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Deutschsprachige Literatur

Tessa – Nicola Karlsson

Nicola Karlsson wurde 1974 geboren und wuchs in West Berlin auf. Sie studierte Modedesign und lebt heutzutage gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in Berlin. “Tessa” ist ihr Debütroman.

“Der weite Himmel. Sie fühlt sich klein, unbedeutend. Der Himmel sieht weit weg aus. Die dunklen Vögel formieren sich um. Einer der Vögel kriegt es nicht hin und fällt zurück. Hektisch flattern seine Flügel, aber er bleibt im Abseits.” 

Von der ersten Seite an wird der Leser rücksichtslos in das Leben von Tessa gestoßen. Tessa ist achtundzwanzig Jahre jung, schön und begehrenswert. Sie hat einen Freund, viele Freundinnen und einige gute Bekannte. Sie hat gemodelt, Werbung gemacht und gutes Geld verdient. Doch glücklich? Glücklich ist sie nicht. Tessa sehnt sich fortlaufend nach Bestätigung und Aufmerksamkeit. Tessa möchte gesehen und wahrgenommen werden. Ihre Beziehung zu Nick zerbricht an ihren Forderungen, an ihrem Drang nach Beachtung, an ihrer krankhaften Eifersucht, an einem hysterischen Verfolgungswahn und dem Gefühl, nicht genug geliebt zu werden. Die Bedürftigkeit, dieses Bedürfnis nach Liebe, ist etwas, das Tessa nicht zeigen kann. Es ist etwas, über das sie nicht sprechen kann, von dem sie aber wünscht, dass es gesehen wird. Nick versteht sie nicht und um ihren Wunsch nach Liebe zu erkennen, ist er zu blind.

“Aber es macht mich müde, dir dabei zuzusehen, wie du dich kaputt machst. Diese ewige Suche nach dem Drama. Ich kann das nicht mehr. Ich habe da keine Lust mehr drauf.”

Das Einzige, was Tessa dabei hilft, der Verständnislosigkeit der Welt und ihrer Mitmenschen zu begegnen, ist Alkohol. Wodka, Bier – egal was, Hauptsache, es betäubt Tessas Angst und Bedürftigkeit. Hauptsache es betäubt so stark, dass Tessa nichts mehr spüren muss. Wenn der Alkohol nicht reicht, greift sie auch zu härteren Drogen: sie nimmt Tabletten und schnupft Kokain. Wenn das Geld ausgeht, findet sich ein Mann, der Tessa Nachschub besorgt – sie besorgt sich Stoff und Nähe, doch beides wird immer schneller schal. Fühlt sich falsch an.

“Immer ist sie allein. Ihr Herz zieht sich zusammen, und ihre Brust fängt an zu schmerzen. Sie schnieft und muss wieder anfangen zu heulen, weil sie so unendlich traurig ist. Es soll alles wieder schön werden.”

Als sie und Nick entscheiden, eine Pause zu machen, wird immer deutlicher, dass von dem alten Glanz nichts mehr übrig ist in Tessas Leben. Die großen Werbeverträge sind längst ausgelaufen, nur ab und an sieht sie sich selbst noch im Kino – bevor der Film beginnt. Es ist fürchterlich, den Verfall Tessas mitzuerleben, der sich förmlich in Lichtgeschwindigkeit vollzieht – in Momenten, in denen sie sich angeekelt von Pennern in der Straßenbahn abwendet, schreit es in meinem Kopf bereits: Du bist doch genauso, Tessa! Sie bestiehlt Freunde, um Alkohol zu kaufen, auch wenn sie sich selbst schwört, das Geld wieder zurückzulegen. Womit soll sie überhaupt Geld verdienen? Von ihrer Modellagentur wurde sie schon lange nicht mehr angefragt und für ihren aktuellen Job hat sie auch schon ewig keinen Finger mehr gerührt. Genauso fürchterlich wie Tessas eigener Absturz, ist das Weggucken der Gesellschaft, in der sie sich bewegt: die Psychiaterin stellt, ohne Nachfragen, weitere Rezepte aus für Tabletten, die Tessa schon lange nicht mehr nimmt, um gesund zu werden. Der Sanitäter nimmt Tessa, trotz eines Selbstmordversuchs, nicht mit ins Krankenhaus. Ihre beste Freundin wendet sich ab, bietet aber keine Hilfe an. Niemand stellt Fragen, oder nimmt sich die Zeit zuzuhören. Tessa schreit, nein, sie verzehrt sich förmlich nach Aufmerksamkeit, doch niemand um sie herum möchte hinsehen. Unsere Gesellschaft hat kein Sicherheitsnetz für diejenigen, die ins Abseits geraten.

“Der Mann hat ihr schlechte Laune gemacht, sein abschätziger Blick, als sei sie eine Alkoholikerin.”

Tessas Leben ist ein Balanceakt, eine Gratwanderung – immer wieder droht sie vom Seil zu kippen und immer häufiger fällt sie. Die Abstürze werden von Mal zu Mal tiefer, bodenloser. Niemand ist da, um ihr zu helfen. Alle, die mal da waren, hat sie weggestoßen. Die letzten Seiten des Romans schneiden beim Lesen ins Fleisch, wie eine scharfe Rasierklinge. Ich habe sie gelesen, die letzten Seiten des Romans, immer wieder. In meinem Hals haben sie sich zu einem sperrigen Knoten zusammengeschnürt, den ich nur unter Schmerzen herunterschlucken konnte. Das Ende des Romans ist weit entfernt von einem dieser klassischen Happy Ends im Film. Genauso leer wie Tessas Vergangenheit, über die man nichts erfährt, erscheint auch die Zukunft – sie bleibt dem Leser verborgen und ich kann nur hoffen, dass es Tessa gelingt, etwas im Leben zu finden, was sie immer öfter auf dem Drahtseil halten wird.

