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Deutschsprachige Literatur

Im Stein – Clemens Meyer

Clemens Meyer wurde 1977 in Halle geboren und lebt heutzutage in Leipzig. Vor sieben Jahren debütierte der Autor mit seinem Roman “Als wir träumten”, 2008 erschien “Die Nacht, die Lichter. Stories”, “Gewalten. Ein Tagebuch” wurde 2010 veröffentlicht. Das Werk des Autors wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. In diesem Jahr steht Clemens Meyer mit seinem Roman “Im Stein” auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.

Dem neuen Roman von Clemens Meyer, “Im Stein”, müsste im Einband eigentlich eine Warnung aufgedruckt sein: “Ab 18”. Der Autor scheut sich nicht davor, eine explizite Sprache zu verwenden: Muschi, Pimmel, Fotze, Vagina, Scheide, Möse, Pussy, FO, FF, KB, AV, GV, OV, Französisch ohne, AV aktiv/AV passiv, SM, NS, KV – alles getreu dem Motto “Gebumst wird immer”.

“KV. NS. AV. Aktiv/Passiv. SM. EL. FO. KB. GB. HE. AD. FS. TS. H&H. (Eierlecken, Französisch ohne, Körperbesamung, Gesichtsbesamung, Handentspannung, Analdehnung, Facesitting, Transsexuell, Haus und Hotel.)”

Wozu die Deutlichkeit, kann man sich, beim Lesen des Romans, mitunter fragen. Möchte der Autor, der das Image eines bad boy pflegt, lediglich provozieren? Möchte er abschrecken oder auch erschrecken? Doch kann er mit dem, was er schreibt, überhaupt noch jemanden schockieren? Prostitution, ungewöhnliche Sexpraktiken, Huren, Bordelle, Hotlines … all das findet man doch mittlerweile auch zur besten Sendezeit im Fernsehen und im Internet sowieso. Dennoch wird in diesem Roman die Erwähnung von sexuellen Fachbegriffen und allen möglichen Abkürzungen beinahe überstrapaziert.

Manchmal muss ich sie bearbeiten wie verrückt, dass mir fast der Arm abbricht, weil sie zu viel getrunken haben. Oder wenn ich sie ewig blasen muss, ich hab nunmal einen kleinen Mund, dann knackt das, wenn ich mir selbst die Wangen und die Kieferknochen massiere und meinen kleinen Mund öffne und schließe.”

Was hat dieser Roman, der knappe 570 Seiten umfasst, noch zu bieten, wenn man versucht, hinter die offensichtliche Oberfläche zu schauen? Clemens Meyer erzählt in einem fortwährenden Gedankenstrom. Es ist ein Bewusstseinsstrom, der klare Zuordnungspunkte vermissen lässt: wer erzählt? Was wird erzählt? Wo spielt die Erzählung? All diese Fragen bleiben häufig unbeantwortet. Einen roten Faden gibt es nicht, dafür viele einzelne Fäden, die brüchig und rissig sind – es kostet Mühe und Kraft, ihnen durch den Roman hindurch folgen zu können. Eine Inhaltsangabe ist dementsprechend nur schwer möglich, da es kaum einen zusammenhängenden Inhalt gibt, der sich nacherzählen lassen könnte. Das große Oberthema des Romans ist das Geschäft der Prostitution im Osten Deutschland. In vielen Interviews erwähnt Clemens Meyer seine umfangreiche Recherche, die er für den Roman betrieben hat. Mit der Recherche sind Begriffe assoziiert, wie Milieustudie und Feldforschung – all das findet sich hier in epischer Breite und der Leistung des Autors, 15 Jahre lang in diesem Milieu geforscht zu haben, gebührt sicherlich Respekt und Anerkennung, doch leider hat Clemens Meyer bei all der Recherche für seinen Roman vergessen, eine Geschichte zu entwickeln, die er erzählen möchte.

Meyer porträtiert die Größen des Milieus, schreibt über das Geschäft der Prostitution – er porträtiert Männer, die ihr Geld damit verdienen, dass sich Frauen prostituieren. Es sind Männer, die vor Gewalt nicht zurückschrecken und die sich selbst als harte Geschäftsmänner inszenieren; die aber gleichzeitig auch Weichheit und Verletzlichkeit ausstrahlen. Da gibt es den ehemaligen Jockey, der auf der verzweifelten Suche nach seiner Tochter ist, die auf den Strich geht. Es gibt Arnold Kraushaar und den Bielefelder. Clemens Meyer entfaltet ein Panorama der Stimmen, die ihre Geschichten erzählen – nicht alle dieser Stimmen konnten mich erreichen, es sind vor allem die männlichen Stimmen gewesen, die mich beim Lesen abgestoßen und befremdet haben.

“Bin ich auf der Anklagebank? nein. Wo ich bin? Wo ich bin. Wo. Ich. Manchmal wache ich nachts auf, und dann bin ich erschrocken über die Dunkelheit. Diese tiefe Dunkelheit, in der man nachts manchmal zu sich kommt. Dann berühre ich mich. Nein, nicht so, verdammt nochmal. Berühre mit den Fingerspitzen meinen Arm, drücke mit den Fingerspitzen in die Haut, damit ich spüre, dass ich noch da bin.”

Berührt haben mich die Passagen, die aus der Sicht der Sexarbeiterinnen erzählt werden. Clemens Meyer inszeniert diese Abschnitte beinahe schon als soziologische Interviews und findet eingängige Stimmen und Worte, um die Sichtweisen und Erlebnisse der Frauen, zum Ausdruck zu bringen. Die Frauen sprechen in ihrer eigenen Sprache, schonungslos ehrlich und offen, ohne etwas darstellen zu wollen, das sie nicht sind. Es ist eine einfache Sprache, die deshalb aber nicht minder berührend und bewegend ist. Clemens Meyer schildert das Schicksal von Frauen, die plötzlich in der Branche Prostitution landen. Was diese Frauen auszeichnet ist der Glaube daran, dass ihre Entscheidung einen vorübergehenden Charakter hat: alle Prostituierten träumen von dem Leben danach, in dem sie Kinder haben werden und vielleicht noch einmal studieren können. Gleichzeitig sind sie darum bemüht, dem, was sie tun, dem Anstrich von Normalität zu geben; Prostitution ist eine Arbeit, in ein Bordell zu gehen, ist, als würde man in eine Firma gehen. Es ist kein Zufall, dass der Kampf der Prostituierten dafür, ihre Arbeit als Arbeit anerkennen zu lassen, eine wichtige Rolle spielt im Roman. Trotz unserer modernen Gesellschaft, bewegen sich Frauen, die ihr Geld als Prostituierte verdienen, häufig im Abseits der Gesellschaft.

