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Deutschsprachige Literatur

Deutscher Buchpreis 2012 – Shortlist

Deutscher-Buchpreis-2012Mit Spannung wurde die Shortlist des Deutschen Buchpreis 2012 erwartet, heute wurden die Namen der sechs Finalisten veröffentlicht:

  • Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus (C.H. Beck, Januar 2012)
  • Wolfgang Herrndorf: Sand (Rowohlt.Berlin, November 2011)
  • Ursula Krechel: Landgericht (Jung und Jung, August 2012)
  • Clemens J. Setz: Indigo (Suhrkamp, September 2012)
  • Stephan Thome: Fliehkräfte (Suhrkamp, September 2012)
  • Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes (Suhrkamp, August 2012)

Jurysprecher Andreas Isenschmid begründet die getroffene Auswahl bei SPIEGEL Online folgendermaßen:

“Manches ging recht schnell, um anderes hatte die Jury lang, hart und leidenschaftlich zu ringen. Wir hatten Spaß, gewannen Einsichten und alle mussten im freundschaftlichen Streit um die besten sechs Bücher der Saison auch ihre Verluste einstecken.” […] Entstanden sei eine Liste, so Isenschmid, “auf der drei Titel auf je andere, formal allemal aufregende Weise die deutsche Nachkriegsgesellschaft erkunden, und drei, ebenso unterschiedlich, existentielle Selbstprüfungen in poetisch kühnen Fiktionen unternehmen.”

Ich bin schon sehr gespannt, wer am Ende den Deutschen Buchpreis gewinnen wird, auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht unbedingt glücklich mit der Zusammensetzung der Shortlist bin. Ich hätte mir von der Jury ein bisschen mehr Mut zu einer außergewöhnlichen Entscheidung gewünscht, die ich so auf der Shortlist leider nicht wiederfinde. Vor allem die Nominierung von Wolfgang Herrndorf war für mich vorhersehbar und ein Stück weit enttäuschend, er hat dieses Jahr mit “Sand” bereits einen größeren Preis gewinnen können.

Leider hat es keines der Bücher, die ich bereits gelesen habe auf die Shortlist geschafft. Ich hätte es vor allem “Sunrise” und “Ich nannte ihn Krawatte” gewünscht. Überhaupt finde ich es schade, dass sich mit Ursula Krechel lediglich eine Frau auf der Shortlist wiederfindet. Von der Shortlist lesen möchte ich unbedingt noch “Fliehkräfte” von Stephan Thome und “Indigo” von Clemens J. Setz.

Ich bin schon gespannt, für wen sich die Jury entscheiden wird! 🙂

5 Fragen an Barbara Slawig!

© Mandy Simon

© Mandy Simon

Die 1956 geborene Barbara Slawig arbeitet seit ihrem Ausstieg aus der Wissenschaft als Übersetzerin und Schriftstellerin. Im Jahr 2000 erschien ihr erster Roman und 2009 ihr erster Krimi unter dem Pseudonym Carla Rot. Barbara Slawig hat eine interessante und sehenswerte eigene Homepage, auf der man einiges über sie erfährt.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Das wollte ich gar nicht. Mein Berufsziel war eigentlich, Biologin zu werden, und genau das bin ich zunächst auch geworden. Mit dem Schreiben habe ich erst begonnen, als ich promoviert war und begriffen hatte, dass die Forschung doch nichts für mich ist. Zunächst einmal musste ich dafür auch einen eigenen Zugang zur Literatur finden, denn mit dem, was uns im Deutschunterricht nahegebracht werden sollte, konnte ich wenig anfangen. Die Freude an der Literatur habe ich erst entdeckt, als ich  begonnen habe, englischsprachige Romane im Original zu lesen. In meinen literarischen Vorlieben bin ich bis heute hoffnungslos anglophil. Was auch damit zusammenhängt, dass im englischen Sprachraum kein so tiefer Graben zwischen der E- und der U-Literatur verläuft. Dort gibt es einen breiten Überschneidungsbereich, in dem Autoren literarisch anspruchsvoll und spannend schreiben.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Da gab es im Lauf der Jahre mehrere. Die erste war Ursula LeGuin, bald gefolgt von Virginia Woolf. Deutlich später Gabriel Garcia Marquez und noch später Joan Didion und John Banville.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Zu Hause an meinem Schreibtisch. Wenn ich feststecke, hilft mir allerdings oft ein Ortswechsel, dann sitze ich gern mit Notizbuch und Stift im Café oder im Park. Seit einiger Zeit treffe ich mich außerdem einmal wöchtlich mit Kolleginnen zum Arbeiten in einem Lokal. Man sollte es nicht glauben, aber das sind hochproduktive Stunden.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„Angerichtet“ von Herman Koch.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Geduldig zu sein – mit sich und mit dem Buchmarkt. Sich immer wieder zu fragen, welche Art von Texten man schreiben möchte, und eigene Kriterien dafür zu entwickeln, was einen guten Text ausmacht. Und natürlich: ständig zu schreiben.

