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Deutschsprachige Literatur

Drüberleben. Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein – Kathrin Weßling

Kathrin Weßling wurde 1985 in Ahaus geboren und lebt heutzutage in Hamburg. Sie hat bereits zahlreiche Poetry-Slams gewonnen und ist in mehreren Folgen der Sendung “Slam Tour mit Sarah Kuttner” aufgetreten. Texte von ihr wurden in Magazinen wie uMag und jetzt.de publiziert. Ihr Debütroman “Drüberleben” ist aus dem gleichnamigen Blog heraus entstanden.

“Ich bin ein menschlicher Verkehrsunfall. Irgendwann bin ich einfach stehengeblieben, und dann sind Erlebnisse wie LKWs in mich hineingefahren. Man kann sich vorstellen, dass das zu großen Problemen führt. Wenn man nicht ausweicht, geht das einfach immer weiter. Der Unfall wird immer größer, immer unübersichtlicher, und irgendwann stehst du auf der Gegenfahrbahn und fragst dich, was eigentlich zum Teufel gerade passiert ist.”

In “Drüberleben” erzählt Kathrin Weßling von Ida Schumann. Ida steht zum wiederholten Male vor der Tür einer psychiatrischen Klinik, in der Hand einen Zettel mit ihrer Diagnose: F 32.2. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome. Sie hat Angst davor, erneut von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden und weist sich deshalb selbst ein. Ihr Alltag war für sie so nicht mehr zu bewältigen.

“Depressionen. Angstattacken. Ständig Panik. Vor beinahe allem. So sehr, dass ich Angst hatte, die Wohnung zu verlassen. So sehr, dass ich sogar beim Einkaufen geweint habe, wenn ich nicht sofort das Richtige fand, und dann den Laden fluchtartig verlassen habe. […] Es gab eigentlich nichts, das mir keine Angst gemacht hätte.”

Für Ida gibt es nur noch zwei Gefühle, die ihr Leben bestimmen: Angst und Panik. Dazwischen liegt lediglich eine monströse Müdigkeit, verbunden mit dem Gefühl, nie mehr aufstehen zu können. Aus diesem Grund liegt Ida die meiste Zeit im Bett und hat Angst.

Dazu kommt, dass Ida zu viel trinkt. Ihre Wohnung ist verwahrlost. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt und lebt auf einer “Müllkippe, auf der ein Bett schwimmt”. Ida bezeichnet sich selbst als “Menschenmüll”. Dabei würde sie eigentlich gerne ganz anders sein:

“[…] denn du willst ja nicht so sein, du willst ja schneller sein, du willst ja nicht immer müde sein, immer traurig sein, immer ängstlich sein, immer so am Ende sein, immer heulen, immer wieder von vorne anfangen müssen. Du willst ja nicht jeden Morgen das Gefühl haben, dass du schon wieder ganz neu beginnen musst, dass jeder Tag so unvorstellbar riesig und unbezwingbar groß ist, dass du ihn gar nicht besiegen kannst, diesen Tag, du willst nicht jeden Morgen aufwachen und das Gefühl haben, dass du viel zu klein für so große Tage und für so große Aufgaben bist, du willst lieber einfach weitermachen, so wie die anderen, du willst in diesen warmen Fluss zurück, in dem man einfach herumschwimmt und mitschwimmt und mitmacht und morgens aufwacht und einfach aufsteht und weitermacht. Keine Neuanfänge mehr, sondern nur noch Anschlüsse an das Gestern, an das Vorgestern, an irgendwann letzten Monat.”

Kathrin Weßling erzählt Idas Geschichte: Ida, die sich schon immer ausgegrenzt gefühlt hat, anders war, als alle anderen. In der Schule hatte sie kaum Freunde und als ihre einzige Freundin Julia stirbt, bricht für Ida eine Welt zusammen. In der Universität findet sie keinen Anschluss. Sie geht immer häufiger in Kliniken und ihre Umwelt hat immer weniger Verständnis dafür, warum Ida nicht endlich über alles hinwegkommt und normal wird. Kathrin Weßling erzählt von den Monstern in Idas Kopf, die ihre Gedanken zum Rotieren bringen. Dies schlägt sich auch in der Sprache des Buches nieder, die am Anfang abgehackt wirkt, ohne Struktur und sich im Laufe des Textes immer stärker verändert und fließender wird. Genauso, wie sich auch Ida verändert, die darum kämpft wieder gesund zu werden.