“Ein Strom aus Licht, ein Strom aus Stimmen, Gesichter, Frauen, silbernes Lächeln, Haare aus Kupfer, Drähte, Leitplatten, Straßen ….”

Der Titel des Romans ist kryptisch: der Begriff Stein ist eine Art Leitmotiv des Romans und wird beinahe schon entnervend oft wiederholt. Zum einen bezieht sich der Begriff, auf die Stadt, in der der Roman spielt. An anderer Stelle wird er gleichgesetzt mit dem Gefängnis, einem Ort, der von steinernen Mauern umgeben ist. Mit dem Begriff möchte Clemens Meyer auch auf das steinerne Herz anspielen – ein Herz aus Stein, vielleicht braucht man genau dies, um in dieser Branche überhaupt arbeiten zu können? Vielleicht müssen die Frauen ihr eigenes Herz zu Stein verhärten, um das, was sie tun müssen, überhaupt aushalten und ertragen zu können?

Ist das nun gute Literatur? Steht der Roman zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis? Clemens Meyer hat mit “Im Stein” einen Roman vorgelegt, dessen Lektüre Ausdauer und Kraft kostet – jedoch ohne die Aussicht, dass man als Leser am Ende für diese Anstrengung belohnt wird. Ist eine solche Belohnung notwendig? Muss man als Leser immer auch unterhalten werden?”Im Stein” ist keine einfache Literatur, es ist keine Literatur, die darauf angelegt ist, verstanden werden zu können. Ich frage mich, welcher normale Leser, wirklich die Mühe auf sich nimmt, sich durch die 570 Seiten zu wühlen? Es sind 570 Seiten, deren Lektüre sich anfühlt, als würde man durch einen zähen Schlamm waten.

Clemens Meyer überzeugt in diesem Roman als Sprachkünstler, dem es gelingt, auf hohem Niveau in unterschiedlichen Stimmen zu sprechen, sich in Milieus hineinzufühlen und daraus eine Sprache zu entwickeln. Es ist vor allem die Sprache der Frauen, die bewegt und berührt und die eine unheimliche Kraft entfaltet. Sichtbar wird auch die intensive und mühevolle Recherche, die der Autor für diesen Roman betrieben hat. Beides alleine reicht jedoch nicht aus, um aus Stückwerk, einen guten und lesbaren Roman zu machen. Clemens Meyer hat viel gewollt, sich dabei jedoch leider verzettelt.

Jage zwei Tiger – Helene Hegemann

Helene Hegemann, die 1992 in Freiburg geboren wurde und heutzutage in Berlin lebt, galt als literarisches Wunderkind. Bereits 2008 erschien ihr erster Film “Torpedo”, der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. Zwei Jahre später debütierte sie mit ihrem Roman “Axolotl Roadkill”, für den sie zunächst gefeiert wurde, der jedoch später zu einem Skandal in Literaturkreisen mutierte, als herauskam, dass Helene Hegemann einige Passagen ihres Roman abgeschrieben hatte. “Axolotl Roadkill” wurde in 20 Sprachen übersetzt und feierte in der ausländischen Literaturwelt große Erfolge, während die junge Autorin hierzulande förmlich in der Luft zerrissen wurde. Drei Jahre später erschien im diesjährigen Herbstprogramm “Jage zwei Tiger”, ihr zweiter Roman.

“Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist, und das ganze psychotische und zerstörte Material verwaltet sich dahingehend selbst, dass jede einzelne Zelle danach schreit, am Leben zu bleiben.”

Kai ist 11 Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Es ist ein Unfall, der sie aus dem Leben reißt, ein Stein, der von einer Autobahnbrücke geworfen wird. Kai überlebt schwer verletzt. Er ist nicht nur geschockt über das Erlebte, nein, gleichzeitig wird bei ihm eine Form des Reifeprozesses im Schnelldurchlauf los getreten. Statt sich von den Ersthelfern versorgen zu lassen, flieht der verstörte Junge in den Wald und trifft während dieser Flucht auf Samantha. Samantha gehört zu einer Zirkusfamilie und vom ersten Augenblick an, ist es um Kai geschehen: er verliebt sich in das junge Mädchen. Beide teilen ein ähnliches Schicksal: sie sind Amputierte, denen etwas abhanden gekommen ist, die nicht mehr vollständig sind. Kai fehlt die Mutter, Samantha der Unterarm. Doch Samantha verbirgt auch ein dunkles Geheimnis, denn sie ist nicht unschuldig gewesen am Unfall von Kais Mutter.

“Schlagartig wurde eine esoterische Mega-Ebene zu seinem Bewusstsein dazuaddiert, er alterte in dem Moment des Feststellung seines bedeutenden Verlusts um fünf Jahre, beschloss in seinem neu gewohnten Reflexionsvermögen, sich von nun an nur noch auf sich selbst zu konzentrieren und deshalb als einzigen Schritt der Selbstverteidigung cool zu bleiben.”

Cecile ist 17. Sie nimmt nicht nur Drogen, sondern versucht alles, um sich selbst zu zerstören. Sie macht die schmerzhafte Erfahrung, dass die Tatsache, in eine Familie hineingeboren zu werden, nicht gleichbedeutend damit ist, von seinen Eltern geliebt zu werden. Statt in einem liebenden Elternhaus zu leben, stürzt sie sich in das Nachtleben hinein und zieht schließlich bei ihrem wesentlich älteren Freund ein. Der hat gerade alle Hände voll mit seinem Sohn zu tun, der nach dem Tod seiner Mutter bei ihm aufwächst. Kai ist mittlerweile 13 und vieles hat sich bei ihm verändert, nur eines nicht: Samantha liebt er immer noch.

„An ihrem dreizehnten Geburtstag beschloss sie dann, logischerweise, schnellstmöglich erwachsen zu werden, woraufhin innerhalb weniger Wochen bedeutsame seelische Umstellungen erfolgten.“

Gemeinsam mit Cecile macht Kai sich auf, um Samantha zu finden – vordergründig ist es die Suche nach seiner großen Liebe, doch dahinter liegt auch der Wunsch danach Sicherheit, Geborgenheit und ein Stück der eigenen Identität finden zu können. Denn wie soll man heutzutage, in der Welt in der wir leben, erwachsen werden können, ohne Schaden zu nehmen? Wie soll man wissen, wer man werden möchte, wenn einem der Glauben an eine Zukunft fehlt? Der Welt, in der Kai und Cecil aufwachsen, fehlt das Fundament. Sie ist brüchig und das, was ihnen ihre Eltern vorleben, macht diese Welt nicht unbedingt tragfähiger. Wie soll man in dieser Welt, in der so vieles Schein und Fassade ist, herausfinden können, was echt ist?