Herzlichen Dank an Barbara Slawig für die Beantwortung meiner Fragen!

Visby – Barbara Slawig

71MHE1SHliLBarbara Slawig wurde 1956 in Braunschweig geboren und lebt heutzutage in Berlin. Bevor sie Schriftstellerin wurde, war sie in der Wissenschaft aktiv: sie studierte Biologie und verfasste eine Doktorarbeit über Meningitis-Epidemien in Afrika. Bereits seit zwanzig Jahren übersetzt sie englischsprachige Belletristik und schreibt auch selbst Romane und Erzählungen.

“Yesterday don’t matter cause it’s gone.”

In “Visby” erzählt Barbara Slawig die Geschichte von Dhanavati, einer jungen Frau, deren Mutter – als sie fünf Jahre alt war – bei Visby von den Klippen sprang. Dhanavati hatte zuvor gemeinsam mit ihrer Mutter in einer spirituellen Kommune auf Gotland gelebt – danach veränderte sich ihr Leben schlagartig und sie musste zurück nach Deutschland zu Verwandten ziehen. Eglund, der Führer ihrer Kommune, wurde wegen Drogenhandels verhaftet. Adrian – der mit Dhanavati und ihrer Mutter – in der Kommune gelebt hatte, hatte zwar versprochen, sich um sie zu kümmern, doch auch er lässt sie alleine.  Zwanzig Jahre später möchte Dhanavati herausfinden, was damals mit ihrer Mutter passiert ist: ist sie freiwillig gesprungen? Wurde sie gezwungen? Aus welchen Gründen ist es damals soweit gekommen? Dhanavati möchte Antworten auf diese bohrenden Fragen, möchte Leerstellen füllen und herausfinden wer ihr Vater ist.

Barbara Slawig erzählt Dhanavatis Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Zu Beginn des Buches lernt man Annika kennen, Adrians Partnerin. Nachdem Dhanavati ihre Suche nach Antworten begonnen hat – für die sie den Privatdetektiv Lee engagiert hat –, hat sie auch Adrian kontaktiert, der danach verschwunden ist.

“Drei Monate lang hatte ich mir vorgestellt, dass Adrian zu ihr gefahren war. Zu seinem ersten Kind, dem, das er sich ausgesucht hatte. Ich hatte mir vorgestellt, dass er glücklich war. Endlich mit der Vergangenheit im Reinen. Im Frieden mit ihrer toten Mutter. Ich war wütend gewesen, ich hatte mich verraten und hilflos gefühlt. Aber ich hatte wenigstens geglaubt, dass ich wüsste, weshalb er gegangen war.”

Die Angst, dass die Vergangenheit sie irgendwann wieder einholen könnte, hat Annika schon immer umgetrieben. Das Wissen um Adrians Vergangenheit, über die er kaum je gesprochen hat, war für sie etwas, das stets präsent war, egal wie viel sie und Adrian selbst verbunden hat. Dhanavati und ihre tote Mutter lauern Annika in Form eines Schreckgespensts seit Jahren in der Dunkelheit auf.

