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Deutschsprachige Literatur

Leichtmatrosen – Tom Liehr

Tom Liehr wurde 1962 in Berlin geboren und hat bereits als Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ gearbeitet. Seit 1998 ist er Besitzer eines Software-Unternehmens. Von Tom Liehr, der in Berlin lebt, erschienen bisher die Bücher “Radio Nights”, “Idiotentest”, “Stellungswechsel”, “Geisterfahrer” und “Pauschaltourist”. “Leichtmatrosen” ist sein neuester Roman. Mehr über Tom Liehr erfährt man auf seiner Homepage.

“Was auf dem Boot geschieht, bleibt auf dem Boot.”

Der Roman “Leichtmatrosen” wird aus der Perspektive von Patrick erzählt. Patrick ist mittelalt und lebt ein eigentlich ganz zufriedenstellendes Leben. Er arbeitet als Lektor bei einem Verlag und hat eine Freundin, um die ihn viele beneiden würden, denn Cora ist ein Popstar. Doch das Leben mit einem Star ist leider nicht immer so ganz einfach und Patrick ist sich mittlerweile sicher, dass Cora ihn mit ihrem Bassisten betrügt.

“Hab dich lieb. Das sagt drei Jahre altes Brüllfleisch zum Papa, das sagt man zur eigenen, inzwischen sechzigjährigen Mutter, die altersbedingt für so etwas empfänglich ist. Aber doch nicht zu dem Mann, mit dem man sechzig Stellungen aus dem Kamasutra ausprobiert, dessen Sperma man geschluckt, dessen feuchte, fleckig-dunkelgraue Socken man in die Waschmaschine gesteckt hat. Hab dich lieb. Diese Wendung hatte ich von Cora noch nie gehört. Aber sie war nur ein Symptom. Eines von vielen.”

Denn da gibt es auch noch Coras Kinderwunsch, der die beiden entzweit und so weit voneinander entfernt, dass Patrick eines Tages Cora dabei überrascht, wie sie mit einer Nadel Löcher in die Kondompackungen piekst.

Doch zum Glück gibt es da noch die dienstägliche Badmintonrunde, um sich abzulenken. In ouzogeschwängerter Stimmung beschließen Patrick und seine Badmintonfreunde Mark, Simon und Jan-Hendrik, der von allen nur Henner genannt wird, gemeinsam Urlaub zu machen. Plötzlich finden sich die vier auf einem Hausboot wieder, ohne jegliche Bootserfahrung zu besitzen und vor allem auch, ohne sich eigentlich wirklich zu kennen, oder überhaupt etwas voneinander zu wissen.

“Meine Bootserfahrungen beschränkten sich auf die Dampferfahrten mit meinen Eltern, in einer Zeit, als ich noch nach Kinderschokolade und nicht nach Mousse süchtig war und Mädchen für eine Tierart hielt, und außerdem auf die drei, vier Tretboottouren, die ich später – mit Mädchen, als ich sie nicht mehr für eine Tierart hielt – unternommen hatte.”

Zehn Tage lang wollen die vier die Havel entlangschippern und schnell wird klar, dass sich Patrick mit einer wahren Chaostruppe auf den Weg gemacht hat. Henner arbeitet als Pfarrer und schwitzt vor lauter Nervosität auf dem Boot bereits nach kürzester Zeit sein erstes T-Shirt durch. Zum Glück hat er genug gebügelte T-Shirts zum Wechseln dabei. Mark erweckt den Eindruck, als wäre er nicht nur äußerlich jung geblieben, sondern als würde in ihm noch ein kleines Kind stecken. Simon wird gerne Simme genannt und hat immer ein Handy griffbereit. Insgesamt besitzt er über zwanzig dieser Mobiltelefone, alle ausgestattet mit Prepaidkarten: eines für die Familie, eines für Mädels und einige weitere für Lieferanten und Bekannte, für die er arbeitet, mal gearbeitet hat oder einen Auftrag nicht zu Ende gearbeitet hat.

“Ich war auch dicht am Totalstrunz, fühlte mich diesen drei Typen aber plötzlich sehr verbunden und hielt es für eine irrsinnig tolle Idee, mit ihnen Urlaub zu machen. Nüchtern hätte ich es nicht einmal für eine tolle Idee gehalten, zufällig mit ihnen gemeinsam dieselbe kleinstadtgroße IKEA-Filiale aufzusuchen. Weil Henner verhaltensgestört war, weil Simon – ohne das zu wollen – gemeingefährlich war, weil Mark alles zuzutrauen war. Eine Mischung, aus der geschichtsverändernde Katastrophen entstanden. Außerdem kannten wir uns kaum.”

Die vier Männer steuern ihr Hausboot mit dem Namen “Dahme”, das sie jedoch schnell in “Tusse” umbenennen, über die brandenburgischen Gewässer. Zu Beginn machen sie sich, begleitet von einigen größeren und kleineren Katastrophen, mit der Steuerung ihres Bootes und mit der trickreichen Durchquerung von Schleusen vertraut und sammeln schnell die ersten Erfahrungen mit anderen mal mehr oder weniger übel gelaunten Hausbootbesitzern. Die Abende verlaufen zumeist alkoholgetränkt und die Morgende entsprechend kopfschmerzlastig. Mehr als einmal bekommen die vier weiblichen Besuch und erleben eine Reihe weiterer amüsanter und brenzliger Situationen. Trotz der anfänglichen Distanz zwischen den vieren, beginnen sie im Laufe der zehn Tage, sich anzunähern und intensive Gespräche zu führen.