Nicola Karlsson hat mit Tessa eine schwierige Figur geschaffen – ich habe mich dabei ertappt, wie ich mit Tessa sympathisiert habe und mich doch gleichzeitig von ihrem Selbstmitleid und dem künstlich von ihr erschaffenem Drama abgestoßen gefühlt habe. Es ist nicht leicht, Tessa zu mögen und doch ist es schwer, sie nicht zu mögen. Zu viel von einem selbst kann man in Bruchstücken ihres Charakters wiederentdecken. “Tessa” ist ein erschreckend authentisches Buch, was die Frage aufwirft, wie viel von Nicola Karlsson in ihrer Hauptfigur steckt – eine Frage, die ich nicht zu beantworten mag. Wieviel es auch sein mag: Nicola Karlsson hat uns mit “Tessa” ein schonungslos ehrliches, radikal offenes und erschreckendes Buch geschenkt. Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft viel zu viele Tessas gibt und ich hoffe, dass dieses Buch Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schaffen wird, um solche Menschen nicht haltlos abstürzen zu lassen, sondern sie irgendwie aufzufangen.

Dieses Buch gehört meiner Mutter – Erich Hackl

“Dieses schmale Büchlein ist für mich ein kleiner literarischer Schatz.”

Erich Hackl

Für die Ausgabe des BÜCHER Magazins, die in diesem Dezember erschien, habe ich bereits eine Besprechung geschrieben zu Erich Hackls Erinnerungsbuch “Dieses Buch gehört meiner Mutter”. Damals habe ich gemerkt, wie schwer es mir fällt, mich zu beschränken: mir standen für meine Kurzrezension 1000 Zeichen zur Verfügung, wenn man von einem Buch berührt und bewegt wird, sind 1000 Zeichen viel zu wenig. Wie soll ich denn bloß in 1000 Zeichen meine Begeisterung ausdrücken? Das scheint eine Kunst zu seien, die ich noch nicht beherrsche – deshalb freue ich mich darüber, euch das Buch auf meinem Blog in gewohnter Ausführlichkeit präsentieren zu können.

Erich Hackl wurde 1954 in Steyr geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Hispanistik, arbeitete Hackl einige Jahre lang als Lehrer und Lektor. Später gab er seinen Brotberuf auf und war fortan als freier Schriftsteller und Übersetzer tätig. Seine Erzählungen wurden bereits in über 25 Sprachen übersetzt und einige seiner Werke sind heutzutage Schullektüre.

“Ich bin nun, nach ihrem Tod, drangegangen, mich der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen, und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter.”

Die erste Seite des Buchs, die allererste, bevor es überhaupt richtig los geht, ziert ein Zitat von Edgardo Cozarinsky: “Geschichten werden nicht erfunden. Sie werden vererbt.” Man hätte dem Buch kein besseres Zitat voranstellen können, als dieses hier. Erich Hackl erfindet nicht, er erzählt die Geschichten, die ihm seine Mutter ein Leben lang erzählt hat. “Dieses Buch gehört meiner Mutter” ist eine Lebensgeschichte, gelebte Geschichte. Erich Hackl erzählt von der Welt ihrer Kindheit und Jugend. Als ich beginne, das Buch zu lesen, bin ich im ersten Augenblick überrascht: rechts und links auf der Blattseite befindet sich viel weiße Leere. Erich Hackl hat die Geschichte seiner Mutter nicht unbedingt in Verse gegossen, aber er hat die Erinnerungen so notiert, dass die Reichhaltigkeit der Sprache, neben dem Schweigen und der lastenden Stille existiert.

“Wer bis dreißig zählen konnte, / hatte das ganze Dorf erfaßt: / zwei Dutzend Höfe und Häusl, / zwei Wirtshäuser, / eine Schmiede, / eine Kapelle, / ein Feuerwehrhaus.”

Die Welt, die Erich Hackl beschreibt, liegt im Unteren Mühlviertel, einer nördlich der Donau und nahe der tschechischen Grenze gelegenen Hügellandschaft. Es ist eine Welt, von der seine Mutter ihm immer wieder erzählt hat. Nicht nur von ihrem eigenen Leben, das sie in Armut und Kargheit verbracht hat, sondern auch von dem Leben vor ihrem Leben, von dem sie selbst nur durch Erzählungen erfahren hatte. Die Mutter wächst in einfachen Verhältnissen heran, auch wenn ihre Familie die einzige ist, die einen Kirschbaum in der Mulde neben dem Haus stehen hat. Und doch sind die Erinnerungen nicht nur von Trauer geprägt, sondern auch von viel Heiterkeit und Frohsinn. Den Verhältnissen, in die die Mutter hineingeboren wird, wird der Wunsch entgegengesetzt, sich bald möglichst darauf zu befreien. Man hat es nicht schwer, man kann nur versuchen, es besser zu haben.

“Eine kleine Semmel kostete fünf Groschen. / Eine Rippe Schokolade zehn Groschen. […] / Ich hatte es gut: meine Mutter gab mir jeden Tag / eine halbe Semmel mit in die Schule.”

In wenigen Worten und klarer Sprache beschwört Hackl eine Welt heraus, die längst vergessen erscheint. Es ist eine Welt der Mühsal, die jedoch nicht vom Unglück beherrscht wird. Doch eines fehlt ganz eklatant: es sind die Emotionen, es sind Gefühle. Man nimmt hin, was das Leben bringt, aber über allem steht die Weigerung sich näher damit zu beschäftigen. Es ist die Liebe, die fehlt. Oder fehlt vielleicht bei all der Arbeit, die zu tun ist, weniger die Liebe, als die Zeit, sich damit beschäftigen zu können? Die Mutter der Mutter liest viel, “im Stehen wie im Sitzen”, und zwar alles, was sie in die Hände kriegen kann. Für den Vater dagegen geht eine Gefahr von den Buchstaben aus, die er nicht verstehen kann: was hätte Wissen schon helfen können?

“Im gedruckten Papier wittere er Gefahr, / im Lesen überschüssige Kraft, die verpuffte.”

Hackl übernimmt in den Erinnerungen der Mutter, deren Haltung. Er hinterfragt nicht, er analysiert nicht, er verschwendet kaum Worte an Gefühle. Er ist ein Chronist, der festhält. Er hält die damalige Welt fest, dessen größtes Unglück war, wenn der Hof abbrannte, oder jemand sein ganzes Geld verspielte oder versoff. Das größt mögliche Glück war es für eine Frau, ledig schwanger zu werden. Aus den Augen unserer heutigen Welt, ist die Welt der Mutter beängstigend eng und beinahe ohne Fluchtmöglichkeiten. Möglichkeiten, die Frauen heutzutage haben, ihr Leben zu gestalten, waren damals völlig undenkbar. Der Weg der Frauen war vorgeschrieben, Abweichungen davon nicht vorgesehen.