“Über die Jahre, bevor wir uns begegnet sind, wusste ich noch immer fast nichts. Er hatte zusammen mit Gisela Reinerts in einer religiösen Kommune auf Gotland gelebt, er hatte sie geliebt und ihr versprochen, sich immer um ihre Tochter zu kümmern. Obwohl es nicht seine Tochter war. Wie er sagte. Wer war dann der Vater? Jemand, der auch dort auf Gotland lebte? Warum hatte sich die Kommune aufgelöst? Wann war Gisela gestorben? Wie war Gisela gestorben? Was glaubte Adrian ihrer Tochter heute noch schuldig zu sein? Woraus bestand der Müll in seinem Leben?”

Zu Beginn dieser Reise in die Vergangenheit ahnen weder Annika  noch Dhanavati, dass diese nicht nur ihr eigenes Leben durcheinanderbringt, sondern auch das, von einigen anderen Menschen.

Barbara Slawig erzählt von einer spannenden und aufregenden Reise in die Vergangenheit, angetrieben von einer jungen Frau, die glaubt, nicht zufrieden weiterleben zu können, solange sie keine Antworten auf ihre Fragen findet – diese Sehnsucht führt Dhanavati zwischenzeitlich sogar bis nach Riga und dabei bringt sie nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr.

“Es war alles so lange her. Es war so unwichtig geworden. Tot. Aber warum blieb dann trotzdem diese bohrende Sehnsucht, diese Trauer, die mit nichts in Verbindung stand? Unerklärt, unbeeinflusst – als ginge es gar nicht um Mutter und Kindheit und den unbekannten Vater; aber worum ging es dann?”

“Visby” wird von den Erzählungen Annikas und Dhanavati eingerahmt, beide Erzählstränge sind miteinander verflochten, ergänzen sich gegenseitig, denn beide Frauen erleiden dasselbe Schicksal: ein Mensch verschwindet urplötzlich aus ihrem Leben und sie bleiben alleine zurück – mit offenen Fragen und ohne Antworten. In “Visby” verschwimmen die herkömmlichen Genregrenzen und –definitionen und zwischendurch habe ich schon fast geglaubt, einen Krimi zu lesen. Es gibt teilweise so spannende Stellen, dass ich zwischendurch das Buch kaum noch aus der Hand legen konnte. Im Mittelpunkt des Romans steht für mich aber das kaum fassbare Konstrukt der Vergangenheit, das das Leben der Figuren prägt und bestimmt und auch die Grenzen dieses Konstrukts. Wann ist es möglicherweise sinnvoller, mit der Vergangenheit abzuschließen, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Für beide Frauen, für Annika und Dhanavati, endet “Visby” weniger als Reise zu dem, was sie in der Vergangenheit zu finden gehofft haben, denn als Reise zu sich selbst, zu ihrer eigenen Kraft und Stärke. “Visby” schließt mit Annikas Erkenntnis, dass man nicht auf alle Fragen Antworten erhalten muss, um weiterleben zu können:

“Trotzdem fühle ich mich befreit. Vielleicht weil ich einfach genug gefragt habe. All meine Fragen habe ich hier abgeladen. Dort unten liegen sie, irgendwo auf den Wiesen, zwischen den Bäumen, der Wind treibt sie umher, manche bleiben an abgestorbenen Farnwedeln hängen und zerfallen gemeinsam mit den Pflanzen zu Humus und einer Mixtur von Düften, andere wehen aufs Meer hinaus und versinken im Wasser.”

Das Grundgefühl, das ich aus “Visby” mitnehme, ist sicherlich am besten in dem Zitat zusammengefasst, das dem Roman vorangestellt ist und auch meiner eigenen Rezension: “Yesterday don’t matter cause it’s gone.” “Visby” ist ein schöner Roman, der literarisch vielfältig ist und viele unterschiedliche Facetten zu bieten hat. Beim Lesen merkt man immer wieder, dass Barbara Slawig ursprünglich aus der Wissenschaft kommt, den ein gewisser Wissenschaftskontext spielt auch im Roman eine Rolle (ganz amüsant sind auch für mich etwas zum Teil untypische Wendungen, wenn zum Beispiel jemand als Mikrobe beschimpft wird).

Mich hat bereits das wunderschöne Cover von “Visby” verzaubert und auch der Inhalt hat mich nicht enttäuscht. Ein toller Roman, der sich leicht und flott lesen lässt und doch, zwischen den Zeilen, sehr viel Wichtiges und Bedeutendes verbirgt. Ich wünsche “Visby” viele Leser, die sich darauf einlassen wollen, dieses zu entdecken.