Durch die Annäherung der vier Badmintonfreude und das Zusammenleben auf engem Raum, offenbaren sich so einige Geheimnisse der Männer. Es sind nicht nur Dinge, die sie voreinander geheimgehalten haben, sondern auch Dinge, die ihnen vor Antritt der Reise gar nicht bewusst gewesen sind. All das wird Stück für Stück ans Tageslicht befördert und sorgt nicht nur für eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den vieren, sondern auch für eine innere Entwicklung der Charaktere. Der gemeinsame Männerurlaub, entpuppt sich Seite für Seite immer stärker als Selbstfindungstrip, denn als leichtes Schippern auf dem Party Boat. Es ist der Urlaub, der dafür sorgt, dass die vier aus ihrem bisherigen Alltag ausbrechen müssen und der sie zwingt, sich, abseits von ihrem sonstigen Leben, mit sich selbst und dem, was sie sein wollen auseinanderzusetzen.

“So ein paar Tage unter sehr ungewohnten Bedingungen lassen die Realität, die man daheim gelassen hat, in einem anderen Licht erscheinen. […] In diesem Augenblick bemerkte ich abermals, dass ich an Land ein Schwanken spürte, auf dem Boot aber nie. Eine fast metaphorische Wahrnehmung.”

“Leichtmatrosen” kommt auf den ersten Blick als leichte Lektüre daher, als ein typisches Männerbuch, in dem typische Männer typische Männerdinge tun. Hinter diesem ersten Eindruck verbirgt sich jedoch mehr: eine Coming-of-Age-Geschichte, die von Männern erzählt, die auf dem Papier.schon längst erwachsen sein müssten, die aber alle noch etwas mitschleppen, das sie daran hindert. Es ist vor allem Angst: Angst vor den eigenen Wünschen, den eigenen Bedürfnissen und dem Leben. Die innere Reise der vier Leichtmatrosen, die sich umgeben von Wasser und Natur, sich und ihrem Leben stellen, ist stellenweise amüsant, aber vor allem auch sehr lesenswert und eindrücklich.

Tom Liehr ist mit “Leichtmatrosen” ein seltsames Buch gelungen. Seltsam, weil es unheimlich facettenreich ist und sich jeglicher Kategorisierung verweigert: leichter Urlaubsroman, humorvolles Männerbuch, gemeinsame Sinnsuche mit Tiefgang – irgendwie ist “Leichtmatrosen” von allem ein bisschen und nebenbei erfährt der Leser auch noch, wie wunderbar ein Urlaub mit Hausboot eigentlich sein kann.

5 Fragen an René Freund!

© Heribert Corn

René Freund wurde 1967 geboren und lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal. Er arbeitete zwei Jahre als Dramaturg am Theater in der Josefstadt und studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Völkerkunde. Von ihm erschienen bereits zahlreiche Bücher, unter anderem “Stadt, Land und danke für das Boot” sowie “Wechselwirkungen”. “Liebe unter Fischen”, das zu Beginn dieses Jahres erschien, ist seine neueste Veröffentlichung.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Um jetzt ganz ehrlich zu sein: Ich wollte die Welt verändern.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Wenn es nur einer sein soll, dann möchte ich Kurt Tucholsky nennen. Ich habe eine unendliche Bewunderung für diesen kleinen, dicklichen Mann, der mit seiner Schreibmaschine den Wahnsinn des Dritten Reichs aufhalten wollte. Und der uns in besseren Zeiten mehr unbeschwerte Romane wie „Rheinsberg“ oder „Schloss Gripsholm“ hinterlassen hätte. Schlagt einen der zehn Bände auf, ihr werdet immer etwas finden. Sein Sprachwitz ist für mich unübertroffen. In diesen Tausenden Schriften zu Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst: Tucholsky irrte sich so gut wie nie. Bei ihm kann man alles nachlesen, auch über den Wahnsinn unserer Zeit.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Zu Hause in Grünau im Almtal in Oberösterreich. An meinem Schreibtisch in meinem terracottafarbenen Arbeitszimmer. Meistens, wenn die Kinder in der Schule sind, zwischen 7.30 und 13.00 Uhr.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„Kauft Leute“ von Jan Kossdorff. Ein Buch, das von unserer Realität nur einen Fingerbreit weit entfernt liegt: In dem Roman können wir Menschen in einem Supermarkt kaufen. Quasi mit Bio-Zertifikat. Ist aber auch lustig geschrieben und nimmt uns mit den Figuren auf eine Reise mit.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Klingt wahnsinnig langweilig – in erster Linie: Disziplin. Die kann aber nur aus Liebe zum Schreiben entstehen. Einfach mal schreiben. Danach: Korrigieren, überarbeiten, wegwerfen. Schreiben und wegwerfen. Irgendwas bleibt irgendwann mal übrig. So mache ich das jedenfalls.

Vielen Dank an den Autor für die Beantwortung meiner Fragen!

Liebe unter Fischen – René Freund

René Freund wurde 1967 geboren und lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal. Er arbeitete zwei Jahre als Dramaturg am Theater in der Josefstadt und studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Völkerkunde. Von ihm erschienen bereits zahlreiche Bücher, unter anderem “Stadt, Land und danke für das Boot” sowie “Wechselwirkungen”. “Liebe unter Fischen”, das zu Beginn dieses Jahres erschien, ist seine neueste Veröffentlichung.

Die Geschichte, die René Freund in seinem Roman “Liebe unter Fischen” erzählt, beginnt am 16. Juni. Die Verlegerin Susanne Beckmann beginnt an diesem Tag damit, ihrem berühmtesten Autor Alfred Firneis – genannt Fred – auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Sie ist verzweifelt, denn ihrem Verlag droht die Pleite, wenn nicht ihr Starautor endlich ein neues Buch vorlegt.