“Sie ließen sie nichts lernen, / sie ließen sie nichts wagen, / sie ließen sie nicht fort, / außer zum Einheiraten / auf einen anderen Hof, / außer als Dienstmagd / auf einen größeren Hof, / außer als Stubenmädchen / in die Stadt hin und wieder / und das war dann: / Abstieg wie Befreiung.” 

Mit fünfundzwanig Jahren erhält die Mutter die Möglichkeit zur Flucht und sie nützt diese; sie verlässt die dörfliche Enge, ohne lange nachzudenken. Das Dorf konnte sie verlassen, doch die Geschichten und die Erinnerungen an die Vergangenheit hat sie ein Leben lang mit sich herum getragen – selten haben sie ihr Trost gespendet.

“Wäre ich eine andere geworden in der Fremde, / wäre mir die Fremde Heimat geworden. /Das hätte mich schon gereizt: mir gegenüberzutreten als die andere.”

Erich Hackl legt mit “Dieses Buch gehört meiner Mutter” eines der stillsten und unaufgeregtesten Bücher dieses Literaturherbstes vor und doch nisten die Erinnerungen, von denen er erzählt, sich direkt im Herzen ein. Er hat nicht nur seiner Mutter ein literarisches Denkmal gesetzt, sondern auch eine mutige und starke Frau porträtiert. “Dieses schmale Büchlein ist für mich ein kleiner literarischer Schatz.” Manchmal braucht es auch einfach nicht sehr viel mehr Zeichen und Worte.

Goldener Reiter – Michael Weins

DownloadMichael Weins wurde 1971 geboren und lebt heutzutage als Autor und Psychologe. Zuletzt erschien von dem Autor, der heutzutage in Hamburg lebt, der Roman “Lazyboy”. “Goldener Reiter” erschien zum ersten Mal bereits im Jahr 2002 und wurde in diesem Jahr vom mairisch Verlag in einer neuen und goldenen Ausgabe erneut veröffentlicht. Ein Buch, was vor zehn Jahren an mir vorbeigezogen ist, hat mich auf diesem Weg doch noch ins literarische Herz treffen können.

“Meine Mutter ist immer still. Meine Mutter ist meine Mutter und sie benimmt sich wie eine Mutter. Mütter reden nicht mit sich selbst und kichern dabei und pfeifen.”

“Mama, bitte […]”. Es gibt ganz viele Sätze in diesem Roman, die mit genau diesen Worten beginnen. Es ist die Bitte darum, sich normal zu benehmen. Es ist die Bitte darum, nicht aufzufallen; sich so zu verhalten, wie sich auch alle anderen Mütter verhalten. Normale Mütter. Es ist ein Satz, der nicht von einem pubertierenden Kind gesprochen wird, dem seine Mutter peinlich ist, sondern von einem Kind, das merkt, dass mit seiner Mutter etwas nicht mehr stimmt. Jonas Fink ist zehn, vielleicht auch elf oder zwölf, Jahre alt, als ihn das Gefühl beschleicht, eine Mutter zu haben, die anders ist, als andere Mütter. Jonas, der noch ein Kind ist, reagiert mit Abwehr auf die Verhaltensänderungen der Mutter. Er schämt sich ihrer, möchte nicht mehr zu ihr gehören.

“Meine Mutter ist nicht meine Mutter. Ich kenne diese Frau nicht. Ich weiß, dass die anderen Leute im Wartezimmer meine Mutter anstarren. Ich spüre, dass sie auch mich anstarren. Ich überlege, aufzustehen und mich umzusetzen. Ich kenne diese Frau nicht.”

Was mit einem Pfeifen, einem Kichern und Selbstgesprächen anfängt, endet in Ochsenzoll, in der geschlossenen Psychiatrie. Zunächst ist die Mutter von Jonas einfach nur ungewöhlich fröhlich und gesprächig, später folgt ein unangemessener Kleidungsstil. Doch das scheinbare Glück der Mutter beginnt zu kippen: sie schläft kaum noch und raucht viel. Nachts schreit sie ins Telefon, tagsüber fühlt sie sich verfolgt. Jonas ist auf sich allein gestellt und von den Verhaltensänderungen seiner Mutter überfordert. In einer Zeit, in der man als Kind seine Mutter braucht, übernimmt er die Aufgaben eines Erwachsenen und der Mutter alles ab, was sie nicht mehr bewältigen kann. Als Leser glaube ich recht schnell zu verstehen, dass die Mutter manisch ist, dass sie psychisch krank ist und Hilfe braucht, doch Jonas ist ein Kind und beschreibt das, was er erlebt aus der eigenwilligen und liebenswerten Perspektive eines Kindes.

Der Klinikaufenthalt verändert seine Mutter, ihre positiven Verhaltensweisen kehren zurück, doch Jonas ist nachhaltig beschädigt. Während seine Mutter sich um ihn bemüht, hat er nicht verarbeiten können, was geschehen ist. Die Eindrücke haben ihn nachhaltig geprägt: das Gefühl sich auf die eigene Mutter nicht mehr verlassen zu können, ist ein Gefühl, das die eigene Realität ins Wanken bringen kann.

“Ich mache mich schön, sagt meine Mutter. Ich finde mich richtig schön so, findest du nicht? Sie lächelt in den Spiegel. Ihr Lippenstift ist zu grell.

Gibt es kein Mittag?, frage ich.

Nein, sagt sie.

Wieso?, frage ich. Was machst du?

Ich gehe weg.

Wohin gehst du?, frage ich. Wann kommst du wieder?

Du musst ja nicht alles wissen. Die Frau vor dem Spiegel lächelt.”