Ambra – Sabrina Janesch

Download (81)Sabrina Janesch ist erst 27 Jahre alt, doch sie hat bereits einige Erfolge vorzuweisen. Sie hat Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Polonistik studiert. Sie hat den O-Ton-Literaturwettbewerb des NDR gewonnen, war Stipendiation des Schriftstellerhauses Stuttgart und des LCB. 2009 war sie die erste Stadtschreiberin Danzigs – ihre Erlebnisse und Erfahrungen lassen sich in einem Blog nachlesen.

Auch wenn der Ort, an dem “Ambra” spielt, nicht namentlich genannt wird, ist mir schon früh klargeworden, dass es sich bei der Stadt am Meer, um die Stadt Danzig handeln muss.

“[…] in dieser Stadt hat jeder ein Geheimnis und jeder ein Schweigen, das er darüberlegt.”

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Kinga, benannt nach der heiligen Kunigunde von Polen, eine junge Frau aus Deutschland, deren Vater gestorben ist. Nach Danzig verschlägt es sie, weil ihr Vater ihr ein überraschendes Erbe hinterlassen hat: ein Haus in Danzig. Kingas Vater hinterlässt nicht nur diese Wohnung, sondern es hält sich darin auch noch die polnische Verwandtschaft Kingas auf, von deren Existenz sie zuvor nichts geahnt hatte. Kinga beschließt, nach Danzig zu reisen, um sich das Haus anzuschauen und ihre Verwandten kennenzulernen.

In Danzig trifft Kinga auf Bartosz, ihren Cousin, der traumatisiert aus dem Krieg im Irak zurückgekehrt ist und Schwierigkeiten hat, sich im Alltag zu Hause wieder zurecht zu finden.

“[…] mit dem bisschen Krieg, musste er gedacht haben, würde er schon fertig werden, der Krieg, so hatte man ihm gesagt, dass sei vor allem eine Menge Sand, der sich gerne in die Uniform und hinein in die Unterwäsche stielt, in die Fältchen der Genitalien legt und so lange scheuert, bis man wund ist wie ein Baby und sich anstrengen muss, sich nicht andauernd in den Schritt und ins Gesäß zu fassen.”

Sie lernt Brunon und Bronka kennen, ihren Onkel und ihre Tante – Bronka, die “als Mutter der Familie” eine Naturgewalt ist, der sich jeder beugen muss. In dem Haus, das ihr Vater ihr vererbt hat, lebt sie zusammen mit Albina und Renia, für die sie mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfindet. Kinga beschließt in Danzig zu bleiben und beginnt damit, in einem kleinen Varieté zu arbeiten, in dem auch Renia arbeitet.

Die Geschichte, die Sabrina Janesch erzählt, ist verschachtelt und besteht aus mehreren zeitlichen Ebenen und Handlungsebenen, was es schwierig macht, die Geschehnisse zusammenzufassen. Es gibt zeitliche Sprünge, die Erzählung bewegt sich ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Leser taucht ab in die Familiengeschichte der Myszas und wird dann überrascht von kursiven Einschüben, in denen man plötzlich hineinversetzt wird in die irakische Wüste. Und dann gibt es da auch noch Tilmann Kröger, Stadtschreiber Danzigs, bei dem einem das Gefühl überkommt, dass er selbst gerade an “Ambra” schreiben könnte. Sein Buchprojekt handelt “von einer Stadt am Meer […], einer etwas sonderbaren Protagonistin, außerdem von einer ungewöhnlichen Familiengeschichte.”

Zusammengehalten werden die einzelnen Handlungsfäden durch einen mythisch aufgeladenen Bernsteinanhänger: “Alles, was geschehen ist, hängt mit dem Anhänger zusammen.”