“Von Im Schein der Wolkenkratzer haben wir jetzt Hundertfünfzigtausend verkauft. Jenseits von Mitte ist vergriffen, wir drucken gerade nach. Mensch, Sie sind der einzige Lyriker im deutschen Sprachraum, der Kasse macht.”

Doch Fred Firneis hat ganz andere Sorgen: er wurde nicht nur von seiner Frau verlassen, sondern ertränkt seinen Kummer nun auch noch im Alkohol. Seinen Laptop hat er weggeworfen und an neuen Texten schon lange nicht mehr gearbeitet. Susanne Beckmann lässt nicht locker und spürt ihren Autor schließlich in seiner verdreckten Wohnung auf. Zur Regeneration schickt sie Fred – unter der Aufbietung einiger Überzeugungskraft – in eine Holzhütte in die österreichischen Alpen.

Grünbach am Elbsee ist eine Idylle. Die Hütte liegt abgeschieden, es gibt weder Strom noch Internet und auch keinen Handyempfang. Freds erster Impuls ist, dass er dort so schnell wie möglich weg möchte. Ein Sturzbach, “der ihn von den anderen Menschen trennte”, verhindert diesen Wunsch und zwingt Fred dazu, in der Hütte zu bleiben und zur Ruhe zu kommen. Als er den Förster August und dessen Hündin Aisha kennenlernt, beginnt Fred seine Zeit in Grünbach sogar richtig zu genießen.

“Als ich diesen Atemzug machte, der meinen ganzen Brustkorb auszufüllen schien, den ich als Wärme in den Füßen und als Klarheit im Kopf spürte, fiel mir plötzlich auf: Ich hatte in den letzten Jahren das Atmen verlernt.”

Als plötzlich die Biologin Mara auftaucht, die Fred nicht nur mit ihrer Schönheit, sondern auch mit ihrem charmanten Akzent und ihrem Wissen über das Liebesleben von Fischen verzaubert, scheint das Glück perfekt zu sein. Es ist die Begegnung mit Mara, die Fred dazu bringt, wieder zu schreiben. Doch von einem Tag auf den anderen verschwindet die geheimnisvolle Mara …

Auf knapp 200 Seiten erzählt René Freund eine kurzweilige und unterhaltsame Geschichte, die für den Leser eine Wendung bereithält, die es in sich hat. “Liebe unter Fischen” ist ein Roman, der eine gewisse Leichtigkeit verströmt und sich flüssig und angenehm lesen lässt. Neben dieser Leichtigkeit beinhaltet der Roman aber auch viele spannende Gedanken zum Schriftstellerleben. Fred Firneis steht trotz seines Erfolgs, den er als einer der wenigen deutschen Lyriker hat, unter dem Druck Texte liefern zu müssen. Doch die Texte lassen sich schon lange nicht mehr so leicht schreiben, wie zu Beginn und statt zum Stift greift Fred immer öfter zum Alkohol.

“Ich lebe in einem Raumanzug gefertigt aus Ironie, genäht mit Zynismus, beschichtet mit Fremdheit. Ich komme da nur raus, wenn ich trinke oder wenn ich schreibe. Zuletzt war nur noch das Trinken geblieben.”

An vielen Stellen schimmert die ständig präsente Angst durch, zu versagen und die Erwartungen des Publikums, des Feuilletons und des Verlags nicht erfüllen zu können.

“Ein Bestsellerautor mit Ängsten – das wäre doch lächerlich! Lächerlich zum Beispiel die Angst, nichts Gutes mehr schreiben zu können. Mit dem nächsten Buch die totale Pleite einzufahren. Ausgeschrieben zu sein, für immer. Ich habe es mir eine Zeitlang sehr bequem in dem Glauben eingerichtet, tatsächlich keine Sorgen, keinen Groll, keine Ängste zu haben. Bis ich in dem Glauben vertrocknet oder verhungert bin.” 

Ein anderer Blickwinkel wird von Freds Verlegerin Susanne Beckmann vertreten, die um das Überleben ihres Verlages kämpft und mit allen Mitteln versucht, Fred zum Schreiben zu zwingen. Für sie zählt zunächst einmal der finanzielle Profit und die Absicherung des Verlages, dafür ist sie bereit, alles zu tun.

Sprachlich weiß der Roman vor allem an den Stellen zu überzeugen, an denen Fred Briefe an seine Verlegerin schreibt, diese Briefe sind nicht nur poetisch, sondern auch philosophisch angehaucht und machen einen Großteil des Lesevergnügens aus, das ich bei diesem Roman empfunden habe. “Liebe unter Fischen” ist ein Buch mit Herz, Hirn und Humor; die perfekte Dosierung dieser Mischung lässt einen dann auch die stellenweise etwas stereotype Figurenzeichnung  verschmerzen.

René Freund ist mit “Liebe unter Fischen” eine originelle und abwechslungsreiche Liebesgeschichte gelungen, die durch einen subtilen und humorvollen Blick in die literarische Welt ergänzt wird. Ein Buch, dessen Lektüre sich wie ein sonniger Urlaub angefühlt hat und das dazu angeregt, auch einmal eine Pause vom Alltag zu machen und sich nicht weiter “einlullen, anfüllen, zumüllen” zu lassen.

Die Abenteuer des Joel Spazierer – Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier wurde 1949 am Bodensee geboren und lebt heutzutage als Schriftsteller in Hohenems/Vorarlberg und Wien. In den letzten Jahren erschienen einige Romane von ihm, unter anderen “Abendland” und “Madalyn”. “Die Abenteuer des Joel Spazierer” ist sein neuester Roman.