“Drüberleben” hat den humorvollen Untertitel “Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein”, doch im Buch selbst spielt Humor eigentlich keine Rolle, viel mehr ist dieser Untertitel ein Hinweis darauf, wie gekonnt die Autorin mit Sprache umgehen und mit Worten jonglieren kann. Dennoch gibt es auch Stellen, an denen ein kleines Augenzwinkern aufblitzt, ironische Abschnitte, in denen Ida sich selbst reflektiert:

“Achttausend Kilo Schwermut. Vierundzwanzig Jahre Risse und Flecken und das Gefühl, dass der Geist nur ein monumentales Denkmal ist in einem Körper, der nie älter geworden ist als achtzehn.”

Im Mittelpunkt des Romans stehen Idas Monster, ihre Zeit und ihr Alltag in der Klinik und die Frage, wie es soweit kommen konnte, dass Ida anders ist. Der Roman ist traurig, stellenweise aber auch wütend, zornig und bitterböse.  Kathrin Weßling kommt ursprünglich aus der Szene des Poetry Slams und dies merkt man ihrem Text auch an, der sehr schnell, sehr verdichtet ist. Stellenweise stehen Stimmungen und Bilder stärker im Fokus als eine kohärente Geschichte. Beim Lesen habe ich mich gefühlt, als säße ich in einem Auto, das ungebremst und mit 200 km, die Autobahn lang rast.

“Ich weine, weil niemand um mich weint, weil ich alleine bin, weil niemand fragen wird, wo ich bleibe, wenn ich nicht komme, weil niemand mich zudeckt und mir Geschichten erzählt, weil niemand mir zeigt, wo der Lichtschalter ist in dieser ganzen Dunkelheit.”

Mich hat der Roman “Drüberleben” vor allem sprachlich überzeugt. Kathrin Weßling ist eine außergewöhnliche, prägnante, frische neue Stimme in der deutschen Literatur. Ich habe sehr viele Sätze markiert, das Buch quillt vor lauter kleiner gelber Post-Its förmlich über. Der Roman ist nicht nur sprachlich auf einem sehr hohen, literarischen Niveau, sondern es handelt sich daneben auch um eine intensive und authentische Auseinandersetzung mit dem Thema Depressionen.

5 Fragen an Kevin Kuhn!

© Harald Geil

© Harald Geil

Wie viele junge Schriftsteller ist auch Kevin Kuhn virtuell unterwegs und es lohnt sich einen Blick auf seine Homepage zu werfen. Kevin Kuhn hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft in Tübingen und Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim studiert. Seit 2010 ist er Lehrbeauftragter am dortigen Institut. “Hikikomori” ist sein Debütroman.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Ursprünglich wollte ich Philosoph werden, hatte das Schreiben auch mit kurzen Aphorismen und philosophischen Abhandlungen begonnen – die Welt in klaren und kurzen Begriffen zu zeichnen, ohne narrative Schnörkel, schien mir damals das Naheliegendste. Aber die mögliche Leserschaft, wie ich sie in den Kommilitonen witterte, schreckte mich schnell ab, so versuchte ich mich erst in Lyrik, dann an Theaterstücken, dann an einem Drehbuch, dann an Kurzgeschichten. In Kurzgeschichten konnte ich das Gedachte mit Leben füllen, eine Bühne bieten. Aber diese wurde schnell zu klein – der Hikikomori entstand aus einer Miniatur, Till und sein Kosmos stießen schnell an Seitengrenzen, brauchten Raum. Und hier sitze ich nun denke, und diese Gedanken brauchen Leben und Platz. Und das ist der Roman.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Einer? Eher unheimlich viele! Alles, was ich lese, die Serien, die ich sehe, Ausstellungen – all das fällt in mich hinein. Gerade ist es eine Kombination aus Breaking Bad (meisterliche Plots und Figurenführung) und Ben Brooks (unmittelbare, treffende Sprache), die mich begleiten. Für den Hikikomori waren es John Wray (sein einzigartiger Außenseiter-Protagonist in „Der Retter der Welt“), Haruki Murakami (seine nahtlose Verschmelzung von Realität und Fantasie) und der Künstler Alberto Zamora Ruiz, für dessen Bild ich besagte Miniatur schrieb.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Morgens zwischen 8 und 10 Uhr ist mein Kopf noch am klarsten und vom Tag unverschont. Der Schreibtisch ein idealer Ort. Dann braucht es Koffein und ein kleines Frühstück, um bis 12 oder 13 Uhr die Spannung zu halten. Danach ist die Luft raus. Den ganzen Mittag, Nachmittag über beriesele ich mich mit Einflüssen. Neuerdings suche ich am Abend immer dasselbe Café, dieselbe Eckbank mit Blick auf die Straße. Da gibt es kein Internet. Nur klassische Musik und einen Hund. Das hilft – im Idealfall – für einen zweiten Schub.