„Es ist an dieser Stelle fast unnötig zu erwähnen, dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört, aber sehr sympathisch ist. Und ja, scheiße, apropos Roman.“

All das sind Fragen, mit denen sich Helene Hegemann in ihrem Roman “Jage zwei Tiger” beschäftigt. Die Geschichte, in dessen Mittelpunkt Kai und Cecile stehen, erscheint dabei lediglich als Hintergrundfolie, auf der die Autorin ihre Gedanken in alle Richtungen ausbreiten kann. Die Reise, auf die sie dabei ihre Leser mitnimmt, ist rasant und intensiv, an vielen Stellen aber leider auch wirr und hektisch. “Jage zwei Tiger” fehlt es an Stabilität, Fundament und Klarheit. Wohlwollend kann dies als literarischer Kunstgriff bezeichnet werden. Die Stabilität, die Kai und Cecile fehlt, wird auch in der Form des Romans gespiegelt.

Nach „Axolotl Roadkill“ erweist sich Helene Hegemann auch in ihrem zweiten Roman als eine sicherlich talentierte Erzählerin, die einen Roman mit vielen guten Ansätzen vorlegt, der es jedoch noch nicht gelingt, über 300 Seiten hinweg die Fäden der Erzählung in der Hand zu behalten. Stellenweise verliert sich die Erzählung in einem Geplapper, bei dem einem das Gefühl überkommt, der Autorin zuzuhören, die sich und ihre Gedanken plötzlich in den Vordergrund drängt und über die eigentliche Geschichte legt. Humor beweist Helene Hegemann durch die Erwähnung des Berghain, die Diskothek, die im Zentrum der literarischen Debatte um ihren letzten Roman stand.

“[…] es ging um die Auflösung von Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich und Alt und Jung und Gut und Böse. Es ging um Madonna und alle, die sich ebenfalls von vorgegebenen Strukturen befreien mussten und in dieser Freiheit jetzt auf der Suche nach Liebe und Identität jenseits der biologischen Festlegung, nach Vertrauen und Geborgenheit jenseits restriktiver Moralvorstellungen waren.”

Helene Hegemann ist kein großartiger Roman gelungen und wir haben es auch keinesfalls mit einem literarischen Wunderkind zu tun. Auf der anderen Seite, ist “Jage zwei Tiger” auch kein Buch, das in der Luft zerrissen werden müsste. Helene Hegemann leidet unter dem Schicksal, zu polarisieren – doch für mein Empfinden treffen hier keine der beiden Extreme zu. Für mich ist “Jage zwei Tiger” ein guter Roman, dem es gelingt, unsere – wenn es denn so etwas überhaupt gibt – junge Generation zu porträtieren. Es ist eine Generation, die sich auf der Suche befindet. Eine Generation, die sich ungeliebt und ungewollt fühlt, ohne eine Perspektive für die eigene Zukunft zu besitzen. Eine Generation, die vor lauter Langeweile Steine auf die Autobahn wirft und Menschenleben zerstört. “Jage zwei Tiger” ist ein lesenswerter, wenn gleich auch experimenteller Roman, dessen Schwächen man nicht verschweigen sollte – ich kann die Lektüre dennoch empfehlen.

Die Lieben meiner Mutter – Peter Schneider

Peter Schneider wurde 1940 in Freiburg geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie wurde er zunächst zum politischen Redenschreiber und einem der Wortführer in der 68er-Bewegung. Später schrieb er Erzählungen, Romane, Drehbücher, Reportagen und Essays. Bekannt wurde der Autor, der heutzutage in Berlin lebt, vor allem durch seinen Roman “Lenz”. “Die Lieben meiner Mutter” erschien im diesjährigen Bücherfrühjahr und wurde im Rahmen des Deutschen Buchpreis bedauerlicherweise sträflich übersehen.

“Auf den Fotos, den schwarz-weißen mit dem gezackten Rand, ist meine Mutter fast nicht zu erkennen. Jedenfalls nicht die Mutter, die ich in Erinnerung habe – eine sanfte und beschützende, manchmal tieftraurige, dann wieder unbeherrschte Urgewalt.”

Jahrelang hat Peter Schneider einen Schuhkarton gehütet, gefüllt mit Briefen seiner Mutter. Einen Karton voller Erinnerungen und Zeugnissen der damaligen Zeit, geschrieben in einer schwer lesbaren Sütterlinschrift. Für Peter Schneider waren sie unlesbar, nie hat er ihnen seine Zeit oder seine Aufmerksamkeit gewidmet. Warum? Das wird nicht ganz klar. Vielleicht wollte sich der Autor schützen, vor dem fremden Leben seiner Mutter, was er in diesem Karton zu finden glaubte. Erst nach der Trennung seiner Frau findet Peter Schneider die Kraft und Motivation dazu, sich mit der Vergangenheit seiner Mutter zu beschäftigen, möglicherweise in dem Versuch, auf diesem Weg auch zu sich selbst zu finden. Er entscheidet sich, die Briefe seiner Mutter transkribieren zu lassen, die hinterlassenen Schriftstücke offenbaren dem Sohn eine unglaubliche Geschichte eines ganz ungewöhnlichen Lebens.

“‘Don’t look back!’ Erfinde dich selbst, entferne dich von allen Bindungen, die du nicht selbst gewählt hast, besonders aber von dem Teil der Vergangenheit, den du nicht bestimmen konntest – von deiner Kindheit.”

In den Briefen wird das Leben einer jungen Frau und Mutter während des Krieges, aber auch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, geschildert. Die Mutter von Peter Schneider ist eine tiefsinnige Frau, romantisch veranlagt und liebesbedürftig – all dies kann ihr ihr Mann und der Vater ihrer vier Kinder nicht geben. Seine Arbeit und der Krieg treiben ihn aus dem Haus, er ist häufiger abwesend, als bei seiner Frau und seinen Kindern. Geborgenheit und Anerkennung findet die Mutter bei einem seiner Kollegen. Im autobiographischen Roman von Peter Schneider erhält der Opernregisseur den Namen “Andreas”, doch ich gehe davon aus, dass dies nicht sein richtiger Name gewesen ist. Es ist Andreas, der die Rolle des Ritters und Retters einnimmt, mehr unfreiwillig, als gewollt, nimmt er in den Augen der Mutter die Gestalt eines Heilsbringers an und sie überschüttet ihn mit ihrer Zärtlichkeit, aber auch mit ihren Erwartungen und ihren Ansprüchen. Ihre von tiefen Gefühlen geprägten Briefe, die beinahe schon schmerzhaft zu lesen sind, stoßen bei Andreas auf eine Gegenwehr. Er fühlt sich geschmeichelt, aber auch überfordert von dem, was von ihm erwartet wird. Der Opernregisseur ist ein Frauenheld, aber kein feingeistiger Romantiker.