Sabrina Janesch ist mit “Ambra” ein stilles, ein ruhiges Buch gelungen, das jedoch sehr viel in sich verbirgt. Es gibt immer wieder sehr poetische Stellen, in denen ich mich fast verlieren konnte. Beim Lesen entwickelte sich bei mir irgendwann das Gefühl, als würden mich die Wellen vor Danzig langsam auf und ab schaukeln. “Ambra” ist kein leicht zu lesendes Buch, es gibt immer wieder enorm starke Wellen, bei denen ich fast die Orientierung verliere und dann wiederum plötzliche Wasserstille, bei der ich mich nur noch treiben lassen kann. “Ambra” erfordert Aufmerksamkeit, Zeit und Interesse – wenn man all dies aufbringen kann und möchte, hat man das Glück, einen großartigen Roman entdecken zu dürfen. Auf  den ersten Blick wirkt das Buchcover etwas spröde und unscheinbar, dieser Eindruck ändert sich jedoch bereits beim Aufklappen des Buches: im Bucheinband gibt es eine wunderschöne Zeichnung, die einen ersten Einstieg in die Geschichte bietet.

“Ambra” löst Fernweh aus. Am liebsten würde ich jetzt meine Koffer packen, mich in den Zug setzen und nach Danzig fahren: Kinga kennenlernen, das Varieté besuchen, Brunon und Bronka “Hallo” sagen.

“Ambra” ist eine großartige Familiengeschichte und ein verführerisches Porträt der Stadt Danzig. Zusammengehalten werden diese beiden Stränge von einer liebenswerten, doch manchmal etwas weltfremden Hauptfigur: Kinga, Kinga Mischa, die einzige, die die ganze Wahrheit kennt.

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam – Vea Kaiser

Die erst dreiundzwanzigjährige Schriftstellerin Vea Kaiser studiert in Wien Klassische und Deutsche Philologie. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten sowie den Theodor-Körner-Preis gewonnen. Sie nahm 2010 an der Autorenwerkstatt Prosa in Berlin teil und war Finalistin beim 17. Open Mike.

Im Mittelpunkt von Vea Kaisers fulminantem Debütroman “Blasmusikpop” steht der junge Johannes A. Irrwein, der sich selbst als “Historiograph” und “Nachfolger des Herodot von Halikarnassos” bezeichnet. Johannes wächst im abgeschiedenen alpenländischen Bergdorf St. Peter am Anger auf.

“St. Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte – den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen.”

St. Peter am Anger ist darüber hinaus dafür bekannt, dass man nicht über Dinge spricht, die man nicht ändern kann, dass alles dreißig Jahre später als im Rest der Welt geschieht, keine Details erörtert werden und dass Dinge nun mal so sind, wie sie sind.

“In St. Peter am Anger war bei den meisten ab dem Kindergarten ausgemacht, wer wen heiraten würde, die Söhne bekamen die Namen der Väter, die Töchter die Namen der Großmütter, der Bauernhof wurde an den erstgeborenen Sohn weitergegeben, und die größte Neuerung war, dass der Gemeinderat beschlossen hatte, die Straßen asphaltieren zu lassen.”

Alles bleibt in St. Peter am Anger, wie es immer gewesen ist und dem einzelnen bleibt häufig nur übrig, sich zu fügen. Doch Johannes fügt sich nicht. Er wird in seinem Aufwachsen und seiner Erziehung von seinem Großvater Johannes Gerlitzen – einem Wurmforscher und einem der wenigen, der es geschafft hat, das Dorf Richtung Hauptstadt zu verlassen – geprägt. Johannes Gerlitzen bemüht sich darum, seinen Enkel zu einem Nachwuchsforscher auszubilden, damit es ihm erspart bleibt, mit den anderen “doofen St.-Petri-Kindern” zu spielen. Auch Johannes hat sich zum Ziel gesetzt, sein Heimatdorf zu verlassen und aus den starren Ritualen und Mustern auszubrechen, sie hinter sich zu lassen. Sein Umzug in die Stadt zum Studium ist schon fest eingeplant. Doch dann fällt Johannes – der Musterschüler und einer der wenigen in St. Peter am Anger, der Hochsprache spricht und eine Klosterschule außerhalb des Dorfes besucht – durch die Abitursprüfung.