 4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ich lese stets mehrere Bücher gleichzeitig und oft auch nur auszugsweise. Gerade aufgeklappt sind: Willy Vlautin: Motel Life, Jean Echenoz: Blitze, Joyce Carol Oates: Über Boxen und die BELLA triste 33.

 5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Ich rate einem jungen Schriftsteller – und das rate ich auch mir – sich in die Welt zu begeben. Die ist unser Stoff. Die Welt gerade auch in ihren Gefahrensituationen, in ihren Ecken und Kanten, im Fernen und Übersehenen. Dinge tun, die das Eigene verlassen, neu modellieren. Aber auch schreiben. Und das Geschriebene zur Diskussion stellen, sich vom Gedanken lösen, dass es nicht besser ginge. Und dann klappt es auch irgendwann.

Herzlichen Dank für die Beantwortung meiner Fragen!

Hikikomori – Kevin Kuhn

5600Kevin Kuhn wurde 1981 in Göttingen geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft studiert, sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Er war Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhaus München und hat 2012 den Gargonza Arts Award gewonnen. “Hikikomori” ist Kevin Kuhns Romandebüt.

Der Begriff Hikikomori, japanisch für “sich einschließen, gesellschaftlicher Rückzug”, war mir bereits vor Beginn des Romans nicht neu. Zum ersten Mal darüber gestolpert war ich im Rahmen meiner Lektüre von “Ich nannte ihn Krawatte” und war von diesem Phänomen, das vor allem junge Erwachsene betrifft, die sich in ihren Kinderzimmer einschließen und dort über Wochen, Monate oder auch Jahre bleiben, sofort fasziniert.

Im Mittelpunkt von Kevin Kuhns Roman steht Till Tegetmeyer, für dessen Verhalten seine Angehörigen lange Zeit keine Diagnose, keine Sprache, keine Worte finden. Bis sie auf das Phänomen der Hikikomori stoßen.

Till wächst auf den ersten Blick wunschlos glücklich auf; seine Eltern haben  die finanziellen Verhältnisse, um Till viele Dinge zu ermöglichen und ihn zu fördern. Sein Vater ist Schönheitschirurg und seine Mutter Kuratorin in ihrem eigenen Ausstellungsraums. In Till erkennen sie alle möglichen Talente und doch hat er immer wieder Schwierigkeiten. Er besucht eine “freie Waldorfschule” und als er nicht zum Abitur zugelassen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen.

“Er ist nicht wie die anderen zum Abitur zugelassen, soll sein Ich neu orientieren […].”

Till zieht sich in sein Zimmer zurück und beginnt, sich sonderbar zu verhalten. Entfernt seine Möbel, bricht den Kontakt zu seinen Freunden und zu seiner Freundin Kim ab, verbringt viel Zeit vor seinem Computer, hört auf, sich um sich selbst zu kümmern. Von einem Tag auf den anderen weigert er sich am Familienleben weiter teilzunehmen. Stattdessen begibt er sich in eine fiktive Onlinewelt, spielt ein Spiel namens Medal of Honor, in dem er sich verliert, das für ihn der einzige Inhalt seiner immer gleich verlaufenden Tage wird. Die reale Welt hat Till fallen gelassen, deshalb begibt er sich in eine Welt, die auf einem Server zu Hause ist, mitten hinein in ein V2-Raketen-Szenario.

Aus dem Computerspiel heraus entsteht etwas Größeres: Till erschafft sich eine Parallelwelt, die nach seinen Regeln, nach seinen Wünschen funktioniert.