Das, was die Mutter damals gelebt hat, würde man heutzutage wohl als eine Dreiecksbeziehung bezeichnen – eine Dreiecksbeziehung, die von Peter Schneiders Vater scheinbar bewusst toleriert wurde. Diese Toleranz empfindet Peter Schneider als offenes Rätsel, auf das er keine Antwort finden kann. Fühlt der Vater sich schuldig, da er nicht da ist und seiner Frau nicht das bieten kann, was sie so dringend braucht? Ist die Toleranz dieser Affäre gegenüber ein Schuldeingeständnis dafür, dass er seine Frau in schwierigen Zeiten mit den gemeinsamen vier Kindern alleine lässt?

“Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon.”

Peter Schneider hat von alldem nichts mitbekommen, er war damals noch ein kleines Kind – von dieser seltsamen Dreiecksbeziehung, in der seine Eltern gelebt haben, erfährt er erst durch die Briefe. Die Suche, die er in der Hoffnung begonnen hatte, Antworten zu finden, wirft stattdessen noch mehr und ganz neue Fragen auf. Fragen, mit deren Beantwortung er alleine gelassen wird, denn seine Eltern leben nicht mehr. Die eigenen Erinnerungen des Autors an seine Kindheit sind von einer ganz anderen Person geprägt, von dem Nachbarjungen Willi, dem es gelingt, so viel Einfluss auf Peter Schneider und dessen Schwester auszuüben, dass er einen Keil zwischen die Mutter und ihre Kinder treibt. Kurz vor ihrem Tod, sind Sohn und Mutter voneinander entfremdet – die Erinnerungen, die Peter Schneider an diese Zeit hat, sind geprägt von der Verzweiflung seiner Mutter darüber, die Kontrolle über ihre Kinder zu verlieren. Es ist beinahe schon eine psychische Abhängigkeit, in die sich Peter Schneider, diesem vermeintlichen Freund gegenüber, begibt. Eine Abhängigkeit, bei der der Erzengel Michael eine zentrale Rolle spielt …

“Die Ahnung, ich würde aus diesen Briefen etwas über mich und ein Verhängnis erfahren, das mein Leben stärker bestimmt hatte, als ich hatte wahrhaben wollen. Der Wunsch, Frieden mit der Mutter zu machen. Oder war es nicht eher die Mutter, die Frieden mit mir machen sollte? Ich hatte sie zum letzten Mal gesehen, als ich acht Jahre alt war.”

Anhand der Briefe seiner Mutter und den eigenen Erinnerungen an die damalige Zeit, rekonstruiert Peter Schneider das Bild seiner Kindheit, das erst jetzt – mit über siebzig Jahren – vollständig für ihn geworden ist. “Die Lieben meiner Mutter” ist allem voran ein ganz persönliches Zeugnis eines Mannes, der bereits als Kind eine Mutter verloren hat, die an der Last ihres Lebens zerbrochen ist. Es ist das Zeugnis einer Recherche zurück in die Vergangenheit und ein Hinweis darauf, dass es, auch wenn wir glauben Menschen zu kennen, immer Bereiche gibt, die im Dunkeln bleiben. Daneben ist das Buch aber auch ein Denkmal für die eigene Mutter, die sich und ihre Karriere als Schriftstellerin für ihren Mann und die vier Kinder aufgegeben hat. Was hätte aus der Frau werden können, wenn sie sich nicht dafür entschieden hätte, sich in das Korsett der Hausfrau und Mutter pressen zu lassen? Doch hatte sie zu der damaligen Zeit überhaupt eine Wahl? All dies sind Fragen, die bei der Lektüre von “Die Lieben meiner Mutter” mitschwingen und die mich auch lange nach dem Zuklappen des Buchdeckels noch beschäftigt haben.

Peter Schneider porträtiert in “Die Lieben meiner Mutter” nicht nur das ungewöhnliche Leben seiner Mutter, sondern auch eine höchst leidenschaftliche und mutige Frau. Es ist ein Buch der Mutter, die als faszinierende Persönlichkeit geschildert wird, aber auch ein Buch des Sohnes, der sich für dieses Stück Literatur auf eine unfassbar emotionale Recherche begeben hat. “Die Lieben meiner Mutter” ist ein berührendes und lesenswertes Buch über die Leidenschaft, die Liebe und so vieles mehr. Eine unbedingte Leseempfehlung!

Die Ordnung der Sterne über Como – Monika Zeiner

Monika Zeiner wurde 1971 geboren und hat Romanistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Neapel studiert. Ihr Studium schloss sie mit einer Promotion zum Thema Liebesmelancholie im Mittelalter ab. Sie hat bereits mehrere Hörspiele veröffentlicht und ist auch schon beim Open Mike aufgetreten – für ihre Arbeit an “Die Ordnung der Sterne über Como” erhielt sie ein Jürgen-Pronto-Werkstatt-Stipendium. Monika Zeiner, die heutzutage in Berlin lebt, ist nicht nur Autorin, sondern auch noch Sängerin und Texterin der Band mariafon.

“Freundschaft, dachte er, und er äußerte es einmal Marc gegenüber, ganz im allgemeinen, philosophischen Sinn, hält länger frisch als die Liebe. Freundschaft hat kein Verfallsdatum, muss nicht mit irgendwelchen Taschenspielertricks am Leben gehalten werden, Freundschaft stirbt nicht in der Zeit, sondern im Gegenteil, sie wächst noch darin.”

In “Die Ordnung der Sterne über Como” erzählt Monika Zeiner die Geschichte von zwei jungen Musikern aus Berlin. Tom Holler und Marc Baldur, die sich durch Zufall an der Musikhochschule in Berlin kennen gelernt haben, pflegen eine intensive Männerfreundschaft. Tom Holler stammt aus einem spießigen Elternhaus, mit Eltern die eher rückwärts gewandt gelebt haben, statt einen Blick in die moderne Zukunft zu werfen. Der Lebensmittelpunkt für Tom ist sein Klavier und die Musik, vor allem die Musik und alles, was mit Tönen verbunden ist. Auch Marc Baldur ist Musiker und gibt dem zaudernden Tom endlich wieder frische Lebensenergie und neuen Mut. Beide verbringen viel Zeit zusammen, rauchen, trinken, musizieren – sie stehen sich nahe und sind eng miteinander verbunden. So verbunden, wie man nur sein kann. Doch dann betritt eine Frau die Bildfläche … Betty Morgenthal wird zu Toms bester Freundin und zu Marcs Affäre. Wie lange kann das gut gehen? Wie viel Liebe hält eine Freundschaft aus? Es kommt, wie es kommen muss und die Ménage á Trois endet tragisch.