Es ist vor allem die besondere Perspektive, die den Roman zu einer intensiven Lektüre macht. Dadurch, dass der Roman aus der Perspektive eines Heranwachsenden geschildert ist, bleibt vieles unklar, anderes muss man sich selbst erschließen. Doch manchmal wiegt das Nichtgesagte sehr viel schwerer, als all das, was ausgesprochen wird. Warum ist Jonas stellenweise so emotionslos? Während seine Mutter in der Klinik ist, lebt der Junge alleine: Warum fügt er sich in diese Situation, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen? Jonas ist ein großartiger Beobachter und ein genauer Beschreiber, doch von seinen Gefühlen erfährt man wenig. Zu Beginn nennt seine Mutter ihn “Spielverderber”, weil er ihr ihr Glück nicht gönnt. Etwas muss dem Kind an diesem Glück falsch vorkommen, etwas muss ihn spüren lassen, dass es sich um ein falsches Glück handelt und nicht um das echte Glück seiner Mutter. Dies ist das Gefühl eines Kindes, das ich nachvollziehen kann, zu dem ich mir jedoch mehr Erklärungen gewünscht hätte. “Goldener Reiter” ist ein Roman und kein Sachbuch, auch wenn man im Nachwort erfährt, dass die Geschichte autobiographische Züge trägt, und doch hätte ich mir gewünscht, etwas mehr über die Motive und Gefühlswelt von Jonas zu erfahren.

Michael Weins erschafft in seinem Roman “Goldener Reiter” das Porträt eines Kindes einer psychisch kranken Mutter. Trotz der reduzierten und verknappten Sprache handelt es sich um eine bewegende Innenansicht:  ich habe mit Jonas ein Kind eines psychisch kranken Elternteils kennengelernt, ich habe ihn begleiten dürfen, habe geschmunzelt, war verwundert und berührt. Die Geschichte von Jonas und seiner Mutter ist eine Geschichte, die mich verstört und mit einem Gefühl der Beklemmung in meiner Brust zurückgelassen hat. Eine wichtige und lesenswerte Lektüre, die jedoch auch nicht ganz leicht zu ertragen ist.

Arbeit und Struktur – Wolfgang Herrndorf

“Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. […] immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.”

Als ich die Schutzfolie des Buches entfernte, wusste ich, dass ich etwas Besonderes in den Händen halte. Etwas, für das sich nur schwer Worte finden lassen. Der Blog von Wolfgang Herrndorf, der mit “Arbeit und Struktur” denselben Titel trägt, wie das vorliegende Buch, war in der literarischen Netzwelt und auch darüber hinaus bekannt. Der Schriftsteller, der zunächst nur für sich und seine Freunde Tagebuch führte, die ihn drängten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, richtete seinen Blog mithilfe von Sascha und Meike Lobo im September 2010 ein. Sieben Monate zuvor, im Februar 2010, wurde bei dem 1965 in Hamburg geborenen Autor Krebs diagnostiziert: es handelte sich um ein Glioblastom, einen bösartigen Hirntumor. Es ist ein absolut tödlicher Tumor, von Anfang an geht es lediglich um die Frage, wie viel Zeit Wolfgang Herrndorf noch bleibt. Die Statistik, die er bemüht, spricht von “17,1” Monaten.

“Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)”

Nach der ersten Operation am Gehirn, es sollten noch weitere Folgen, verfällt Wolfgang Herrndorf in einen unbändigen Produktionstrieb. Er arbeitet wie wahnsinnig, um nicht wahnsinnig zu werden. Arbeiten bedeutet in seinem Fall schreiben. Mit seinen ersten beiden Veröffentlichungen, “In Plüschgewittern” und “Diesseits des Van-Allen-Gürtels”, feiert der Autor Achtungserfolge: es gibt gute Kritiken, aber kaum jemand kauft die Bücher. Nun führt der Autor innerhalb kürzester Zeit zwei Werke zu Ende, die schon lange unvollendet in der Schreibtischschublade lagen: das Jugendbuch “Tschick” und der Agententhriller “Sand” feiern 2010 und 2011 große Erfolge, diesmal nicht nur bei der Kritik, sondern auch beim Publikum.

“Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, ‘ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden’, usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?”

Das Schreiben hält den zerbrechlichen und fragilen Autor zusammen, das Schreiben hält die zermürbenden Gedanken an die Krankheit und den Tod fern. In einer Situation, in der andere sich entscheiden würden, aufzugeben, entscheidet sich Wolfgang Herrndorf dazu, sein Leben unter das Motto “Arbeit und Struktur” zu stellen. Wie sehr die Krankheit dennoch an ihm frisst, wird in seinem Tagebuch, vor allen in den Rückblenden, deutlich: Verzweiflung, Wahnsinn, Manie, Panikattacken und Todesangst bestimmen seinen Alltag, das einzige Gegengewicht, das Herrndorf setzen kann, ist die Arbeit und sein Umfeld, das aus einer Vielzahl an hilfsbereiten Freunden besteht.

“Nacheinander drei Teile vom Backenzahn ausgespuckt. Ja, mach dich vom Acker, Körper, hau ab, nimmt mit, was du tragen kannst.”

Wolfgang Herrndorfs Tagebuch ist ein berührendes Zeugnis eines schwerkranken Mannes, der sich trotz aller Verzweiflung darum bemüht, ein autonomes Leben zu führen und dieses zu genießen. Die Einschränkungen unter denen er leidet, nehmen im Laufe der Monate zu und doch lässt er sich das fast tägliche Bad im Plötzensee nicht nehmen, genauso wie das Fußballspiel mit Freunden. Wolfgang Herrndorf ist niemand, der aufgibt – beinahe hätte er mit “Isa” noch einen dritten Roman fertiggestellt, doch ein unverschuldeter Fahrradunfall raubt ihm Zeit und Kraft. Schultereckgelenkssprengung. Fürchterliche Schmerzen; eine OP wird zunächst als sinnlos eingestuft. Wolfgang Herrndorf erscheint wie eine tragische Figur, als wäre er noch nicht genug geschlagen mit dem Unglück dieser Welt.

“Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst.”

