher die Träume und Alpträume unserer Geschichte wie Archibe erzählend bewahren. 

Markus Gasser ist es gelungen, eine ungewöhnliche Bibliothek zusammenzustellen, mit der man problemlos die Reise auf eine einsame Insel antreten könnte. Das Buch der Bücher für die Insel lädt zu Entdeckungsreisen ein und eignet sich nicht nur zum Selberlesen, sondern auch zum Verschenken. Eine schöne Empfehlung, besonders für die Ferien und die sommerliche Jahreszeit.

Für den Herbst ist übrigens schon das nächste Buch angekündigt, das ebenfalls sehr reizvoll klingt: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen.

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Markus Gasser: Das Buch der Bücher für die Insel. Carl Hanser Verlag, München 2014. 384 Seiten, €21,90.

Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen. Carl Hanser Verlag, München 2015. 304 Seiten, €21,90.

Eine Nacht und alles – Katrin Seddig

Katrin Seddig erzählt schonungslos und doch mit großer Zärtlichkeit von der Liebe und dem Glück, von Neuanfängen und der Angst davor im Alten und Bekannten zu ersticken. Ein Roman, der keine große Geschichte erzählt, aber dafür eine, die wie aus dem Leben gegriffen scheint. Eine Geschichte, die jedem von uns passieren könnte.

Seddig

Irene sieht ihn, auch wenn die Tür geschlossen ist. Sie sieht Per immer, er hat sich bildlich in ihr verewigt, sie sieht ihn, wenn er gar nicht da ist. Das ist Partnerschaft. Inwendig und auswendig.

Die Ehe ist ein Thema, das Katrin Seddig zu verfolgen scheint. Schon in ihrem letzten Roman, der den passenden Titel Eheroman trug, beschäftigte sie sich eingehend mit der Ehe: vom schönen Beginn bis hinein in die dunkelsten Momente. Auch in Eine Nacht und alles geht es um eine Ehe, um die von Irene und Per. Beide sind Mitte vierzig und seit vielen Jahren miteinander verheiratet. Die gemeinsame Tochter ist fast erwachsen und schon ausgezogen – statt weiter bei den Eltern zu leben, bricht sie die Schule ab und schließt sich einer alternativen Kommune an. Trotzdem scheinen Irene und Per glücklich miteinander zu sein; sie ist Studienberaterin an der Universität und er ein schwedischstämmiger Gymnasiallehrer. Doch als Irene eines Abends mit zwei Freundinnen ausgeht, lernt sie einen Mann kennen, mit dem sie die Nacht zusammen verbringt. Plötzlich ist alles anders. Eine Nacht und alles ist anders. Eine Nacht und nichts ist mehr so, wie es sich zuvor angefühlt hat.

Sie sollte längst zu Hause sein. Früh ist schon zu spät. Sie braucht ein Taxi. Aber sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht die Straße, sie weiß nicht den Namen unten am Klingelschild, sie weiß nicht einmal den Stadtteil. Aber vor allem muss es schnell gehen, denn es ist schon spät, zu spät, es ist viel zu spät, wie konnte sie nur einschlafen? Sie steigt in ihr zerknittertes Kleid, das vor dem Bett liegt wie eine alte abgestreifte Haut, nach ihrem Parfüm duftend, nach Rauch und nach Küssen.

Das, was zuvor beständig gewesen ist, fühlt sich plötzlich langweilig und erdrückend an. Irene stellt von einer Nacht auf die andere alles in Frage: ihre Beziehung zu Per und das gemeinsame Leben, aber auch ihre Rolle als Mutter. Hat sie versagt, wenn die noch nicht volljährige Tochter mit einem Jesusjünger abhaut? Ist sie überhaupt noch glücklich mit Per? Ist er ihr nicht eigentlich zu dick und unbeholfen? Wo ist die Leidenschaft und wo ist die Liebe geblieben?Ist etwa die ruhige Beständigkeit die wahre Form der Liebe? Und was ist mit ein wenig Abenteuer und Aufregung? Ist das Leben mit vierzig schon vorbei, oder kommt da noch etwas? Eigentlich könnte Irene zufrieden sein, mit dem was sie hat, doch plötzlich spürt sie einen nagenden Mangel.

Es ist ein Mangel, der möglicherweise schon immer dagewesen ist, den sie jedoch nie zugelassen hat. Irene wirkt wie eine Getriebene. Statt sich mit der zerbrechenden Beziehung zu ihrer Tochter auseinanderzusetzen, nimmt sie Yasemine auf. Ein junges Mädchen, das sie auf einem Rastplatz kennen lernt und das für einen kurzen Moment zu einer Art Ersatztochter wird, die bemuttert werden muss. Statt an der Beziehung mit Per zu arbeiten, flüchtet sie sich in ein neues Abenteuer mit fragwürdigem Haltbarkeitsdatum. Da wünschte ich mir dann doch schon ein paar Mal fast die Buchseiten betreten zu können, um Irene sanft zu schütteln.

Eine Welt, in der es schwierig ist festzustellen, was das Richtige ist, weil es so viele Aspekte des Richtigen gibt, dass es eigentlich das Richtige nicht mehr gibt. Vielleicht hat es nie eine andere Welt gegeben.

Irene passiert das, vor dem viele Angst haben. Ihr passiert aber auch das, was sich höchstwahrscheinlich einige wünschen. Sie bricht aus einer Beziehung aus, die sich schon lange gleichförmig und mittelmäßig anfühlt, um sich einem neuen Mann in die Arme zu werfen, der ihr all das verspricht, was ihr in ihrem biederen Leben fehlt. Katrin Seddig gelingt es, diesen doch einfachen Plot mit großer Erzählkunst zu erzählen. Lakonisch und frei von Pathos erzählt die Autorin von einer zerbrechenden Ehe, vom Verschwinden der Liebe und vom Leben in der Mittelmäßigkeit.

Sie ist willig. Sie denkt, dass sie willig ist und Hilfe braucht, wegen ihrer Einsamkeit und all den Dingen, die schiefgelaufen sind. Wegen Esther, wegen Yasemine, vielleicht sogar wegen Markus, von ganz ferne her, von damals her, sie braucht etwas, das alles andere überdeckt und die kleinen Mulden füllt und die großen Gräben überbrückt.

Das, was mich an diesem Buch jedoch am meisten beeindruckt hat, ist die Sprache gewesen. Katrin Seddig reiht wunderbare Wörter wie auf einer Kette aufeinander und ich wünschte mir beim Lesen, dass ich mir den einen oder anderen Satz um den Hals hängen könnte. Irgendwie sind mir alle ein bisschen ans Herz gewachsen: Irene, Per, Yasemine, die ausgebüxte Tochter. Was bleibt am Ende? Vielleicht die Erkenntnisse, dass uns ein anderer nicht glücklich machen kann, sondern dass wir alle selbst für unser Glück verantwortlich sind. Aus diesem Grund kann ich euch nur empfehlen, in die nächste Buchhandlung zu gehen, dieses Buch zu kaufen und es sofort zu lesen. Es wird euch glücklich machen.

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