“Und das war es im Wesentlichen mit biographischen Eckdaten: Geburt, Klavier, Schule, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder (noch nicht eingetreten), Tod (noch nicht eingetreten). Alle Begebenheiten, die im Nachhinein hätten als Entscheidung deklariert werden können, waren im Grunde Zufälle oder Notlösungen gewesen, um nicht zu verzweifeln, um nicht zu sterben, um nicht in Hessen bleiben zu müssen. Die wichtigsten Dinge aber, dachte er, sie kommen nicht in Biographien vor, sie hängen zwischen den Zeilen.”

Die Geschichte, die Monika Zeiner erzählt, wirkt auf den ersten Blick wie eine klassische Dreiecksbeziehung. Eine klassische Geschichte über Liebe, Freundschaft, Eifersucht, unterdrückte Wünsche und die Frage, wie viel man bereit ist zu ertragen und zu verzeihen. Doch wirft man einen Blick hinter diese klassische Erzählstruktur, verbirgt sich dort eine Menge mehr: bedingt wird dies  dadurch, dass Monika Zeiner ihren Roman in der Rückschau und aus unterschiedlichen und ungewöhnlichen Perspektiven erzählt. Tom, ist mittlerweile nicht mehr jung, sondern ein gealterter Musiker, der, von seiner Frau Hedda verlassen, vor einem Glas mit Tabletten sitzt, ohne es fertig zu bringen, sie auch hinunterzuschlucken. In diesem Moment hört er, wie Betty eine Nachricht auf seinen Anrufbeantworter spricht – zwischen der Gegenwart und ihrer letzten Begegnung liegen Jahre und über das, was geschehen ist, ist bereits ein meterdickes und tonnenschweres Schweigen gewachsen. Betty und Tom haben ihre Leben weitergelebt, getrennt voneinander, jeder für sich.

“Betty, die du einmal gekannt hast, an die du dich eventuell nicht mehr erinnern kannst, Betty, die folgenden Nachnamen trägt, als wüsste sie nicht, dass dieser Name mit winzigen Buchstaben in die Zwischenzeilen deines Lebenslaufs graviert war. Betty, an deren Augen du eben gedacht hast.”

Aus der Perspektive von Tom, aber auch aus der Perspektive von Betty, wird in Rückblenden die ganze Geschichte erzählt, während Tom sich mit seiner Band auf den Weg zu einer Konzerttournee quer durch Italien macht, bei der er auch auf Betty treffen wird. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, es ist eine Suche nach Spuren und ein Weg zurück zu den damaligen Ereignissen und zu den Gründen, die dazu geführt haben, dass eine scheinbar unzerstörbare Freundschaft auseinander brechen musste. Mit dieser Reise in die  Vergangenheit verbunden, ist die Frage, ob man durch Einsicht und Erkennen das Recht erlangt, noch einmal von vorne zu beginnen. Gibt es so etwas, wie eine zweite Chance im Leben oder lassen sich manche Entscheidungen, die man einmal getroffen hat, nicht mehr revidieren?

“Berlin heute, nicht 1995. Aber was genau, denkt er, sind Jahreszahlen, woraus sind sie gemacht? Er wüsste nicht, dass sich diese rund zwölf, dreizehn Jahre irgendwo befänden, dass er auf sie deuten und sie wie verstaubte Bücher aus einem Regal herausziehen und auf einem Bibliothekstisch ausbreiten könnte.”

“Die Ordnung der Sterne über Como” überzeugt vor allen Dingen durch eine wunderbar poetische Sprache, die eine philosophische Tiefe und Dichte erzeugt, wie ich sie selten zuvor erlebt habe. Gleichzeitig ist es aber auch dieser sprachliche Anspruch, die manchmal endlos anmutenden Sätze, die stellenweise erschlagenden philosophischen Auswüchse, die detaillierte Vertiefung in musikalische Kompositionen und die endlosen Brüche der Perspektive, durch die Gedanken immer wieder neu betrachtet werden, mit denen ich mich schwer getan habe. Man muss sich in die Sprache von Monika Zeiner hineinarbeiten und eingraben, um sie genießen zu können.

Monika Zeiner legt mit “Die Ordnung der Sterne über Como” einen ambitionierten und sehr klugen Roman vor. Es ist ein Roman, der auf den ersten Blick Leichtigkeit verspricht, der jedoch – bei genauerem Hinsehen – eine Vielzahl an gewichtigen und großen Themen behandelt. Es geht um Liebe und den Tod und es geht um Schuld und die Frage, ob einem vergeben werden kann, wenn man sich schuldig gemacht hat. All diese Themen hat die Autorin zu einem großangelegten Roman komponiert, einem Roman der so stimm- und bildgewaltig ist, wie ein ganzes Orchester und dabei nur ab und an aus dem Takt gerät.

Das größere Wunder – Thomas Glavinic

Thomas Glavinic, der 1972 in Graz geboren wurde, feierte 1998 sein Debüt als Schriftsteller. Es folgten eine Vielzahl an weiteren Romanen, unter anderem “Die Arbeit der Nacht”, “Das bin doch ich” und “Das Leben der Wünsche”. Seine Veröffentlichungen wurden bereits vielfach ausgezeichnet, “Wie man leben soll” und “Der Kameramörder” wurden sogar für das Kino verfilmt. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung “Das größere Wunder” stand Thomas Glavinic – nicht zum ersten Mal – auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises.

“Das Gestern stand vor klar vor ihm, das Soeben schwand, zerfloss, ungreifbar und verbraucht.”

In “Das größere Wunder” erzählt Thomas Glavinic die Geschichte des seltsamen und verschrobenen, aber auch sehr intelligenten Jonas. Jonas wächst mit seinem behindertem Zwillingsbruder Mike bei einer alkoholkranken Mutter auf. Einen Vater gibt es nicht mehr, dafür aber wechselnde Freunde, die vor Gewalt nicht zurückschrecken. Als eines Nachts eine Auseinandersetzung so eskaliert, dass Jonas in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss, entscheidet sich Picco, der Großvater von Jonas’ bestem Freund Werner, den Jungen bei sich aufzunehmen. Picco, der in einem herrschaftlichen Anwesen in der österreichischen Provinz residiert, zieht in den folgenden Jahren nicht nur seinen Enkel Werner, sondern auch noch die beiden Brüder auf. Seine Erziehung ist jedoch unorthodox, denn das Dreiergespann wird weitestgehend sich selbst überlassen – vor allem Werner und Jonas, die eine besonders intensive Verbindung miteinander haben, testen immer wieder ihre Grenzen aus und gehen ab und an auch darüber hinaus. Picco greift selten in die Geschehnisse ein, nur wenn einem seiner Jungs ein Unrecht geschieht, sieht er sich zum Handeln gezwungen.