Trotz allem bewahrt sich der Autor ein gewisses Maß an Humor und eine ganz eigene, manchmal seltsam anmutende und immer wieder charmante, Perspektive auf die Welt. Der Angst vor dem Tod setzt er die Erleichterung dagegen, nie wieder zum Zahnarzt und keine Steuererklärungen mehr abgeben zu müssen. Sein Schicksal scheint er mit Fassung zu tragen, soweit dies überhaupt sagbar ist. Im Angesicht des drohenden Todes empfindet Herrndorf zunehmend Traurigkeit, doch nur selten Wut. Nur ab und an setzt er zu Hasstiraden an, zu deren Opfern Uwe Tellkamp (“Schwanzvergleich”), Martin Walser (“seniler Sack”) und Volker Weidermann gehören, genauso wie jegliche Anhänger von Theorien der möglichen Krebsheilung. Eine weitere wichtige Rolle im Tagebuch spielt auch die Literatur, zum einen Wolfgang Herrndorfs eigene Literatur, da der Leser beinahe teilnehmen kann am Entstehungsprozess von “Tschick” und “Sand”, zum anderen aber auch die Bücher von anderen Autoren und Autorinnen. Die Diagnose der tödlichen Erkrankung raubt Herrndorf jegliche Vorstellung von Zukunft und von allem, was neu ist – statt neue Bücher zu lesen, wendet er sich zurück und wirft einen Blick in die Vergangenheit und auf die Bücher, die er an bestimmten Punkten seines Lebens gerne gelesen hat, um sie erneut zu lesen und sein Urteil zu überprüfen. “Imperium”, von Christian Kracht, ist eine der wenigen Neuerscheinungen, die er liest; “Syntaxmassaker” ist das drastische Urteil, zu dem er kommt.

“Niemand kommt an mich heran / bis an die Stunde meines Todes. / Und auch dann wird niemand kommen. /Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.”

Neben allem anderen wirft das Buch aber auch eine ganz wichtige Frage auf, die Wolfgang Herrndorf an mehreren Stellen eindringlich thematisiert: es ist die Frage nach Sterbehilfe und der Wunsch des Autors, diese zu legalisieren. Für den Autor ist es das Wichtigste, selbst über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen. Der Zeitpunkt, an dem er spürt, dass er die Möglichkeit verliert, zu kommunizieren, ist der Moment, wo er entscheidet, sich das Leben zu nehmen. Es ist ihm ein Anliegen, dass die Art und Weise, wie er sein Leben beendet hat, offen kommuniziert wird “für Leute in vergleichbarer Situation”. Die Frage danach, wie man sterben darf, ist nicht leicht zu beantworten und doch ist es wichtig, dass sie von Wolfgang Herrndorf thematisiert wird.

“Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene.”

Kathrin Passig und Marcus Gärtner erklären im Nachwort, dass es der Wunsch von Wolfgang Herrndorf gewesen ist, seinen Blog als Buch zu veröffentlichen. Über die Gründe können wir nur rätseln. Nichts, von dem, was im Buch steht, würde man nicht auch frei zugänglich im Blog finden und doch ist für mich dieses Buch etwas Alternativloses. Es ist wichtig und richtig, dass es dieses Buch gibt. Krebsliteratur scheint beinahe schon ein eigenes Genre der Literatur zu sein, doch für mich ist “Arbeit und Struktur” keine Form des Weihnachtsmarketings oder der Vermarktung eines Gestorbenen (und ich befürchte, dass es nicht lange dauern wird, bis die ersten genau dies kritisieren werden), sondern ein Stück großer Literatur. Es ist ein Buch darüber, wie man leben kann, wenn man täglich damit rechnen muss, zu sterben. Es ist ein Buch darüber, wie jemand das restliche Leben, das ihm noch bleibt, nicht nur mit Arbeit füllt, sondern auch mit Glück. Die letzten Einträge des Tagebuchs, die immer kürzer werden, gehören zu den stärksten Passagen, die ich jemals gelesen habe.

“Jeden Abend der gleiche Kampf. Lass mich gehen, nein, lass mich gehen, nein. Lass mich.”

“Arbeit und Struktur” ist ein Buch über die großen Themen der Menschheit: über den Tod und das Leben. Kaufen. Lesen. Wohldosiert und vorsichtig. Und dann immer wieder: Immer wieder lesen.

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau – Max Scharnigg

Max Scharnigg arbeitet nicht nur als Autor, sondern auch als Journalist. Der 1980 geborene Autor ist unter anderem tätig für die Süddeutsche Zeitung, Architectural Digest und Nido. Vor drei Jahren erschien sein Debütroman “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe”. In diesem Literaturherbst erschien sein neuestes Buch “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau”.

“Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch. Sorge dich um die Hofstange. Die erste echte Erinnerung: Wie er an meinem sechsten Geburtstag ein schwarzes Büchlein auf den Tisch neben meinem Bett legt, bevor er den Hocker nimmt, um mir die Gutenmorgengeschichte zu erzählen.”

Max Scharnigg erzählt in seinem neuesten Roman, der den ungewöhnlichen Titel “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” trägt, die ebenfalls ungewöhnliche Geschichte von Jasper Honigbrod. Jasper ist zu Beginn des Romans sechs Jahre und erzählt die Geschichte seiner leicht seltsam anmutenden Familie aus der Perspektive eines Kindes, es ist eine eigenwillige aber unheimlich liebenswerte Perspektive.

“Es ist wohl so, die Abenteuer, die wir zu Beginn unseres Lebens in jeder Hecke, an jedem Stein und jedem Hügel sehen, kommen uns später so gewöhnlich vor, wie das ganze Leben. Aber zuerst sind diese Dinge die Grenzposten alles Neuen, die Marksteine unserer ganzen Welt, und es ist möglicherweise wichtig, das nicht zu vergessen.”

Jasper wächst mit den beiden Opis, seinem Großvater und seinem Vater, in Pildau auf. Pildau ist ein Ort, den man nicht einmal mehr als Dorf bezeichnen könnte. Es ist ein Ort der Abgeschiedenheit und Einöde. Der Flecken Pildau bestand ehemals aus zwei Höfen, einer von beiden ist jedoch bereits verfallen und nur noch der Hof der Honigbrods wird bewohnt. Verbunden mit der Außenwelt (dem Hinterland) ist er durch eine einzige Landstraße.

“Pildau ist in der Flurkarte als Hofstelle eingetragen, das ist etwas mehr als ein Bauernhof, auch wenn es zu meiner Zeit schon etwas weniger war.”