Die Abenteuer des Joel Spazierer ist ein Schelmenroman, in dem unsere Welt aus den Augen eines Außenseiters beschrieben wird; und sie wird in ihren schönsten Farben beschrieben – wie eine wunderbare, exotische, aber vielleicht höchst giftige Blume.”

In “Die Abenteuer des Joel Spazierer” lässt Michael Köhlmeier Joel Spazierer seine Lebensgeschichte erzählen. Auf knapp 700 Seiten erzählt dieser über beinahe sechs Jahrzehnte seines Lebens – ein Leben als Hochstapler, Lügner, Verführer, Mörder, Vater und Flaneur. Wer ist dieser Joel Spazierer?

“Was der Staatsanwalt in seinem Plädoyer gesagt hatte, dass ich kein Mensch sei, das hat mich beschäftigt. […] Und er erklärte auch, was er unter Menschlichkeit verstehe. Dass einer in der Lage sei, wenigstens für eine kurze Zeit, von sich abzusehen und sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, mit ihm zu leiden, sich mit ihm zu freuen, mit ihm zu hoffen, mit ihm zu wissen, wenn er am Ende ist … Mir sprach er diese Fähigkeit ab.”

Joel Spazierer wird – damals noch als András Fülöp – 1949 in Budapest geboren und wächst bei seinen Großeltern auf. Eines Tages werden seine Großeltern vom Geheimdienst mitgenommen, der damals erst vier Jahre alte Junge wird alleine zurückgelassen. Fünf Tage und vier Nächte verbringt András alleine in der kalten und ungeheizten Wohnung. Im Rückblick bezeichnet er dieses Erlebnis als den Moment, in dem seine bewusste Erinnerung einsetzte. Seine spätere Entwicklung und all das, was im Laufe seines Lebens geschehen sollte, wird auf dieses fünftägige Alleinsein zurückgeführt.

“Joel Spazierer entwickelt sich zu einem genügsamen, zufriedenen Mann – der allerdings nie lernt, was gut und was böse ist.”

Gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Großeltern flieht András von Ungarn nach Österreich. Dort verliert er sehr schnell seine kindliche Unschuld. Mit neun Jahren arbeitet er bereits als Stricher. Gleichzeitig erpresst er die Männer, die zu ihm kommen. Schnell verdient er mit diesen Methoden einiges an Geld. Es sind seine Sommersprossen und die Haare, die andere Menschen an dem Jungen bezaubernd und verzaubernd finden und die dieser für seine Zwecke einsetzt. Er manipuliert Menschen. Es ist für András in den Begegnungen mit anderen Menschen beinahe unmöglich, die Wahrheit zu sagen. Er verstrickt sich in unfassbaren Lügengebäuden, entspinnt sich neue Identitäten und erfindet sich immer wieder neue Vergangenheiten und neue Lebensläufe. Er reizt die Lüge soweit aus, dass er sich irgendwann zum Mord gezwungen sieht – er tötet die Mutter eines Schulfreundes.

Doch auch im Gefängnis findet er nicht zu sich selbst, stattdessen bleibt er stecken in seinen Lügengebäuden, tischt jedem eine neue Geschichte auf und wickelt alle um den Finger. Schließlich wird er wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Das ist der Moment, in dem Joel Spazierer geboren wird, denn so nennt er sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis.

Der Leser begleitet Joel Spazierer bei dem Versuch, ein bürgerliches Leben zu führen und muss miterleben, wie dieser von der Vergangenheit immer wieder eingeholt wird. Der erste Mord bleibt nicht der letzte Mord und seine Versuche Fuß zu fassen sind nach kurzer Zeit immer wieder zum Scheitern verurteilt. Joel Spazierer flaniert durch die Drogenszene, reist kurzzeitig in die DDR, arbeitet als exzentrischer Professor an der Universität, heiratet und bekommt mit unterschiedlichen Frauen gleichzeitig zwei Kinder. Er lebt ein Doppelleben. Es scheint ihm nicht möglich zu sein, ein Leben zu führen, in dem er ohne die Lüge auskommen könnte. Auch in den Momenten, in denen es ihm möglich wäre Gutes zu tun, versagt er.

Joel Spazierer erzählt nicht nur aus seinem Leben, sondern stellt nebenbei auch die “eine oder andere Maxime” vor, die er bei dem Versuch gewonnen hat, dieses zu bewältigen. Die “Überschrift seiner Existenz” bildet dabei die Lüge, zu deren praktischen Anwendung er selbstverständlich einige Hinweise in seine Biographie mit einstreut.

“Aber er hat mir ja etwas mitgegeben: dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will.”

“Alles kann aus uns werden!” Das ist das Motto und die zentrale Überschrift des Romans. Am Ende bleibt die Frage, wer Joel Spazierer eigentlich ist und inwieweit er zu dem geworden ist, der er heute ist? Ist er einfach nur ein Monster? Ein Lügner? Ein Verführer? Ist er das Böse? Ist so etwas überhaupt möglich, dass ein Mensch von Grund auf böse ist, oder haben ihn die Erlebnisse seiner Kindheit zu einem bösen Menschen gemacht? Kann man als Lügner zur Welt kommen? Kann man als Mörder zur Welt kommen? Kann einem Menschen die Lüge angeboren sein? Das sind einige der spannenden Fragen, die der Roman aufwirft, ohne sie jedoch eindeutig zu beantworten.

Die Einordnung des Romans ist nicht einfach – es handelt sich um eine Biographie, eine Lebensgeschichte, doch handelt es sich bei diesem Roman in der Tat auch um einen Schelmenroman? Dieser wird an einer Stelle des Buches wie folgt definiert:

“Darin wird von einem Helden erzählt, der Schreckliches tut und Schreckliches erleidet, für ersteres nicht zur Verantwortung gezogen wird und an letzterem nicht zugrunde geht, weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sonder das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm.”