“Eine mehr als ungeordnete Welt war es, in der er da lebte. Eine Welt, in der es Behinderte gab, die verprügelt und schikaniert wurden. Eine, in der Mütter ihr Leben nicht aushielte und es vom Alkohol bestimmen ließen.”

Womit Picco das Geld verdient, um sich und den Kindern dieses sorglose Leben zu ermöglichen, wird nicht klar. Klar wird nur, dass das, was er tut, auch dunkle Schattenseiten beinhaltet – die Grenzen der Legalität werden von Picco immer wieder ausgelotet. Piccos monströser Reichtum ist Jonas’ Glück – nach dem Abitur und mit gerade einmal 18 Jahren blickt er einer sorgenfreien Zukunft entgegen. Er muss sich keine beruflichen Frage stellen, er muss nicht wissen, was er werden möchte und wie er sein Geld verdienen soll – über Geld bis an sein Lebensende verfügt er, stattdessen möchte Jonas herausfinden, wer er eigentlich ist und wer er gerne sein möchte: was für ihn Leben heißt, was die Liebe bedeutet, ob er den Tod fürchtet und welche Wünsche er hat.

“Man wird älter und älter, und man wartet. Etwas wird passieren, etwas Großes. Das Leben, das man führt, steuert zweifellos auf einen Höhepunkt zu, hinter dem die Versöhnung liegt, die Läuterung, das Glück – unausweichlich und unabänderlich. Eines Tages wird alles gut. Das Heute ist fehlerhaft, das Morgen wird vollkommen sein. Man wird älter und älter und wartet noch immer. Kämpft noch immer, mit der Welt und mit sich selbst, und das Erhabene, es will nicht kommen. Die Versöhnung mit sich und mit der Welt lässt auf sich warten, das Glück ist nicht perfekt, die Besserung nicht in Sicht. Mitunter scheint alles gar unmerklich abwärts zu gehen. Man wartet weiter. Und fühlt eine dumpfe Sorge aufsteigen. Sorge wird zu Angst, Angst wächst zu Entsetzen, Entsetzen schlägt um in Trauer, Trauer verwandelt sich in Unglaube.”

Jonas bereist Länder über Länder, von Tokio bis in die Antarktis, kauft Wohnungen und einsame Inseln, lässt sich ein Baumhaus und ein Schiff bauen. Stürzt sich in Beziehungen, die er wieder beendet. Taucht plötzlich auf und verschwindet dann wieder für mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre. Doch Glück, Zufriedenheit oder etwas, dass die innere Leere füllen könnte, die ihn aushöhlt, findet er nicht. Stattdessen bringt er sich immer wieder in Extremsituationen, um sich oder auch überhaupt etwas zu spüren. Er bringt sich selbst in Lebensgefahr, um die leere Hülle, aus der besteht, zumindest für kurze Momente mit einer gewissen Form der Bedeutung und Bedeutsamkeit füllen zu können. Am Ende dieser Reise hin zu den Extremen, steht eine Wanderung auf den Gipfel des Mount Everest. Diese Wanderung ist die zweite Ebene, aus der der Roman besteht: die Erzählung wechselt zwischen Jonas’ Vergangenheit und der Expedition auf den Gipfel, deren Verlauf das gesamte Buch als paralleler Erzählstrang durchzieht. Die Beschreibungen dieser Expedition sind beeindruckend, auch wenn man selbst kein begeisterter Bergsteiger ist, steckt einen die Atmosphäre dieses besonderen Berges schnell an. Thomas Glavinic beschreibt den Wahnsinn des Berges, den Wahnsinn der Todeszone und den Wahnsinn der Bergsteigertouristen, die in ihren Ferien um jeden Preis etwas besonderes erleben wollen und dafür nicht selten einen hohen Preis bezahlen müssen. Selten zuvor habe ich einen Bergsteigerroman gelesen, der die Faszination für das Höhenbergsteigen und für die häufig tödliche Zone über 8000 Metern, so plastisch und lebensecht abbilden konnte. Beim Lesen hat mich das Gefühl ereilt, selbst eine Sauerstoffmaske aufzuhaben, den Western Cwm zu durchqueren, auf die Festigkeit der Fixseile zu hoffen und beim Erreichen des nächsten Lagers erschöpft ins Zelt zu fallen.

Es sind vor allem diese Passagen, in denen dem Autor großartige Bilder und Impressionen gelungen sind, in denen es ihm gelingt, eine unheimlich beklemmende Stimmung zu transportieren. Als Leser hatte ich das Gefühl, an der Seite von Jonas den Mount Everest zu besteigen, so plastisch sind seine Erlebnisse geschildert. “Das größere Wunder” ist jedoch nicht nur ein Bergsteigerroman, sondern auch ein Entwicklungsroman und ein Porträt eines Suchenden, der aus dem normalen Leben ausgestiegen ist, um zu sich selbst und dem, was er sein möchte, zu finden – “auf der Suche nach dem einzigen, für das es wert war zu leben: der Liebe”. “Das größere Wunder” ist eine große Charakterstudie eines sonderbaren Menschen, der sich und seine Grenzen austesten muss, um einen Platz im Leben finden zu können.

“Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.”

Die Erzählung von Thomas Glavinic – sowohl der Blick zurück in die Vergangenheit als auch die Expedition auf den Mount Everest – entwickelt einen solchen Sog, dass man als Leser bereit ist, über einige kritische Aspekte hinwegzusehen. Vieles bleibt lediglich angedeutet, anderes erfährt der Leser nicht – daneben gibt es Elemente, die, auch wenn sie nicht surrealistisch sein mögen, zumindest die Grenzen der Realität ausreizen. Nicht alles davon konnte mich überzeugen und begeistern, genauso hat auch das Ende mich nicht ganz befriedigt zurücklassen können, dazu wirkt es auf mich zu glatt, kitschig und unausgereift.  Beim Lesen des letzten Satzes war das beherrschende Gefühl erst einmal eine gewisse Schalheit. Aber dennoch! Dennoch und trotz all dieser Kritik ist “Das größere Wunder” ein lesenswerter Roman, der mir viele nervenaufreibende und spannende Lesestunden beschert hat und darüber hinaus auch sprachlich zu gefallen wusste.