Das geruhsame und gleichmäßige Leben der Honigbrods, das geprägt ist vom Anbau und Verzehr des Mangolds, gerät eines Abends aus den Fugen. Es ist der Abend, an dem Jaspers Vater auf einer seiner Wanderungen ein junges Mädchen aus einem Auto rettet und es mit nach Hause bringt. Lada lebt fortan in der Familie, statt offizielle Stellen zu informieren, wird sie in die Welt Pildaus und der Honigbrods integriert. Jasper, der bisher in einer Welt aufwuchs, die von Männern geprägt wurde – seine Stiefmutter Lene hat den Hof nur ab und an aufgesucht – ist angetan vom familiären Zuwachs. Lada bringt ganz viel Neues auf den Hof, vor allem auch einen neuen Duft:  “Frische Regenpfützen auf einer Juniwiese und darin ein Tropfen Benzin, das war ihr Duft.” 

Es ist das Leben in Pildau, von dem Jasper mit den Augen eines Kindes erzählt und Max Scharnigg gelingt es dabei eine bezaubernd märchenhafte Welt zu erschaffen. Eine Märchenwelt, die aus einer Hofstange besteht, die so weit in den Himmel ragt, dass das Ende für Menschenaugen nicht mehr zu erblicken ist. Eine Märchenwelt, die aus Fischen besteht, die tagtäglich gefüttert werden, doch schon lange nicht mehr gesehen wurden. Zu dieser Märchenwelt gehört auch eine eigenwillige Sprache, die dennoch wunderschöne Sprachbilder produziert, zum Beispiel in dem Moment, als Jasper statt verstorben, das Wort “verhimmelt” benutzt. Der Leser erhält auch Einblicke in die bewegte Vergangenheit der Hofbewohner, es wird die Geschichte der beiden Opis erzählt, die bis zurück in den Krieg reicht, aber auch die bewegende Lebensgeschichte von Lene. Es war wohl vor allem diese Geschichte, die mich am stärksten berührt und gepackt hat. Darüber hinaus ist “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” aber auch ein Roman über Bücher, über das Lesen von Büchern und die Liebe zu Büchern, über Bibliotheken und das Schreiben von Büchern. Jaspers Vater liebt es sich in seine Bibliothek zurückzuziehen, in der er schreibt und liest. Seinem Sohn reicht er Romane weiter, die ganz sicherlich nicht seinem Alter angemessen sind, die ihm aber, in einer Welt, die nach der Ankunft von Lada immer stärker aus den Fugen gerät, Halt und Trost geben sollen.

“Wann immer mir die Bücher in der Hand weniger wurden, las ich langsamer und zögerte jede Seite hinaus, bis ich dazu überging, die Enden einfach gar nicht mehr zu lesen. Ich legte die Bücher vorsichtig zur Seite, sobald mir der Buchdeckel rechts zu nahe kam, und behielt die Geschichten so, wie sie waren, unvollendet und richtig.”

Einen Roman aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, zu Beginn des Romans ist Jasper sechs Jahre alt, ist immer ein Wagnis und mit dem Risiko verbunden, zu scheitern. Doch in diesem Fall funktioniert die stellenweise ungewöhnliche Perspektive. Der Leser betrachtet die Welt aus den Augen eines Kindes und wird dadurch vielleicht wieder auch ein bisschen daran erinnert, die eigene Perspektive auf Ereignisse zu überdenken. So erging es zumindest mir.

Max Scharnigg ist mit “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” ein lesenswerter Roman gelungen, der bewegt und berührt. Getragen wird er  von liebevoll beschriebenen Figuren und einer Geschichte, die einen, wenn man erst einmal anfängt zu lesen, nicht wieder loslässt. Max Scharnigg reizt die Grenzen der Realität aus, er nimmt den Leser an die Hand und man muss bereit sein, mit ihm mitzugehen – ich habe das sehr gerne getan.

Fünf Kopeken – Sarah Stricker

81H8ozn75wLSarah Stricker wurde 1980 in Speyer geboren und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Anschließend arbeitete sie für einige deutsche Zeitschriften, bevor es sie 2009 nach Israel zog. Der Auslöser war ein Stipendium, das sie erhielt, doch bis heute ist sie nicht zurückgekehrt. In Israel berichtet sie für deutsche und israelische Medien. Nebenbei hat sie ihren beeindruckenden Debütroman “Fünf Kopeken” geschrieben, der in diesem Literaturherbst im Eichborn Verlag erschienen ist.

“Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte ihr mein Großvater nie erlaubt.”

Anna, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, nimmt sich der Lebensgeschichte ihrer Mutter an. Es ist eine Geschichte, die sich aus vielen kleinen Bruchstücken und Episoden zusammensetzt, die die Mutter ihrer Tochter auf dem Sterbebett erzählt. Dem Tode ins Gesicht blickend befreit sich die Mutter von einer Lebensgeschichte, die immer mal wieder auch Lebenslast gewesen ist. Die Tochter notiert das Gesagte, akribisch und detailliert, mit viel feiner Beobachtungsgabe.

“Solange ich denken kann, hatte meine Mutter immer nur über die Zukunft gesprochen. Erst jetzt, wo die zusammenschnurrte wie ein Planschbecken, wenn man am Ende des Sommers den Stöpsel zieht, fand sie plötzlich Geschmack an der Vergangenheit. Nur die Gegenwart rührte sie bis zuletzt nicht an.”

Annas Mutter ist zu hässlich, um es sich erlauben zu können, dumm zu sein. Dies wird ihr bereits früh im Leben klar gemacht. Die Mutter, die das ganze Buch hinweg namenlos bleibt, kommt als spätes Kind ihrer Eltern zur Welt. Ihr Vater Oskar hält weder etwas von Schönheit, noch von Liebe – es ist allein die Leistung, die für ihn zählt.

“Er ging nicht, er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser. In seinem Wortschatz gab es kein ‘Ich finde/glaube/würde sagen’, kein ‘Ich bin der Meinung, dass’, nur: ‘Es ist.'”

