Kathrin Weßling wurde 1985 in Ahaus geboren und lebt heutzutage in Hamburg. Sie hat bereits zahlreiche Poetry-Slams gewonnen und ist in mehreren Folgen der Sendung “Slam Tour mit Sarah Kuttner” aufgetreten. Texte von ihr wurden in Magazinen wie uMag und jetzt.de publiziert. Ihr Debütroman “Drüberleben” ist aus dem gleichnamigen Blog heraus entstanden.
“Ich bin ein menschlicher Verkehrsunfall. Irgendwann bin ich einfach stehengeblieben, und dann sind Erlebnisse wie LKWs in mich hineingefahren. Man kann sich vorstellen, dass das zu großen Problemen führt. Wenn man nicht ausweicht, geht das einfach immer weiter. Der Unfall wird immer größer, immer unübersichtlicher, und irgendwann stehst du auf der Gegenfahrbahn und fragst dich, was eigentlich zum Teufel gerade passiert ist.”
In “Drüberleben” erzählt Kathrin Weßling von Ida Schumann. Ida steht zum wiederholten Male vor der Tür einer psychiatrischen Klinik, in der Hand einen Zettel mit ihrer Diagnose: F 32.2. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome. Sie hat Angst davor, erneut von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden und weist sich deshalb selbst ein. Ihr Alltag war für sie so nicht mehr zu bewältigen.
“Depressionen. Angstattacken. Ständig Panik. Vor beinahe allem. So sehr, dass ich Angst hatte, die Wohnung zu verlassen. So sehr, dass ich sogar beim Einkaufen geweint habe, wenn ich nicht sofort das Richtige fand, und dann den Laden fluchtartig verlassen habe. […] Es gab eigentlich nichts, das mir keine Angst gemacht hätte.”
Für Ida gibt es nur noch zwei Gefühle, die ihr Leben bestimmen: Angst und Panik. Dazwischen liegt lediglich eine monströse Müdigkeit, verbunden mit dem Gefühl, nie mehr aufstehen zu können. Aus diesem Grund liegt Ida die meiste Zeit im Bett und hat Angst.
Dazu kommt, dass Ida zu viel trinkt. Ihre Wohnung ist verwahrlost. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt und lebt auf einer “Müllkippe, auf der ein Bett schwimmt”. Ida bezeichnet sich selbst als “Menschenmüll”. Dabei würde sie eigentlich gerne ganz anders sein:
“[…] denn du willst ja nicht so sein, du willst ja schneller sein, du willst ja nicht immer müde sein, immer traurig sein, immer ängstlich sein, immer so am Ende sein, immer heulen, immer wieder von vorne anfangen müssen. Du willst ja nicht jeden Morgen das Gefühl haben, dass du schon wieder ganz neu beginnen musst, dass jeder Tag so unvorstellbar riesig und unbezwingbar groß ist, dass du ihn gar nicht besiegen kannst, diesen Tag, du willst nicht jeden Morgen aufwachen und das Gefühl haben, dass du viel zu klein für so große Tage und für so große Aufgaben bist, du willst lieber einfach weitermachen, so wie die anderen, du willst in diesen warmen Fluss zurück, in dem man einfach herumschwimmt und mitschwimmt und mitmacht und morgens aufwacht und einfach aufsteht und weitermacht. Keine Neuanfänge mehr, sondern nur noch Anschlüsse an das Gestern, an das Vorgestern, an irgendwann letzten Monat.”
Kathrin Weßling erzählt Idas Geschichte: Ida, die sich schon immer ausgegrenzt gefühlt hat, anders war, als alle anderen. In der Schule hatte sie kaum Freunde und als ihre einzige Freundin Julia stirbt, bricht für Ida eine Welt zusammen. In der Universität findet sie keinen Anschluss. Sie geht immer häufiger in Kliniken und ihre Umwelt hat immer weniger Verständnis dafür, warum Ida nicht endlich über alles hinwegkommt und normal wird. Kathrin Weßling erzählt von den Monstern in Idas Kopf, die ihre Gedanken zum Rotieren bringen. Dies schlägt sich auch in der Sprache des Buches nieder, die am Anfang abgehackt wirkt, ohne Struktur und sich im Laufe des Textes immer stärker verändert und fließender wird. Genauso, wie sich auch Ida verändert, die darum kämpft wieder gesund zu werden.
“Drüberleben” hat den humorvollen Untertitel “Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein”, doch im Buch selbst spielt Humor eigentlich keine Rolle, viel mehr ist dieser Untertitel ein Hinweis darauf, wie gekonnt die Autorin mit Sprache umgehen und mit Worten jonglieren kann. Dennoch gibt es auch Stellen, an denen ein kleines Augenzwinkern aufblitzt, ironische Abschnitte, in denen Ida sich selbst reflektiert:
“Achttausend Kilo Schwermut. Vierundzwanzig Jahre Risse und Flecken und das Gefühl, dass der Geist nur ein monumentales Denkmal ist in einem Körper, der nie älter geworden ist als achtzehn.”
Im Mittelpunkt des Romans stehen Idas Monster, ihre Zeit und ihr Alltag in der Klinik und die Frage, wie es soweit kommen konnte, dass Ida anders ist. Der Roman ist traurig, stellenweise aber auch wütend, zornig und bitterböse. Kathrin Weßling kommt ursprünglich aus der Szene des Poetry Slams und dies merkt man ihrem Text auch an, der sehr schnell, sehr verdichtet ist. Stellenweise stehen Stimmungen und Bilder stärker im Fokus als eine kohärente Geschichte. Beim Lesen habe ich mich gefühlt, als säße ich in einem Auto, das ungebremst und mit 200 km, die Autobahn lang rast.
“Ich weine, weil niemand um mich weint, weil ich alleine bin, weil niemand fragen wird, wo ich bleibe, wenn ich nicht komme, weil niemand mich zudeckt und mir Geschichten erzählt, weil niemand mir zeigt, wo der Lichtschalter ist in dieser ganzen Dunkelheit.”
Mich hat der Roman “Drüberleben” vor allem sprachlich überzeugt. Kathrin Weßling ist eine außergewöhnliche, prägnante, frische neue Stimme in der deutschen Literatur. Ich habe sehr viele Sätze markiert, das Buch quillt vor lauter kleiner gelber Post-Its förmlich über. Der Roman ist nicht nur sprachlich auf einem sehr hohen, literarischen Niveau, sondern es handelt sich daneben auch um eine intensive und authentische Auseinandersetzung mit dem Thema Depressionen.