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse – Thomas Meyer

Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Ein Studium der Jurisprudenz hat er abgebrochen und stattdessen angefangen in einer Werbeagentur als Texter zu arbeiten. In der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde er zum ersten Mal 1998, als er damit begann, Kolumnen im Internet zu veröffentlichen. Seit 2007 ist Thomas Meyer selbstständiger Autor und Creative Director und betreibt eine eigene Homepage.

Der Roman mit dem absonderlichen Titel “Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse” erzählt die Geschichte von Mordechai Wolkenbruch aus Wiedikon. Mordechai, kurz Motti, ist ein junger orthodoxer Jude, der ein Problem hat: ohne Frau an seiner seine Seite versucht seine Mutter, seine mame, ihn zwanghaft zu verkuppeln. Doch ihre ausgewählten Kandidatinnen können ihren Sohn nur schwerlich überzeugen, denn alle haben einen Fehler: sie sehen aus wie seine eigene Mutter. Doch mit 25 Jahren noch frauenlos zu sein, ist für Mottis Mutter eine schwer zu ertragende Tatsache; sie schickt ihren Sohn von Zürich über Bern nach Basel, St. Gallen und Lugano, doch nirgendwo wird er fündig.

“Das machte meine mame, deren Brautvermittlungsbemühungen für ihre bejden anderen Söhne schon mit dem jeweils ersten Versuch voll ins Üppige getroffen hatten, hochgradig nervös. Denn bei mir taten sie es nicht. Der Grund lag darin, dass meine mame auch mich ausschließlich mit Dublikaten ihrer selbst bekannt machte: Rachel, Dania, Sara, Mazzal, Rifka, Joelle, Bracha, Schoschanne; und alle schwatzten sie mich in Grund und Boden, während sie in unserem Wohnzimmer milchikes gebek in sich hineinstapelten, das meine Mutter vom Koscherbäcker besorgt hatte.”

Bis zu dem Moment, als er Laura kennen lernt. Laura studiert gemeinsam mit Motti und sieht klasse aus, aber sie ist eine Schickse. Schlimm genug, dass die junge Frau Hosen trägt, sie trinkt auch noch Alkohol und schimpft wie ein Rohrspatz und ist bei alledem noch nicht einmal jüdisch. Wo soll das nur hinführen?

Motti ist hin- und hergerissen zwischen dem langjährigen folgsamen Gehorsam der Mutter gegenüber und dem Wunsch, sein eigenes Leben zu führen und das am besten mit Laura an seiner Seite. Je mehr Druck Mottis mame auf ihren heiratsunwilligen Sohn ausübt, desto mehr versucht dieser aus seinem vorgegebenen Leben und den damit verbundenen Strukturen herauszutreten. Judith, Mottis Mutter, ist eine jüdische Mutter, die einer Schablone entsprungen scheint: sie besitzt einen enormen “tuches” (tuches ist das jüdische Wort für Hintern und spielt in dem Buch eine Rolle, die einem Leitmotiv gleichkommt), ist fordernd und erweckt dabei den Eindruck über Leichen gehen zu können. Länger als eine halbe Stunde hält sie es ohne ihren geliebten Sohn kaum aus.

“Erleichtert drückte mich meine mame an ihren gigantischen busem, bedeckte mich mit kischn und gestand eine libe, wie sie tiefer und schöner nicht sein könne.”

“Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse” ist eine beinahe 300 Seiten umfassende Liebesgeschichte, die jedoch an keiner Stelle klassische Elemente einer Liebesgeschichte aufweist, denn Kitsch sucht man hier vergebens. Stattdessen wird der Leser mit viel Erfindungsreichtum, originellem Witz und einem ungewöhnlichen Humor unterhalten. Selten zuvor habe ich einen Roman gelesen, der mich so gut unterhalten hat – beim Lesen bin ich immer wieder in lautes Gelächter ausgebrochen und habe mich gleichzeitig dabei ertappt, mich schon fast unwohl beim Lachen zu fühlen. Über Juden lacht man doch nicht, oder? Der besondere Kniff des Romans ist sicherlich, dass er sich auf höchst charmante Art und Weise über Eigenarten der Juden lustig macht, man als Leser aber trotz aller Frotzelei und Witz dennoch am Ende das Gefühl hat, der Lebensweise der jüdischen Bevölkerung näher gekommen zu sein,

Den besonderen Charme des Romans macht sicherlich auch die Sprache aus, denn Thomas Meyer verwendet in “Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse” eine ganz eigene Sprache, die durchsetzt ist von einer Vielzahl an jüdischen Ausdrücken. Während man sich am Anfang in diesen Erzählton noch hineinlesen muss, hat man am Ende der Lektüre schon fast das Probleme, diese Sprache nicht mit in den eigenen Alltag zu übernehmen. Die skurrilen Charaktere des Romans sind trotz ihrer Überzeichnung liebenswürdige Figuren, deren Schicksal man als Leser gerne begleitet. Neben all dem offenkundigen Humor und Witz, hat der Roman aber auch eine tieferliegende Ernsthaftigkeit, denn die zentrale Frage, mit der Motti sich beschäftigt, ist die Frage danach, wie er leben möchte und das ist eine Frage, die sich wahrscheinlich jeder ab und an stellt. In dieser Hinsicht lässt sich der Roman auch als Entwicklungsroman lesen, der Motti auf dem Weg begleitet, herauszufinden, wie jüdisch er sein möchte und was für ihn das richtige Leben ist.

Thomas Meyer legt mit  “Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse” einen liebenswerten, skurrilen und spannenden Roman vor, den man in der Öffentlichkeit nur lesen sollte, wenn einem nichts peinlich ist, denn ohne laut beim Lesen aufzulachen, wird wohl niemand dieses Buch beenden können. Geht in die Buchhandlung eures Vertrauens und kauft euch dieses großartige Buch – ich habe selten zuvor so gut gelacht und dennoch etwas mitgenommen, über das es sich lohnt nachzudenken.

Der Clown ohne Ort – Thomas Martini

Thomas Martini wurde 1980 geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre als Teil der deutschsprachigen Minderheit in Transsilvanien. Mit zehn Jahren zog er mit seinen Eltern nach Deutschland, wo er Abitur machte und nach einem Studium bei unterschiedlichen Theaterproduktionen mitwirkte. Seit dem Jahr 2010 ist der Autor Initiator des Springsalon. Mit “Der Clown ohne Ort” legte Thomas Martini im diesjährigen Frühjahr seinen Debütroman vor.

“Novemberende dieser Geschmack, kalt, ölig, trüb auf der Zunge, Motoren, und du reckst die Nase in den Wind, strahlend wie an einem Frühlingsmorgen, wenn die Sonne frisch, süß, luftig schmeckt im irisierenden Dunst, und die Füße werden taub, und du legst dich fröhlich in die Blüte, in Wärme und Wiesen legst du dich […].”