Er selbst hat sich mit seiner Modeboutique bis ganz nach oben gearbeitet und erwartet auch von seiner Tochter altehrwürdige deutsche Tugenden: Talent, Leistung, Klugheit. Ihre Mutter Hilde bleibt blass neben ihrem Mann, ihr Leben ist bestimmt von der Angst, die sie seit eines Bombenangriffs, den sie als Kleinkind miterlebt hat, in ihren Fängen hat.

“Die erste und einzig wahre Liebe meiner Großmutter war die Angst. Alles was danach kam, waren nur Variationen.”

Es ist die Kombination ihrer Eltern, die überängstliche Mutter und der strenge und leistungsbedachte Vater, die es der Mutter unmöglich machen, eine sorgenfreie Kindheit zu erleben. Sie ist hochintelligent und mit einer Vielzahl an Talenten gesegnet; die Schule erledigt sie im Vorbeigehen. Sie wird gefördert und gefordert, jedoch nicht geliebt. Wie soll es ihr da möglich sein, eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen? In der Schule fällt es ihr schwer, Freundinnen zu finden, ganz zu schweigen von einem liebenden Partner. Wie eine Partnerschaft funktionieren könnte, erlebt sie erst während ihres Studiums, als sie Arno kennen lernt. Arno liebt die Mutter, von ganzem Herzen, doch sie selbst hat die Fähigkeit zu lieben noch gar nicht entdeckt. Während sie mit Liebe überschüttet und erdrückt wird, fühlt sie sich selbst taub, wenn auch nicht unglücklich. Ähnlich wie in ihrem Elternhaus und in der Schule funktioniert sie lediglich und spielt die Rolle, die von ihr erwartet wird. Die Rolle der perfekten Tochter, der liebenden Freundin – eine Rolle, die sie bis an ihr Lebensende hätte spielen können, wenn ihr nicht Alex begegnet wäre. Alex, der Mann mit den vielen Namen, ist geheimnisvoll und derb, er ist abweisend und in sich gekehrt. Zum ersten Mal entdeckt die Mutter die Welt der Gefühle und der Liebe.

“Das ganze Leben will man von seinen Eltern weg, alles, nur nicht ‘du bist ja genau wie deine Mutter’, und am Ende glaubt man plötzlich, sich die Liebe oder Freundschaft oder wenigstens Achtung für sie einfach überstreifen zu dürfen, wie einen Pullover, den man im Schrank gefunden hat.”

Alex oder Arno? Das häusliche Glück oder das wilde Leben? Und wer ist Annas Vater? Das sind die Fragen, die im Mittelpunkt des Romans stehen und um die die Erinnerungen der Mutter kreisen. Ihrer Tochter, zu der sie zuvor ein ambivalentes Verhältnis hatte (“[…] ich erinnere mich an genau ein Mal, dass sie sagte, dass sie mich liebt.”), offenbart sie sich schonungslos. Sie erspart der Tochter nichts, thematisiert auch Intimitäten, die man als Mutter der Tochter eigentlich auch ganz gerne mal verschweigt.

“Anfangs fragte ich mich oft, warum sie mir das alles erzählte. Warum musste ich das wissen? Warum sollte überhaupt irgendjemand so etwas über seine Mutter wissen? Aber je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr begriff ich, dass es vor allem diese Stellen waren, die , die man ihr nicht zutrauen wollte, die sie erzählen musste, die sie laut aussprechen musste, um sich zu vergewissern, dass sie sich die Frau, die all die Jahre nur in ihrem Gedächtnis weitergelebt hatte, nicht nur ausgedachte hatte.”

Sarah Stricker ist mit ihrem Debütroman “Fünf Kopeken” ein faszinierendes Stück Literatur gelungen, das mich auf mehreren Ebenen überzeugen konnte. Es ist vor allen Dingen die Erzählperspektive, die beeindruckt. Sarah Stricker entwirft ein auf den ersten Blick verschachteltes Panorama: Anna erzählt die Geschichte ihrer Mutter und deren Eltern, wobei die Mutter den ganzen Roman über namenlos bleibt. Die Namenlosigkeit der eigentlichen Hauptfigur ist ein kluger Schachzug und zeigt auf, wie sich die Mutter ein Leben lang selbst gesehen hat: erst als Tochter, dann als Mutter – ohne eigene Identität, eines Namens nicht wert. Gepresst in ein Leben, das einem Korsett ähnelt und in dem Gefühle wie das der Verliebtheit als ein Fehler im System angesehen werden. Darüber hinaus gelingt es dem Roman aber auch sprachlich zu überzeugen. Der Erzählton bewegt sich zwischen allen möglichen Humorfacetten: von witzig bis ironisch, häufig finden sich aber auch bissige Spitzen. Unter dieser humorvollen Oberfläche verbirgt sich jedoch auch ganz viel Traurigkeit.

“Dieselbe Angst, die meine Großmutter hatte, das Gewonnene zu verlieren, hatte meine Mutter davor, das Verlorene wiederzufinden. Angst, von Erinnerungen überrollt zu werden. Angst, jede Nachlässigkeit, jeder noch so kleine Fehler könne ihr schön sortiertes, Kante auf Kante gefaltetes Leben noch mal durcheinander bringen.”

“Fünf Kopeken” ist die bewegende Lebensgeschichte einer Frau, die Tochter und Mutter gewesen ist, aber viel zu selten sie selbst. Es ist eine Lebensgeschichte, die mit einer gehörigen Portion Humor erzählt wird, mit Ironie und einem feinem Witz. In ihr steckt jedoch gleichzeitig auch eine schwermütige Traurigkeit. Ich habe das Gefühl, einen großartigen Roman gelesen und eine tolle Autorin entdeckt zu haben!

 

Refugium – Claire Beyer

Claire-Beyer+RefugiumClaire Beyer scheint eine Vorliebe für den Buchstaben R zu haben, ihre letzten Veröffentlichungen tragen die Titel “Rauken”, “Rosenhain”, “Remis” und “Rohlinge”. In diesem Herbst erschien “Refugium”, der neueste Roman der Autorin, die 1947 im Bayrischen Allgäu geboren wurde. Neben ihrer Leidenschaft für Romane hat Claire Beyer nicht nur ein Musical verfasst, sondern veröffentlicht auch Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte.