Für einen Schelmenroman erscheint mir die Figur des Joel Spazierer zu böse zu sein, denn er ist nicht nur ein Lügner und Verführer, sondern er ist auch ein mehrfacher Mörder. Trotz dieser Tatsache wird es kaum Leser geben, denen Joel Spazierer nicht sympathisch ist. Er ist ein Lügner, aber er erzählt so ehrlich und offen aus seinem Leben und von seinem Scheitern, seinem Versagen und den Stolpersteinen seines Lebens, dass man ihn irgendwann doch unweigerlich ins Herz schließen muss. Die Figur des Joel Spazierer ist keine Figur, die einen beim Lesen kalt lässt.

Michael Köhlmeier lotet in seinem Roman “Die Abenteuer des Joel Spazierer” die Frage nach Lüge und Wahrheit aus und erweist sich dabei als brillanter Erzähler. Köhlmeier ist ein Fabulierer, der dem Leser, der bereit ist, ihm auf all den Wegen, die er in diesem Buch beschreitet, zu folgen, einen wahren Lesegenuss beschert.

Klack – Klaus Modick

Klaus Modick wurde 1951 geboren und studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik. Sein Studium schloss er mit einer Promotion über den Schriftsteller Lion Feuchtwanger ab. Anschließend arbeitete er als Lehrbeauftragter und Werbetexter. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und lebt mittlerweile wieder in Oldenburg, der Stadt, in der er auch geboren wurde. Zuletzt erschien von ihm der Roman “Sunset”: ein Roman über die beiden Schriftsteller Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht.

“Im Westen ist die Luft wieder rein, ausgewaschen die bleierne Schwüle. Die regenschwere Schleppe des Sommergewitters zieht letzte Wolkenfetzen nach Osten.”

Mit diesen Sätzen beginnt der neueste Roman “Klack” von Klaus Modick. “Klack” erzählt die Geschichte von Markus. Erzählt wird die Geschichte in Fotos, die Markus mit seiner Agfa Clack macht, einer Kamera, die er auf dem Jahrmarkt gewinnt. Klaus Modick erzählt aber auch die Geschichte einer ganz wichtigen Zeit in Deutschland, einer Zeit, in der es nach dem Krieg im Westen wieder bergauf ging, während der Osten eine Mauer um sich errichtete. Über allem legte sich in dieser Zeit die spürbare Angst vor einer atomaren Katastrophe.

Die Agfa Clack heißt so, “weil der Auslöser klackt, wenn man ihn drückt”. Fünfzehn Fotos macht Markus mit dieser Kamera, einem Gewinn vom Ostermarkt. Die schwarz-weißen Fotos liegen mittlerweile mit grünem Weihnachtspapier gebündelt in einem feuchten Karton: “Sie halten fest, was sich im Leben nicht wiederholen lässt.”  Jahrzehnte später stößt der Erzähler auf diesen Karton. Eigentlich möchte er nur ein bisschen aufräumen, doch dann fallen ihm die Fotos in die Hände und er begibt sich auf eine Zeitreise zurück in die sechziger Jahre.

“Unscharf. Verwackelt. Was soll das sein? Eine schräge Plattform. Senkrechtes Gestänge oder Gebälk. Und nackte Mädchenwaden. Der Faltenrock reicht eine Handbreit übers Knie.”

Das ist das erste Foto, das Markus mit seiner Kamera macht. Er schießt es 1961 auf dem Ostermarkt und das Motiv ist seine Schwester Hanna, die – obwohl dies eigentlich von den Eltern verboten wurde – bei den Halbstarken am Geländer der Raupenbahn lehnt. Das Foto ist verwackelt. weil Markus damals noch nicht wusste, wie man an der Kamera die Entfernung einstellen kann. Es sollten vierzehn weitere Fotos folgen, die aus dem Leben von Markus erzählen.

“Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung. Sie bleibt immer eine Konstruktion, ein Mosaik aus Beobachtungen, Reflexionen, Sprache, Bildern, Klängen, Reizen und Gefühlen, eine sich ständig verändernde, instabile Collage, die sich modifiziert, indem sich neue Teilchen an sie ansetzten, während alte abgestoßen werden ins Vergessen.”

Markus ist “kümmerliche vierzehndreiviertel” Jahre alt und lebt zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Hanna. Auch seine Großeltern leben bei ihnen im selben Haus und Markus hat unter seiner tyrannischen Oma immer wieder zu leiden. Doch Markus und seiner Familie geht es im Grunde sehr gut, besser als vielen anderen Familien – in der Apotheke des Vaters herrscht Hochkonjunktur. Wäre da nur nicht die Angst vor einer drohenden Atomkatastrophe.

“Die Angst vor der kommenden Vernichtung. Diese Angst erzeugte die Paranoia des Kalten Kriegs, in der du aufgewachsen bist und in der Eltern und Großeltern, Pastoren und Lehrer dir ununterbrochen Vorwürfe machten, verwöhnt zu sein und nicht zu wissen, wie gut du es doch hattest.”

Und dann gibt es da auch noch Clarissa. Von einem Tag auf den anderen zieht Clarissa gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder und ihrem Vater in das baufällige Haus nebenan – das von Markus’ Oma als “Schandfleck” bezeichnet wird. Familie Tinotti bringt nicht nur ihren Eiswagen mit, sondern möchte in der Stadt auch einen Eissalon eröffnen. Markus verliebt sich Hals über Kopf in Clarissa und tut alles, um ihre Zuneigung zu gewinnen: er nimmt Gitarrenstunden bei ihrem Vater und hilft bei der Renovierung des Eissalons mit. Er möchte nur eines: in Clarissas Nähe sein. Doch hat er überhaupt eine Chance, ihr Herz zu gewinnen?