Dies ist ein Teil des ersten Satzes aus Thomas Martinis sprachgewaltigen Debütroman und bereits an diesem Ausschnitt wird deutlich, wie sprachverliebt der Autor ist. Thomas Martini ist verliebt in die Sprache, mit der er in allen Details und Facetten jedes Gefühl, jeden Geruch und jedes Geräusch beschreiben kann. Es ist nicht ganz leicht, einen Blick hinter die sprachliche Wucht zu werfen, sie abzukratzen, um sich die Geschichte, die der Roman erzählt, anzuschauen. Im Mittelpunkt des Romangeschehens steht Naïn. Naïn führt eigentlich das perfekte Leben: er hat Politik studiert, ein Semester im Ausland verbracht, im Bundestag assistiert und besitzt nun glänzende Karriereaussichten.

“Als der Berliner Ausbruch zunächst mit einer labilen Konstitution und einer möglichen Arbeits- und Verantwortungsüberlastung erklärt wurde, folgte den Fragen Resignation: Sie fehlte, die Diagnose.”

Doch statt seinen Weg weiterzugehen, zerbricht Naïn an den Erwartungen seines Umfelds: er ist der ganz Stolz seiner Eltern, aber irgendwann sieht er sich nicht mehr in der Lage dazu, diese Rolle auszufüllen. Schon allein die Vorstellung, das Haus verlassen zu müssen, ängstigt ihn plötzlich so sehr, dass er sich nur noch mit der grünen Strickmütze seiner Großmutter vor die Tür wagt. Statt politisch Karriere zu machen, betäubt er seine Versagensängste mit Alkohol und Drogen. Es erscheint beinahe so, als wäre ihm das Glück unterwegs abhanden gekommen: auch ein Versuch am Theater und die Gründung einer politischen Organisation scheitern kläglich.

“Allein zu sein ist nur anfangs erschreckend. Die Menschen flüchten sich gerne in die Sicherheit der Zweisamkeit. Die wenigsten haben die Kraft, sich alleine zu erleiden. Selbst gewählte Einsamkeit ist schön, unfreiwillige schwer zu ertragen, denkt er.”

Im Rückblick ist eine Diagnose dessen, was schief gelaufen ist, schwierig. Noch schwieriger ist es, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem es plötzlich nur noch unrund lief. Naïn hat sich ganz auf sein Studium und die Arbeit konzentriert – Freizeit und und Freunde waren in seinem Lebensentwurf Mangelware. Frauen, die er mal geliebt hat, hat er zurückgelassen.

“Da waren Amaia und Lisa gewesen, große Lieben, die sich im Ungefähren verloren, der erste, Barceloneser Bruch, keine Frauen mehr.”

Nun stürzt sich Naïn in ein Leben, das er vorher scheinbar verpasst hat. Nimmt bewusstseinserweiternde Drogen, trifft Frauen und schläft sich durch die Gegend, trinkt bis er kotzen muss (in diesem Roman wird sehr viel gekotzt!) und fängt wieder von vorne an. Nichts bleibt, weder der Zustand, in den er gerät, wenn er sich betäubt, noch die Frauen, auf die er sich einlässt. Die Fallhöhe nimmt dramatisch zu und die Abstürze werden immer tiefer. Doch als plötzlich ein Schaf vor seinem Bett steht, scheint die Lösung seiner Probleme nahe, zumindest eine Lösung für die Mützenproblematik …

“Einen einsamen halben Liter Wodka und eine Zigarettenpackung später ist er schön verspult. Wahrscheinlichkeit war anders, träumen war, Totalitarismus, Gerechtigkeit, die Ahnung einer Zukunft, die hinter Versprechen verborgen wurde.”

Aufgebaut ist der Roman einem Triptychon gleich: drei große Erzählungen – “Das Land der Jugend” / “und” / “Das Man” – werden aneinandergereiht; nebeneinander gestellt. Am meisten berührt hat mich der mittlerer Teil des Romans, der den schlichten Titel “und”  (mit dem Nachsatz: “du sollst das nicht lesen, bitte”) trägt und im Gegensatz zu den anderen Romanteilen, die stellenweise im dichten Opiumnebel versinken, wunderbar und sprachlich außerordentlich berührend von der Liebe und dem Verlust derselbigen erzählt. Die Seiten in diesem Abschnitt sind häufig nicht ganz ausgefüllt, stattdessen finden sich dort kleine Miniaturkunstwerke – Miniaturkunstwerke, die mich in den Bann gezogen haben, die sich in meinem Herzen eingenistet und mich unfassbar stark bewegt haben. Diesen Teil des Romans habe ich mehrmals gelesen, immer wieder, in der Hoffnung doch noch einmal Neues entdecken zu können. Einmal an dieser Stelle aufgeschlagen, ließ sich das Buch nicht wieder zuschlagen.

“Weißt du noch, wie wir nachts mit dem Fahrrad durch Berlin gefahren sind? Aus Mitte durch Kreuzberg die Spree entlang und dann ganz weit die Kiefholzstraße runter bis Treptow? Wie wir jedes Mal radelnd sangen und lachten? Es war Sommer, und wir arbeiteten am Theater. Nur Himmel über uns, Glitzerstaub alles.”

Meine Leseerlebnisse bei diesem Roman decken sich mit vielen Leseerlebnissen, die ich in den letzten Wochen hatte: einer wunderschönen Sprache steht eine bruchstückhafte und von Lücken (manchmal nur ein kleiner Spalt, an anderen Stellen aber auch eine ganze Schlucht) geprägte Erzählung gegenüber. Wie soll man solche Bücher bloß beurteilen? Nicht zum ersten Mal bereitet mir eine Rezension Bauchweh, denn was sollte bei einer Rezension im Vordergrund stehen? Die Sprache oder der Inhalt? Ich weiß es mal wieder nicht. – Von der Handlung sind mir nur einzelne Fragmente klar geworden, vieles andere verbleibt im Nebel – als ungeklärtes Rätsel. Das Buch habe ich mit dem Gefühl zugeklappt, ein sprachlich wunderschönes, fulminantes und großartiges Lektüreerlebnis gehabt zu haben – von dem ich nur leider nicht alles verstehen konnte. “Der Clown ohne Ort” scheint zu einer neuen Gattung der experimentellen Literatur zu gehören, die ich zweifellos schätze, bei der ich mir aber ab und an etwas mehr Klarheit für den Leser wünschen würde.

Eien großartige und lesenswerte Besprechung gibt es auch bei meiner geschätzten Kollegin Caterina von SchöneSeiten.

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