“ich habe etwas vor, kim. ich will zeit und raum selbst bestimmen. das eine rinnt mir durch die finger, dem anderen rinne ich durch die finger. Zumindest will ich selbst bestimmen, was da durchrinnt. alles andere soll an mir abprallen.”

Welt 0. Ein Ort, an den Till und seine Online-Freunde vor der realen Welt flüchten können, ohne ihr Zimmer verlassen zu müssen. Ein Ort, an dem Träume wahr werden können, ohne, dass man dafür wirklich etwas riskieren muss. Ein Ort für all diejenigen, die an den Anforderungen des Alltags, dem Druck, den Verpflichtungen, den Erwartungen zerbrechen.  Auch Till spürt dieses “Gefühl eines permanenten, sich nur langsam lösenden Druck”, der schon so lange auf ihm lastet, dass er ein Teil von ihm geworden ist. Diese Gefühle haben Till in die Isolation getrieben.

“Als wäre mein Fenster ein Bildschirm und alles dahinter lediglich ein Bild, ein altbekannter Desktophintergrund, den ich spaltenweise ausradierte. Für mich, der ich seitdem in der Dunkelheit lebe, gibt es außerhalb nichts mehr. Auch meine Erinnerung daran verblasst. Man muss nur die Tür hinter sich zuziehen, und schon ist man auf der Schwelle zu einer anderen Welt. Zu der Welt, die man in sich trägt, die von der Außenwelt unterdrückt wurde, der man die Luft zum Atmen nahm.”

Gemeinsam mit Till erlebt der Leser, was passieren kann, wenn man aus dieser Parallelwelt nicht mehr zurückkehrt, wenn man sich immer stärker in einer Traumwelt verstrickt und den Weg zurück nicht mehr findet.

In den letzten Wochen und Monaten habe ich eine ganze Reihe an Debütromanen von jungen Autorinnen und Autoren gelesen. Kevin Kuhn hebt sich mit seinem Roman “Hikikomori” wohltuend von dieser Masse an Neuerscheinungen ab. Im Mittelpunkt seines Romans steht die virtuelle Welt, ihre Grenzen, ihre Gefahren, aber auch der Reiz und die Fluchtmöglichkeiten die dieser Ort für Menschen bietet, die an der Gesellschaft, am Druck, an den Anforderungen zerbrechen. Till glaubt in seiner neuen Onlinewelt wieder jemand zu sein, “ein besonderer Mensch” zu sein. Er ist irgendwann nicht mehr in der Lage dazu zu sehen, dass es auch in der Realität Menschen gibt, die sich um ihn sorgen, die sich für ihn interessieren.

Kevin Kuhn beschäftigt sich in seinem Roman mit einem hochaktuellen Thema unserer Gesellschaft und es gelingt ihm mithilfe seiner Hauptfigur Till einige sehr greifbare Einblicke in mögliche Gefahren und Risiken unserer global vernetzten Welt zu geben.

Ich habe “Hikikomori” sehr gerne und mit viel Interesse gelesen. Die Sprache von Kevin Kuhn ist schnörkellos und lässt sich flüssig lesen. Sprachlich stechen sicherlich Tills Briefe und E-Mails an Kim heraus, die mich besonders  begeistert haben. “Hikikomori” ist anders, ungewöhnlich, löst stellenweise die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auf, aber es lohnt sich, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Kevin Kuhn rückt Menschen in den Mittelpunkt, die es unter uns heutzutage zu Dutzenden gibt: Menschen, die sich in der virtuellen Welt verloren haben. Ich habe das Buch mit der Hoffnung zugeklappt, dass Till vielleicht irgendwann einen Weg zurück finden wird.

5 Fragen an Corinna T. Sievers!

© Fabian Henzmann

© Fabian Henzmann

Corinna T. Sievers wurde auf der Insel Fehmarn geboren. Sie studierte Politik, Medizin und Zahnmedizin. Sie hat zwei Kinder und arbeitet als Kieferorthopädin.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Mein erster Roman erschien mir im Traum. Als ich erwachte – es  war ein Morgen auf Mallorca, schon flimmerte die Luft, ich hatte vergessen, das Moskitonetz herabzulassen und war übersät von Beulen – begann ich, ihn aufzuschreiben.  Da beging ich den ersten meiner unzähligen Fehler:  Ich schrieb auf Papier und blieb dabei. Später musste ich in wochenlanger Arbeit alles noch einmal in den Computer übertragen (meine Versuche, dies an ein Schreibbüro zu delegieren, erwiesen sich als vergeblich. Niemand konnte meine Schrift entziffern).