Die fünfzehn Kapitel werden mit Gedanken zum Fotografieren und zu der Funktion von Fotos eingeleitet. Es sind vor allem diese kurzen Kapiteleinleitungen, die mir an diesem Buch besonders gut gefallen haben. Es sind Gedanken dazu, was Fotos nicht zeigen können: Fotos können zwar einen einzelnen Moment abbilden, doch es gibt so vieles, was mit diesem Moment verbunden ist und das auf einem Foto nicht gezeigt werden kann: “dem Geflecht aus Zwängen und Riten, das Knäuel von Konflikten und Verdrängungen.” Es sind Gedanken zum Verhältnis der Fotografie zu der Wirklichkeit. Nicht umsonst fällt natürlich auch der Name Roland Barthes mit seinem wegweisenden Buch “Die helle Kammer”.

“Wie, fragst du dich, sind die Beziehungen zwischen Bildern und Leben, zwischen dem zum Foto gefrorenen Augenblick und dem, was wirklich geschehen ist?”

Klaus Modick wirft in “Klack” einen Blick auf das Leben von Markus, dieser Blick ist überwiegend humorvoll und unterhaltsam. “Klack” erzählt die Geschichte eines liebenswerten Jungen, der sich zum ersten Mal verliebt. Klaus Modick hat die Geschichte in einer Zeit angesiedelt, in der er selbst aufgewachsen ist, einer Zeit zwischen Mauerbau und Kubakrise, zwischen Wirtschaftswunder und der Angst vor einer atomaren Katastrophe. Neben den lesenswerten Reflexionen über die Fotografie ist es vor allem die Beschreibung dieser Zeitspanne, die mich begeistern konnte. “Klack” spielt in einer Zeit, die erst sechzig Jahre her ist und doch so fremd und vergangen wirkt. Beim Lesen ist es für mich unvorstellbar, was sich Markus alles auf dem Ostermarkt für 5DM leisten kann. Wenn man heutzutage mit 2,50€ auf einen Jahrmarkt geht, ist die Ausbeute deutlich geringer.

“Klack” ist ein schmaler und unaufgeregter Roman, der sich schnell lesen lässt. Klaus Modick erzählt die Geschichte von fünfzehn Fotos und die damit verbundenen Erinnerungen. Vor dem Leser entfaltet sich ein Panorama der sechziger Jahre, in das ich gerne zurückgereist bin, auch wenn ich selbst deutlich später aufgewachsen bin. “Klack” ist ein wunderbar erzählter Roman über eine lesenswerte Zeitreise  und über die erste große Liebe.

Eheroman – Katrin Seddig

Katrin Seddig wurde 1969 in Strausberg geboren. Sie studierte Philosophie in Hamburg und lebt dort auch heutzutage noch. 2008 wurde sie mit dem Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg ausgezeichnet. Sie debütierte mit dem Roman “Runterkommen”, im vergangenen Jahr erschien ihr Roman “Eheroman”. Katrin Seddig betreibt einen eigenen Blog.

“Eheroman” erzählt die Geschichte von Ava Grünebach. Ava ist schon immer anders als die anderen gewesen. Sie wächst in einem Dorf auf, aus dem sie schon früh einfach nur noch weg möchte. Während ihre Schwester Anke verwurzelter mit dem Heimatdorf ist, fühlt sich Ava fremd. Schon ihr Name fällt aus dem üblichen Rahmen. Verantwortlich dafür ist ihr Vater – auch er ist verschroben und schweigt lieber, als dass er spricht. Der Vater, “der tut nichts als denken und grübeln und bereuen”. Die Ehe ihrer Eltern ist unglücklich, doch zugeben würde das keiner der beiden. Lieber verharren sie weiter in ihrem Trott. Aber Ava ist anders, sie möchte weg, raus in die Welt.

“[…] es geht immer so weiter, weil sie nicht begreift, dass sich immer nur alles wiederholen wird, alles, und sie wird immer wieder in derselben Scheiße landen, weil sie einfach nicht begreift, wie es hier ist mit den Leuten, wenn sie dableibt.”

Ava geht nach Lüneburg und macht dort eine Ausbildung zur Krankenschwester. Wäre da nur nicht Danilo, der anders ist, als die anderen Dorfbewohner und den sie dort zurücklässt. Danilo ist vier Jahre jünger als sie, an Selbstbewusstsein mangelt es ihm aber nicht.

“Du bist zwölf, und ich bin sechszehn, Danilo. Ich knutsche nicht mit Jungen, die zwölf sind. Du bist ein Kind.”

Im Krankenhaus verliebt sich Ava in den Assistenzarzt, doch wirklich glücklich sind die beiden eigentlich nie. Zu schnell kehrt der Alltag in ihre Beziehung ein, zu schnell verliert sich der Reiz. Und dann taucht Danilo plötzlich wieder auf – mittlerweile nicht mehr zwölf, sondern schon einige Jahre älter, aber immer noch deutlich jünger als Ava. Doch plötzlich funkt es zwischen den beiden.

“‘Ich seh voll bescheuert aus in dem Anzug, nicht?’, sagt Danilo. ‘Nein. Gar nicht’, sagt Ava und verbeißt sich das Lachen und das Weinen. Und dann legt sie ihre Arme um ihn, sie kann seine Traurigkeit nicht aushalten, nie würde sie seine Traurigkeit mehr aushalten können, und sie küsst ihn, und er legt seine Arme um sie und küsst sie, und sie küssen sich hundert Stunden lang, bis es hell wird und Ava nach Hause rasen muss, weil sie arbeiten muss, und alles rast an ihr vorbei und fühlt sich so heftig an, die kühle Morgenluft, die Vögel, die schreien, als ginge es um Leben und Tod, und ihr Gehirn ist vollkommen am Rasen, und ihr Leben erscheint ihr wie ein gewaltiges, verbotenes Abenteuer.”