Ein Leben bricht auseinander, zumindest scheinbar. Claudia Feldwehr erfährt, dass ihr Mann Robert, der als Betriebsingenieur arbeitet und in Lappland für eine deutsche Firma Autos testet, verschwunden ist. Er ist  zu einer außerplanmäßigen nächtlichen Testfahrt aufgebrochen und nie zurückgekehrt, auch das Auto bleibt verschwunden. Claudia, die in Deutschland lebt, während ihr Mann den Großteil des Jahres in Lappland verbringt, wird telefonisch über das Verschwinden ihres Mannes informiert. Trotz ihrer Flugangst, die sie bisher immer daran gehindert hatte, Robert in seinem provisorischen Zuhause zu besuchen, fliegt sie nach Lappland und macht sich im eiskalten schwedischen Winter auf die Suche nach ihrem Mann.

“Er war verschwunden, weil er es so gewollt hatte, weil er ihr gemeinsames Leben nicht mehr haben wollte.”

Claudia ist besorgt über das Verschwinden ihres Mannes, aber gleichzeitig auch seltsam unbewegt und kühl – ihre Gefühlslage beschreibt sie selbst als ein “Parforceritt zwischen Hoffen und Bangen”. Früh in der Geschichte deutet sich an, dass die Beziehung der beiden bereits viel früher auseinander gegangen ist – man hat sich entfernt voneinander und an den wenigen Wochenenden, die man miteinander verbracht hat, herrschte weniger Wiedersehensfreude, als der Versuch sich erst einmal wieder aneinander zu gewöhnen. Die gemeinsamen Kinder sind längst erwachsen, doch vor allem der älteste Sohn Magnus hat noch lange nicht Fuß gefasst im Leben. Er arbeitet als Broker bei einer internationalen Großbank und schmeißt mit Geld nur so um sich. Während Claudia in Lappland ist, hütet er das Haus, doch bereits früh merkt die Mutter, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt: er leiht sich Geld und den Nachbarn fällt auf, dass er am Nachmittag bereits nach Alkohol riecht.

“Das gelbe Haus war zu einem Refugium, zu einer Art Zauberberg geworden, wo die Sorge um Robert geteilt werden konnte.”

Der Begriff Refugium kommt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Zufluchtsort oder auch Unterschlupf. Einen solchen Ort findet Claudia in Lappland. Es ist das gelbe Haus von Brigitta, in dem sie für die Zeit ihres Aufenthalts nicht nur ein Zimmer bezieht, sondern einen geschützten Ort findet, wo sie endlich wieder zu sich selbst finden kann. Claudia und die wesentlich ältere Brigitta, die bereits vier kinderlose Ehen hinter sich hat, bauen eine tiefe und intensive Verbindung miteinander auf. Dort, in ihrem Refugium, wird Claudia zum ersten Mal klar, wie zerrüttet ihre Familie und ihre Ehe ist. Die Suche nach ihrem Mann läuft noch immer, aber sie rückt scheinbar zunehmend in den Hintergrund. Viel mehr geht es um die Erkenntnis, dass hier eine Ehe nicht erst durch das plötzliche Verschwinden des Mannes zerstört wurde, sondern das die gegenseitige Liebe bereits viel früher gestorben ist. Es ist eine schmerzhafte und traurige Erkenntnis für Claudia, es ist bestürzend für sie, die lappländische Wohnung ihres Mannes zu betreten und das Gefühl zu haben, den Menschen, der dort gewohnt hat, nicht zu kennen. Die Gegenstände die ihr etwas bedeutet haben und ihren Mann an sie und die Kinder erinnern sollten, waren in einem Schrank verstaut. Es ist die Wohnung eines Fremden, von dem sich Claudia so weit entfernt hat, dass ihr nicht einmal der Geruch in der Wohnung vertraut vorkommt.

“Wer kennt den anderen schon wirklich, dachte sie, und was bedeutet inneres Wesen? Das Streben, die Triebe, Wünsche und Sehnsüchte eines Menschen, oder seine Fehlbarkeit? Sein Wille, zu überleben? […] Über dreißig Jahre war sie mit Robert verheiratet, kannte ihn noch länger. Doch fast zwei Drittel dieser Zeit hatte er in Schweden gelebt.”

Die Schocknachricht über das Verschwinden ihres Mannes, der scheinbare Zusammenbruch, wird für Claudia plötzlich zu einem Befreiungsschlag und zu dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sie hat ihre Flugangst überwunden, ihr altes Leben zurückgelassen und sich zum ersten Mal seit Jahren von Verhältnissen befreit, in denen sie schon lange lebte und nie gemerkt hat, wie unglücklich sie eigentlich gewesen ist: “Ihre Familie hatte sich nicht entwickelt, sie hatte sich in ein hohles Gespinst verwandelt, dachte sie bitter”. Sie streift Verantwortung ab, löst die Fesseln einer Vergangenheit, die sie gebremst hat, ihr aber keine Freude mehr geschenkt hat. Claudia kehrt noch einmal kurz nach Deutschland zurück. Zurück in ein verwahrlostes Haus und zu einem alkoholkranken Sohn. Doch sie bleibt nicht lange, denn mit ihrer neu gewonnenen Kraft und Stärke gelingt es ihr, ihren Sohn zu konfrontieren.

“Die räumliche Distanz hatte einen tiefen Graben gerissen, ihre Solidarität war verebbt, und sie spürte keine Verantwortung mehr für ihr altes Leben. Vermutlich hatte es schon vor Roberts Verschwinden Anzeichen für diese Entfremdung gegeben, aber sie hatte sie nicht wahrnehmen wollen.”

Claire Beyer ist mit “Refugium” ein außergewöhnlicher Roman gelungen, der bezaubert und verstört. Die mystische und eiskalte schwedische Winterlandschaft gibt der Geschichte einen Hauch Magie. “Refugium” ist auch eine spannende Lektüre, wobei für mich weniger die Suche nach dem Verschwundenen im Vordergrund stand, als die Entdeckung der Hauptfigur ein eigenes Leben zu haben, das immer noch aus Träumen und Wünschen besteht. Claire Beyer ist ein sensibles Stück Literatur gelungen, ein feiner und leiser Roman, der irgendwo ganz tief in meiner Brust immer noch nachklingt.

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