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Ich muss mich in Acht nehmen, niemanden allzu sehr zu bewundern, sonst beginne ich, ihn zu imitieren. Wenn ich drei Seiten von Javier Marias gelesen habe, fange ich an, zu schreiben wie er.  Gott bewahre, wenn ich Charlotte Roche lese. Also lese ich nicht, während ich selbst schreibe.

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Ich schreibe überall – in der S-Bahn, im Café, im Bett mit dem Bein um den Mann geschlungen, den ich liebe. Fast immer nachts. Über Sex am besten zwischen vier und sechs Uhr morgens (manches davon muss ich am nächsten Tag löschen).

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Martin Walser: Ein liebender Mann. Goethe macht sich zum Gespött, indem er sich in die mehr als 50 Jahre jüngere Ulrike verliebt. Rührend:  sein Dialog mit dem eigenen Geschlechtsteil.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Wie viel muss man gelebt haben, um schreiben zu können? Ich rate, noch ein paar Jahre mit dem Debüt zu warten.  Dann kann Pandora  die Büchse öffnen,  und die darin aufbewahrten Plagen kommen in die Welt.

Herzlichen Dank an Corinna T. Sievers für die Beantwortung meiner Fragen!

Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung – Corinna T. Sievers

Corinna T. Sievers, die auf der Insel Fehmarn geboren wurde, wuchs an der Ostsee auf. Sie studierte Politik, Medizin und Zahnmedizin in Hamburg, Frankfurt und Kiel, hat zwei Kinder und arbeitet als Kieferorthopädin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman “Samenklau”.

In  “Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” wird die Geschichte von Ute erzählt. Ute wird 1966 mit einer Hasenscharte und sechs Fingern geboren. Sie wächst in einem Dorf an der Ostsee auf.

“Das Dorf an der Ostsee war klein, von Juni bis September kamen Badegäste, danach herrschte Stille. Der reichste Bauer war Bürgermeister, sein Stellvertreter vermietete Strandkörbe, im Winter flickte er sie. Es gab einen Konsum und eine Post, ein kleines Kaufhaus mit Namen Puck und außerdem eine Fleischersfrau, die nie geheiratet hatte, einen Schuster, den Juwelier und einen Zahnarzt.”

Ute wird als “Kreatur” beschimpft, als “Missgeburt”, als hässliche “Gnomin”. Sie wächst in armen Verhältnissen auf, die Mutter trinkt und kümmert sich nicht um sie, “hätte es die Schwester nicht gefüttert, wäre das Kleine längst tot.” Der Vater hat die Familie wegen Ute verlassen.

“Es ist wegen Ute, dass Heiner fort ist. Er wollte noch einen Sohn, kein Kind mit sechs Fingern. Wenn Ute nicht wäre …”

Ute ist unerwünscht, ungeliebt, in der Schule wird sie ausgeschlossen, sie ist eine Außenseiterin. Das einzige, was ihr hilft, sind Buchstaben, sie liebt es zu lesen, versteckt sich auf einem Heuboden, wo sie mithilfe ihrer Bücher in fremde Welten abtaucht.

“Sie überstand die Vormittage auf dem Pausenhof, das Schubsen und Schreien, ‘Hasenscharte, Hasenscharte!’, weil sie an ihren Heuboden dachte und die Welt, die dort auf sie wartet, eine Welt, die ihr wirklicher erschien als die eigene.”

Ute wird von ihren Mitschülern gequält und gedemütigt. Doch als auch noch ihr Onkel bei ihrer Mutter einzieht, verschlimmert sich ihre Situation noch weiter: Ute wird von ihrem Onkel sexuell missbraucht. Als ihre Schwester Marianne mit sechzehn Jahren von zu Hause auszieht, gibt es keinerlei Grenzen und Schutz mehr und Ute ist am Tage ihren Mitschülern und in der Nacht ihrem Onkel hilflos ausgeliefert.

“Ute blieb stumm, denn Weinen half nichts, das hatte sie gelernt.”