Ava und Danilo werden ein Paar. Ein Paar, das in unterschiedlichen Welten lebt – von Beginn an eigentlich aneinander vorbeilebt und doch zusammenbleiben möchte. Während Danilo noch zur Schule geht, arbeitet Ava. Während Ava im Mutterschaftsurlaub ist, studiert Danilo. Ihr gemeinsames Leben ist von Ungleichzeitigkeiten geprägt. Und eigentlich wollen beide lieber woanders sein und sind doch beieinander. Ava nimmt sich Auszeiten: da gibt es Stulle, mit dem sie Hals über Kopf nach Portugal reist, statt mit Danilo und seinen Freunden zu zelten. Stulle wird nicht ihre einzige Affäre bleiben.

Katrin Seddig seziert in diesem großartigen Roman – wie der Titel es auch schon andeutet – eine Ehe: von ihrem Beginn an, hinein in ihre dunklen Stunden und schweren Momente. Danilo lebt ein Leben an Ava vorbei und doch liebt er sie und bekommt zwei Kinder mit ihr, während Ava sich fragt, wie sie eigentlich in Danilos Leben hineinpassen soll. Wo ist in diesem Leben eigentlich Platz für sie? Katrin Seddig erzählt von den wunderbaren Momenten einer Beziehung, aber auch von den traurigen und einsamen Augenblicken. Die Beziehung zwischen Danilo und Ava ist nur zu Beginn glücklich, bereits die Heirat ist vor allem einer Zweckmäßigkeit geschuldet und keinem wirklichen Wunsch. Dementsprechend trostlos fällt auch die Hochzeitsfeier aus. Die Ehe in diesem Eheroman wird schonungslos und offen beschrieben und dabei stellenweise auch von jeglichen romantischen Vorstellungen entzaubert.

“Sie ist den ganzen Tag zu Haus und verdient kein Geld und tut praktisch nichts. Ihr Tag ist ein großes NICHTS! Deshalb darf Danilo sagen, darf höhnisch sagen, er würde auch noch nach seiner Arbeit mit Merve zum Arzt gehen. Sie nämlich würde nach dem großen NICHTS zum Arzt gehen – er nach der Arbeit, sie nach dem NICHTS. Und am Ende eines solchen Tages voll mit NICHTS ist sie ausgebrannt und leer und vollkommen erschöpft.”

Getragen wird die Erzählung von Ava, die für mich die Hauptfigur des Romans ist. Sie traut sich, das Abenteuer mit Danilo zu wagen, sie bemüht sich, die Ehe am Leben zu erhalten und die Schwierigkeiten und ungleichen Lebensentwürfe zu überwinden – ihr Bemühen erscheint jedoch Seite um Seite aussichtsloser. Katrin Seddig erzählt eine Geschichte, frei von jeglicher Romantik und rückt dabei Themen in den Mittelpunkt, die unbequem und unromantisch sind und doch wahrscheinlich Bestandteil vieler Ehen und Beziehungen.

“Was ist Liebe überhaupt? Wie fühlt sich das nach längerer Zeit überhaupt an, wenn man nicht mehr ständig nackig auf dem anderen liegt? Und es auch nicht mehr ständig will, aber beleidigt ist, wenn der andere es auch nicht mehr ständig will?”

Katrin Seddig ist mit “Eheroman” nicht nur ein lesenswerter Roman gelungen, sondern sie hat mit Ava auch noch eine unheimlich liebenswerte und authentische Figur geschaffen, die mir beim Lesen sehr ans Herz gewachsen ist. “Eheroman” ist ein humorvoller, trauriger und nachdenklicher Roman, der auch literarisch zu überzeugen weiß.

Die Liebe in groben Zügen – Bodo Kirchhoff

Bodo Kirchhoff wurde 1948 geboren und lebt abwechselnd in Frankfurt am Main und am Gardasee. In Italien gibt er zusammen mit seiner Frau im Sommer Schreibkurse. Bisher erschienen von ihm bereits eine Vielzahl an Romanen, unter anderem “Infanta”, “Parlando”, “Schundroman”, “Wo das Meer beginnt” und “Eros und Asche”. “Die Liebe in groben Zügen” ist sein neuester Roman. Das Buch erschien im vergangenen Jahr und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis. Erst vor kurzem wurde Bodo Kirchhoff in einem sehenswerten Interview vorgestellt.

“Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam.”

In “Die Liebe in groben Zügen” erzählt Bodo Kirchhoff die Geschichte von Vila und Renz. Vila und Renz sind ein miteinander älter gewordenes Ehepaar, die gemeinsame Tochter ist erwachsen und schon länger ausgezogen. In Frankfurt haben sie eine kleine Wohnung, in Italien ein ganzes Haus – dort verbringen sie ihre Sommermonate. Sie haben ein großes Netzwerk an Freunden und Weggefährten, mit denen sie gemeinsam durchs Leben gehen.

“Schon immer hat sie ihn beim Nachnamen genannt, zärtlich rau – sein Bernhard klang ihr zu bieder, zu dumm -, und im Gegenzug schuf er aus ihrem ganzen Namen, Verena Wieland, die Vila, die sie von da an war. Bis auf weiteres, Vila und Renz!”

