Clemens Meyer wurde 1977 in Halle geboren und lebt heutzutage in Leipzig. Vor sieben Jahren debütierte der Autor mit seinem Roman “Als wir träumten”, 2008 erschien “Die Nacht, die Lichter. Stories”, “Gewalten. Ein Tagebuch” wurde 2010 veröffentlicht. Das Werk des Autors wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. In diesem Jahr steht Clemens Meyer mit seinem Roman “Im Stein” auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.
Dem neuen Roman von Clemens Meyer, “Im Stein”, müsste im Einband eigentlich eine Warnung aufgedruckt sein: “Ab 18”. Der Autor scheut sich nicht davor, eine explizite Sprache zu verwenden: Muschi, Pimmel, Fotze, Vagina, Scheide, Möse, Pussy, FO, FF, KB, AV, GV, OV, Französisch ohne, AV aktiv/AV passiv, SM, NS, KV – alles getreu dem Motto “Gebumst wird immer”.
“KV. NS. AV. Aktiv/Passiv. SM. EL. FO. KB. GB. HE. AD. FS. TS. H&H. (Eierlecken, Französisch ohne, Körperbesamung, Gesichtsbesamung, Handentspannung, Analdehnung, Facesitting, Transsexuell, Haus und Hotel.)”
Wozu die Deutlichkeit, kann man sich, beim Lesen des Romans, mitunter fragen. Möchte der Autor, der das Image eines bad boy pflegt, lediglich provozieren? Möchte er abschrecken oder auch erschrecken? Doch kann er mit dem, was er schreibt, überhaupt noch jemanden schockieren? Prostitution, ungewöhnliche Sexpraktiken, Huren, Bordelle, Hotlines … all das findet man doch mittlerweile auch zur besten Sendezeit im Fernsehen und im Internet sowieso. Dennoch wird in diesem Roman die Erwähnung von sexuellen Fachbegriffen und allen möglichen Abkürzungen beinahe überstrapaziert.
“Manchmal muss ich sie bearbeiten wie verrückt, dass mir fast der Arm abbricht, weil sie zu viel getrunken haben. Oder wenn ich sie ewig blasen muss, ich hab nunmal einen kleinen Mund, dann knackt das, wenn ich mir selbst die Wangen und die Kieferknochen massiere und meinen kleinen Mund öffne und schließe.”
Was hat dieser Roman, der knappe 570 Seiten umfasst, noch zu bieten, wenn man versucht, hinter die offensichtliche Oberfläche zu schauen? Clemens Meyer erzählt in einem fortwährenden Gedankenstrom. Es ist ein Bewusstseinsstrom, der klare Zuordnungspunkte vermissen lässt: wer erzählt? Was wird erzählt? Wo spielt die Erzählung? All diese Fragen bleiben häufig unbeantwortet. Einen roten Faden gibt es nicht, dafür viele einzelne Fäden, die brüchig und rissig sind – es kostet Mühe und Kraft, ihnen durch den Roman hindurch folgen zu können. Eine Inhaltsangabe ist dementsprechend nur schwer möglich, da es kaum einen zusammenhängenden Inhalt gibt, der sich nacherzählen lassen könnte. Das große Oberthema des Romans ist das Geschäft der Prostitution im Osten Deutschland. In vielen Interviews erwähnt Clemens Meyer seine umfangreiche Recherche, die er für den Roman betrieben hat. Mit der Recherche sind Begriffe assoziiert, wie Milieustudie und Feldforschung – all das findet sich hier in epischer Breite und der Leistung des Autors, 15 Jahre lang in diesem Milieu geforscht zu haben, gebührt sicherlich Respekt und Anerkennung, doch leider hat Clemens Meyer bei all der Recherche für seinen Roman vergessen, eine Geschichte zu entwickeln, die er erzählen möchte.
Meyer porträtiert die Größen des Milieus, schreibt über das Geschäft der Prostitution – er porträtiert Männer, die ihr Geld damit verdienen, dass sich Frauen prostituieren. Es sind Männer, die vor Gewalt nicht zurückschrecken und die sich selbst als harte Geschäftsmänner inszenieren; die aber gleichzeitig auch Weichheit und Verletzlichkeit ausstrahlen. Da gibt es den ehemaligen Jockey, der auf der verzweifelten Suche nach seiner Tochter ist, die auf den Strich geht. Es gibt Arnold Kraushaar und den Bielefelder. Clemens Meyer entfaltet ein Panorama der Stimmen, die ihre Geschichten erzählen – nicht alle dieser Stimmen konnten mich erreichen, es sind vor allem die männlichen Stimmen gewesen, die mich beim Lesen abgestoßen und befremdet haben.