Neben all dem Leid, dem Schrecklichen, dem kaum zu Ertragenden, erzählt Corinna T. Sievers aber auch von einer zarten Liebe. Denn da gibt es auch noch Utes Mitschüler Volkan, ein “Kanake”, der – ähnlich wie Ute – ein Leben als Sonderling, als Außenseiter führt, weil er Ausländer ist. Beide nähern sich ganz vorsichtig an.

Corinna T. Sievers erzählt auf knapp 100 Seiten von einer Zeitspanne, die fünfzehn Jahre umfasst. Das Buch ist sehr schwer zu ertragen, sehr schwer auszuhalten. Die Sprache von Corinna T. Sievers ist nüchtern, reduziert, verknappt und wirkt dadurch umso stärker, umso schockierender. Der Schock verstärkt sich dadurch, dass Utes Geschichte wahr ist. Der Schock verstärkt sich durch einen Brief, der dem Romantext angehängt ist. “Schön ist das Leben und Gottesherrlichkeit in seiner Schöpfung” erzählt von Armut, zerrütteten Verhältnissen, Leid, Einsamkeit und Gewalt. Das Buch erzählt aber auch von den Menschen, die wegschauen, die lieber nicht hinsehen möchten. Utes Mutter und Großmutter wissen, was geschieht, doch dulden sie beide stillschweigend die Taten des Onkels. Lieber zuschauen, als eingreifen. Das Buch erzählt darüber hinaus auch von Rache, davon, wie Ute versucht ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich zu wehren, gegen ihre Mitschüler, ihren Onkel und ihre Mutter.

Beim Lesen von “Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” hat sich in meiner Brust manchmal ein Schmerz ausgebreitet, mir fiel das Atmen schwer und die Augen wurden feucht. Ute erleidet unvorstellbare Grausamkeiten und wird damit alleine gelassen. Mich haben die Taten ihrer Peiniger wütend gemacht, ärgerlich, genauso wie das stillschweigende Erdulden ihrer Mutter. Und doch fiel es mir schwer, ihre Rache an ihren Peinigern einzuordnen und richtig zu bewerten. Ich glaube, dass dies einer der interessantesten Diskussionspunkte des Romans sein könnte: hat Ute, bei alldem, was sie erdulden musste, wirklich das Recht sich zu wehren? Ist Selbstjustiz ein Mittel, zu dem man greifen sollte? Gibt es Taten, die es rechtfertigen, dass man das Gesetz in die eigene Hand nimmt und über Leben und Tod anderer Menschen entscheidet?

“Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung” ist ein besonderes, ein außergewöhnliches Buch. Ein Buch, das sich abhebt von all den anderen Neuerscheinungen heutzutage. Das Buch zu lesen ist schwer und das, was man liest auszuhalten und zu ertragen ist noch schwerer, aber ich glaube, dass es sehr wichtig ist. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich mit Utes Geschichte zu beschäftigen und möchte mich abschließend den Worten aus dem Brief anschließen, der den Abschluss des Buches bildet:

“Ihr alle […] seid Teil einer Gesellschaft, in der Kinder missbraucht werden und man so tut, als gäbe es dieses Abscheuliche nicht.

Ich will euch die Augen öffnen.”

Rainer Moritz über Richard Yates

Rainer Moritz wurde 1958 in Heilbronn geboren und arbeitet heutzutage als Germanistik, Literaturkritiker und Autor. Er leitet seit 2005 das Literaturhaus in Hamburg. 2011 erschien sein letzter Roman “Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück“. Ich freue mich sehr darüber, dass Rainer Moritz bereit war, meine Fragen zu beantworten.

 

© Gunter Glücklich

© Gunter Glücklich

Woher kommt bei Ihnen das Interesse, über Richard Yates zu schreiben?

Vor Yates‘ Entdeckung in Deutschland 2002 war mir der Autor nur als Name ein Begriff. Doch als ich dann „Zeiten des Aufruhrs“ zu lesen begann, war sofort das Bedürfnis da, dieses Werk gründlich kennenzulernen – eine meiner schönsten Leseerfahrungen der letzten Jahren. Aus dieser Erfahrung habe ich mich dann vor drei, vier Jahren detaillierter mit Yates‘ Leben und Werk befasst und daraus einen Abend gemacht, mit dem ich zusammen mit der Schauspielerin Leslie Malton verschiedentlich aufgetreten bin. Aus diesen Abenden wiederum entstand der Wunsch, einen biografischen Essay über Yates zu schreiben – eine Idee, die bei seinem deutschen Verlag auf offene Ohren stieß.