Vila moderiert die Mitternachtstipps, eine Kultursendung, die es im Fernsehen ins Spätprogramm geschafft hat und dort ums Überleben kämpft. Renz schreibt Drehbücher für Vorabendserien. Ihr Leben verläuft in scheinbar geregelten Bahnen, bis dieser Alltag urplötzlich und in rasender Geschwindigkeit porös wird und Risse bekommt: Vila verliebt sich in den Untermieter ihres italienischen Domizils. Kristian Bühl ist vieles, was Renz nicht ist. Aber auch Renz findet Liebe und Geborgenheit woanders, bei seiner Producerin Marlies, die Brustkrebs im Endstadium hat.  An einer Stelle vergleicht Bodo Kirchhoff alte Paare mit Archiven, “weh dem, der sie öffnet”. Das Archiv von Vila und Renz wird von einem Moment auf den anderen aufgerissen und das Leben der beiden, das zuvor scheinbar so gleichförmig verlief, gerät plötzlich aus dem Takt. Deutlich wird dabei, dass das Leben der beiden schon lange unrund läuft, auch wenn die Erschütterung noch nie so groß gewesen ist, wie jetzt.

“Und trotzdem blieb man zusammen Jahr für Jahr – trennen kann sich jeder, also trennte er sich nicht […].”

Beide durchleben einen Sommer, wie sie ihn zuvor noch nie erlebt haben. Vila stürzt sich beinahe rettungslos und mit einer kaum zu ertragenden Intensität in die aufflammende Liebe zu Bühl, in eine Liebe, die ihr fast wie ein Schrecken und ohne Vorzeichen begegnet. Renz steht hilflos daneben, verweigert es sich selbst, etwas von dem nahezu wahnsinnigen Zustand seiner Frau zu bemerken und doch spürt er, dass sich zwischen ihnen etwas verändert. Ernüchtert muss er feststellen, dass es zwischen ihnen nicht mehr so wird, wie er es sich erträumt hat.

“Das ganze Geheimnis der langen Ehe besteht darin, dass die Dinge von allein funktionieren, am Anfang alle schönen, dann auch die weniger schönen, zuletzt sogar die schrecklichen, die man teilt, und dazwischen die Ausnahmestunden, manchmal auch Ausnahmetage, die das Schlimmste verhindern.” 

Bodo Kirchhoff erzählt jedoch nicht nur die Geschichte von Vila und Renz, sondern auch die von Franz von Assisi und der heiligen Klara. Bühl schreibt über dieses Thema ein Buch und Renz möchte den Stoff in einem Fernsehzweiteiler verarbeiten. Franz und Klara verbinden den Ehemann und den Geliebten, ohne dass Renz dies wirklich ahnt. Die Geschichte von Franz und Klara fließt in die laufende Erzählung mit ein und bildet den Rahmen der Ehe von Vila und Renz, die in große Turbulenzen geraten ist. Gleichzeitig verarbeitet Bodo Kirchhoff in diesem breit angelegten Erzählepos auch seine eigenen traumatischen Erinnerungen, denn es geht auch um den Missbrauch von Jugendlichen im Internat. Dies ist Bühl widerfahren, aber auch dem Autor Bodo Kirchhoff selbst.

Sechs Jahre lang hat Bodo Kirchhoff an seinem Roman “Die Liebe in groben Zügen” gearbeitet. Entstanden ist dabei ein Roman, der beinahe 700 Seiten umfasst. Auf diesen 700 Seiten versammelt der Autor eine Vielzahl an unterschiedlichen Handlungssträngen und Fäden, die trotz ihrer Fülle alle beinahe schon auf wundersame Weise in einander greifen und sich gegenseitig ergänzen. Bei dieser Ideenvielfalt erstaunt es kaum, dass der Autor sich an einer Stelle im Roman sogar seinen eigenen Auftritt verschafft. Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte von Franz und Klara, die bereits so viele Jahrhunderte zurückliegt, doch in die heutige Welt eingewoben wird, als würde sie dahin gehören. Bodo Kirchhoff spart nicht an Anspielungen und Verweisen, so ist es auch kein Zufall, dass Vila und Renz bevorzugt im ehemaligen Hotelzimmer von André Gide nächtigen.

Hauptthema des Romans ist natürlich die Liebe, die alt bewährte Liebe zwischen einem Ehepaar wie Vila und Renz, das schon so lange zusammenlebt, aber auch die frisch entfesselte Liebe, wie die zu Kristian Bühl. An einer Stelle im Roman fragt sich Vila: “[…] war sie krank, neben der Spur, von allen guten Geistern verlassen”? Vila hat gemeinsam mit Bühl einen Zustand an Glück und Zufriedenheit erreicht, der nicht für die Ewigkeit bestimmt ist, der ihr aber erlaubt in einer Tiefe zu fühlen, in der viele Menschen ihr Leben lang nicht fühlen. Wie hoch ist der Preis, den man bereit ist, dafür zu zahlen?

Bodo Kirchhoff webt in “Die Liebe in groben Zügen” einen weit verzweigten Erzählteppich, der mich als Leser förmlich verschluckt und verschlungen hat. Die beschriebenen Personen sind untereinander so vielfältig miteinander verbunden und auch die Geschichte reicht von Frankfurt über Italien bis nach Havanna. Auf einem hohen literarischen Niveau seziert Bodo Kirchhoff in seiner Geschichte die Liebe, die also ganz und gar nicht in groben Zügen beschrieben wird, sondern ganz im Gegenteil: beinahe ausufernd wird ihr Zustand untersucht, doch dabei bleibt der Roman immer fesselnd. Dies ist großartige deutsche Literatur und ich wünsche Bodo Kirchhoff und seinem Roman möglichst viele Leser.

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