“Bin ich auf der Anklagebank? nein. Wo ich bin? Wo ich bin. Wo. Ich. Manchmal wache ich nachts auf, und dann bin ich erschrocken über die Dunkelheit. Diese tiefe Dunkelheit, in der man nachts manchmal zu sich kommt. Dann berühre ich mich. Nein, nicht so, verdammt nochmal. Berühre mit den Fingerspitzen meinen Arm, drücke mit den Fingerspitzen in die Haut, damit ich spüre, dass ich noch da bin.”
Berührt haben mich die Passagen, die aus der Sicht der Sexarbeiterinnen erzählt werden. Clemens Meyer inszeniert diese Abschnitte beinahe schon als soziologische Interviews und findet eingängige Stimmen und Worte, um die Sichtweisen und Erlebnisse der Frauen, zum Ausdruck zu bringen. Die Frauen sprechen in ihrer eigenen Sprache, schonungslos ehrlich und offen, ohne etwas darstellen zu wollen, das sie nicht sind. Es ist eine einfache Sprache, die deshalb aber nicht minder berührend und bewegend ist. Clemens Meyer schildert das Schicksal von Frauen, die plötzlich in der Branche Prostitution landen. Was diese Frauen auszeichnet ist der Glaube daran, dass ihre Entscheidung einen vorübergehenden Charakter hat: alle Prostituierten träumen von dem Leben danach, in dem sie Kinder haben werden und vielleicht noch einmal studieren können. Gleichzeitig sind sie darum bemüht, dem, was sie tun, dem Anstrich von Normalität zu geben; Prostitution ist eine Arbeit, in ein Bordell zu gehen, ist, als würde man in eine Firma gehen. Es ist kein Zufall, dass der Kampf der Prostituierten dafür, ihre Arbeit als Arbeit anerkennen zu lassen, eine wichtige Rolle spielt im Roman. Trotz unserer modernen Gesellschaft, bewegen sich Frauen, die ihr Geld als Prostituierte verdienen, häufig im Abseits der Gesellschaft.
“Ein Strom aus Licht, ein Strom aus Stimmen, Gesichter, Frauen, silbernes Lächeln, Haare aus Kupfer, Drähte, Leitplatten, Straßen ….”
Der Titel des Romans ist kryptisch: der Begriff Stein ist eine Art Leitmotiv des Romans und wird beinahe schon entnervend oft wiederholt. Zum einen bezieht sich der Begriff, auf die Stadt, in der der Roman spielt. An anderer Stelle wird er gleichgesetzt mit dem Gefängnis, einem Ort, der von steinernen Mauern umgeben ist. Mit dem Begriff möchte Clemens Meyer auch auf das steinerne Herz anspielen – ein Herz aus Stein, vielleicht braucht man genau dies, um in dieser Branche überhaupt arbeiten zu können? Vielleicht müssen die Frauen ihr eigenes Herz zu Stein verhärten, um das, was sie tun müssen, überhaupt aushalten und ertragen zu können?
Ist das nun gute Literatur? Steht der Roman zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis? Clemens Meyer hat mit “Im Stein” einen Roman vorgelegt, dessen Lektüre Ausdauer und Kraft kostet – jedoch ohne die Aussicht, dass man als Leser am Ende für diese Anstrengung belohnt wird. Ist eine solche Belohnung notwendig? Muss man als Leser immer auch unterhalten werden?”Im Stein” ist keine einfache Literatur, es ist keine Literatur, die darauf angelegt ist, verstanden werden zu können. Ich frage mich, welcher normale Leser, wirklich die Mühe auf sich nimmt, sich durch die 570 Seiten zu wühlen? Es sind 570 Seiten, deren Lektüre sich anfühlt, als würde man durch einen zähen Schlamm waten.
Clemens Meyer überzeugt in diesem Roman als Sprachkünstler, dem es gelingt, auf hohem Niveau in unterschiedlichen Stimmen zu sprechen, sich in Milieus hineinzufühlen und daraus eine Sprache zu entwickeln. Es ist vor allem die Sprache der Frauen, die bewegt und berührt und die eine unheimliche Kraft entfaltet. Sichtbar wird auch die intensive und mühevolle Recherche, die der Autor für diesen Roman betrieben hat. Beides alleine reicht jedoch nicht aus, um aus Stückwerk, einen guten und lesbaren Roman zu machen. Clemens Meyer hat viel gewollt, sich dabei jedoch leider verzettelt.