Welches Buch von Yates hat Sie am meisten beeindruckt?

Ganz vorne stehen „Zeiten des Aufruhrs“ und „Easter Parade“, daneben einiger seiner Kurzgeschichten.

Wie lang haben Sie dafür gebraucht, das Buch zu schreiben?

Das kann ich – siehe oben – gar nicht mehr genau sagen, weil sich das von der Idee bis zur Ausführung über einen längeren Zeitraum erstreckt hat. Als ich dann alle Materialien beisammen hatte, hat es vielleicht ein halbes Jahr gedauert, bis der Text stand.

Hatten Sie bei der Erstellung des Buches Kontakt zu Angehörigen von Richard Yates oder auch Unterstützung und Hilfe? Auf welche Quellen haben Sie vor allem zurückgegriffen?

Die unübertroffene Hauptquelle war natürlich Blake Baileys sehr umfangreiche Biografie „A Tragic Honesty“ (2003), die meisterhaft Yates‘ Lebensstationen recherchiert und nacherzählt. Das ließ sich von Deutschland aus nicht überbieten, zumal es mir vor allem darum ging, Leser, die Yates noch nicht kennen, auf sein Werk neugierig zu machen. Dazu habe ich mich mit der neueren wissenschaftlichen Literatur zu Yates befasst, und sowohl mit Blake Bailey als auch mit Yates‘ Tochter Monica Mailwechsel geführt.

Könnten Sie sich vorstellen, ein ähnliches Buch auch über einen weiteren Schriftsteller zu schreiben?

Ja, das kann ich, aber welcher Autor das sein könnte, weiß ich im Moment noch nicht.

Wir dürfen also gespannt sein und uns freuen! Herzlichen Dank an Rainer Moritz für die Beantwortung meiner Fragen!

Der fatale Glaube an das Glück: Richard Yates – sein Leben, sein Werk – Rainer Moritz

Richard Yates ist ein faszinierender Schriftsteller, den ich bereits vor einiger Zeit in einer kleinen Hommage auf meinem Blog vorgestellt habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass es – nun endlich auch auf Deutsch – eine Möglichkeit gibt, Richard Yates näher kennenzulernen. Auf 200 Seiten und in zwölf Kapiteln lädt Rainer Moritz, der selbst Schriftsteller ist und das Literaturhaus in Hamburg leitet, dazu ein, sich mit Richard Yates, seinen Büchern und seinem Leben zu beschäftigen.

Rainer Moritz beginnt seine Einführung mit Richard Yates Tod, den dieser einsam und kaum noch beachtetet, in Alabama stirbt.

“Tuscaloosa, US-Bundesstaat Alabama. Keine Stadt, in der man auf Dauer leben möchte. Keine Stadt, in der man sterben möchte.”

Zu Lebzeiten war Yates zwar bei seinen Schriftstellerkollegen beliebt, doch ansonsten gelang ihm mit seinen Veröffentlichungen kaum ein nennenswerter Erfolg. Eine Tatsache, unter der er sein ganzes Leben lang gelitten hat. Dieses Phänomen des beinahe schon vergessenen Schriftstellers, dessen Bücher beinahe spurlos aus den Regalen verschwinden, spielt besonders zu Beginn der Einführung eine wichtige Rolle. Rainer Moritz beschreibt, wie es dazu kommen konnte, dass sich über Yates Werk “ein dicht gewebter Mantel des Vergessens legte” und wie es gelungen ist, ihn und sein Werk dem Vergessen wieder zu entreißen. Einen großen Anteil daran hatte der Schriftsteller Stewart O’Nan, der den vielbeachteten Essay “The Lost World of Richard Yates” schrieb:

“Wie kann ein Autor, der bei seinen Kollegen derart anerkannt und sogar geliebt war, ein Autor der fähig ist, seine Leser so tief zu bewegen, praktisch vergriffen sein, und das in so kurzer Zeit? Wie ist es möglich, dass ein Autor, dessen Arbeiten die Verlorenheit des Zeitalters der Angst veranschaulichen, genauso treffend wie die Arbeiten von Fitzgerald es mit dem Jazz-Zeitalter getan haben, ein Autor, der Ikonen der amerikanischen Literatur wie Raymond Carver und Andre Dubus beeinflusst hat, ein Autor, der in seiner Prosa und der Wahl seiner Charaktere so gerade und direkt ist – wie kann es sein, dass ein solcher Autor jetzt nur noch über Sonderbestellungen oder am staubigsten hinteren Ende im Erdgeschoß der Antiquariate, wo die Belletristik-Abteilung sich versteckt, gefunden werden kann? Und wie kommt es, dass das niemand weiß? Wie kommt es, dass niemand etwas dagegen tut?”

 Stewart O’Nans flammender Appell stellt so etwas wie den Startschuss der Wiederentdeckung von Richard Yates und seinen Werken dar.

Rainer Moritz setzt in seiner Einführung unterschiedliche Schwerpunkte: zum einen setzt er das Leben von Yates sehr stark mit dessen Werken in Bezug, zieht Verbindungen, weist Ähnlichkeiten und Parallelitäten auf. Diese Abschnitte habe ich als sehr spannend empfunden, da es Rainer Moritz gelingt, deutlich zu machen, wie erstaunlich hoch der autobiographische Anteil in den Texten von Richard Yates ist – eine Tatsache, die mir vorher nicht bewusst gewesen ist. Zum anderen stellt Rainer Moritz Richard Yates in all seiner tragischen Existenz dar:

“Er tat sich schwer, selbst kurze Distanzen zu Fuß zurückzulegen; für Notfälle stand ein Rollstuhl für den weißhaarigen und weißbärtigen Mittsechziger bereit. Er trank wie eh und je, rauchte, vier Packungen Zigaretten am Tag, litt unter furchterregenden Hustenanfällen und Atembeschwerden, sodass er gezwungen war, sich regelmäßig Sauerstoff zuzuführen, und er wohnte in bescheidensten Verhältnissen.”

Er berichtet über die Lehrtätigkeit von Richard Yates, der an der Universität nie wirklich glücklich wurde, immer eine “kuriose” Randfigur blieb und am liebsten mit seinen Studenten Werke von Gustave Flaubert, F. Scott Fitzgerald oder auch Ford Madox Ford besprach.

Durch die Einführung von Rainer Moritz wird deutlich, dass das Leben von Richard Yates ein stetiger Wechsel aus Hoffnungen, Enttäuschungen und dem verzweifelten Versuch wieder Fuß zu fassen, waren. Nach jeder Enttäuschung – seine Abstecher in die Politik und nach Hollywood stechen dabei heraus – hat sich die Situation immer weiter verschlimmert und dennoch hat Richard Yates, alleine in seinem chaotischen, verdreckten, kleinen Zimmer, nie aufgehört zu arbeiten. Sein Leben war das Schreiben – Schreiben war sein Leben. Richard Yates ist sicherlich kein einfacher Mensch gewesen und doch wünschte ich mir, dass ich ihn hätte kennenlernen dürfen.

Rainer Moritz bietet in seinem Buch eine interessante und vielschichtige Einführung in das Leben und Werk von Richard Yates, über den man viel erfährt. Beim Lesen ist mir immer wieder das Herz schwer geworden, da Richard Yates ein stellenweise wirklich miserables, erbarmungswürdiges Leben geführt hat. Toll fand ich auch die kleinen “Querverweise”; ich wusste nicht, dass Yates zum Beispiel auch in den Romanen von Nick Hornby und Benedict Wells erwähnt wird. Trotz vieler Fakten, schreibt Rainer Moritz sehr flüssig, sehr lesbar, beinahe schon als würde man einen Richard Yates Roman lesen – so wie Yates beschrieben wird, wirkt er fast wie eine Figur aus seinen eigenen Büchern. Ich habe auch immer wieder die eigene Begeisterung für Richard Yates bei Rainer Moritz herausgelesen.

“Der fatale Glaube an das Glück” ist ein informativer Einstieg in das Leben und Werk von Richard Yates und ich kann nur jedem empfehlen, es zu lesen. Lest “Der fatale Glaube an das Glück” und lest Yates – unbedingt und sofort.

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