Dieses überraschende Scheitern ist für Johannes ein tiefer Einschnitt, eine Wende im Leben. Statt zum Studium in die Stadt zu ziehen, bleibt er den Sommer über in seinem Kinderzimmer in St. Peter am Anger. Lange hat sich Johannes geweigert, am Dorfleben teilzunehmen, jetzt muss er sich gezwungenermaßen mit seinem Heimatdorf und dessen Bevölkerung auseinandersetzen. In Anlehnung an seinen Lieblingsschriftsteller Herodot, beginnt er damit, die Chronik seines Dorfes zu verfassen. Schnell merkt Johannes, dass man so eine Chronik nicht schreiben kann, wenn man lediglich beobachtet – Johannes beginnt damit, am Dorfleben zu partizipieren, ein Teil von dem zu werden, über das er schreiben möchte.

“[…] schließlich musste er verstehen, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, die nicht beschrieben werden wollen. Dinge, die man miteinander erlebt und erinnert, die passieren und etwas verändern.”

Mit dem Entschluss, eine Dorfchronik zu schreiben, ist Johannes der Auslöser eines der größten Ereignisse in der Geschichte von St. Peter am Anger …

Doch das ist längst nicht alles in diesem sprudelnden Debüt, daneben spielt auch ein 14,8 Meter langer Fischbandwurm eine wichtige Rolle, genauso wie der griechischliebende Diagamma-Klub, eine selbstgebaute Seifenkiste, ein talentierter Dorffußballer und seine schwangere Angebetete und der Ältestenrat, der darum bemüht ist, jegliche Innovationen zu boykottieren.

Der Roman setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: er besteht zum einen aus den Aufzeichnungen von Johannes, die – immer in kursiver Schrift gesetzt – in Form von vier Notizbüchern eine Dorfchronik über das Volk der “Bergbarbaren” in St. Peter am Anger darstellen und damit parallel zum Hauptstrang fast eine kleine Nebengeschichte erzählen. Zum anderen wird die Geschichte der Familie Gerlitzen erzählt. Beginnend im Jahr 1959 wird die Ehe zwischen Johannes und Elisabeth Gerlitzen geschildert, die Geburt der gemeinsamen Tochter Ilse, Johannes Wunsch aus St. Peter am Anger wegzugehen, um Arzt zu werden und wie Ilse schließlich Alois Irrwein heiratet und den gemeinsamen Sohn Johannes zur Welt bringt. Die Geschichte reicht – mit Johannes misslungener Abitursprüfung – bis in die aktuelle Zeit hinein – “bei der Geschichte beginnend bis zur Gegenwart”.

Bei der Fülle an Neuerscheinungen heutzutage ist es immer schwieriger geworden, Literaturperlen zu entdecken, denn das Feuilleton schmeißt mittlerweile immer schneller mit Superlativen um sich und die Halbwertszeit wird gleichzeitig immer kürzer. Mit “Blasmusikpop” habe ich das Gefühl, dass mir jedoch genau das passiert ist: ich habe einen großartigen Roman, eine Literaturperle, entdeckt und ich würde diese Entdeckung gerne jedem entgegenschreien. Das Außergewöhnliche an “Blasmusikpop” ist sicherlich, dass es konträr zu vielen Modeerscheinungen  heutzutage geschrieben ist: Johannes kommuniziert nicht über Facebook, sondern beschäftigt sich lieber mit den alten Griechen. Die Sprache des Romans habe ich als sprudelnd empfunden, an vielen Stellen auch als humorvoll und unterhaltsam, doch gleichzeitig auch wieder berührend. So wie die Geschichte, hat auch die Sprache viele Ebenen und Facetten. Vea Kaiser gelingt es einen außergewöhnlichen, doch sehr eingängigen Ton zu treffen.

“Blasmusikpop” ist vieles: eine Familiengeschichte, eine Historie der Gegenwart, ein Coming-To-Age-Roman, aber eben auch ein Dorfroman. Die Hinwendung zum Dörflichen ist nichts Neues in der deutschen Literatur: Jan Brandt hat es in seinem großartigen Roman “Gegen die Welt” bereits vorgemacht, auch bei Stephanie Gleißners “Einen solchen Himmel im Kopf” steht ein Dorf im Zentrum. In allen genannten Romanen geht es gleichzeitig auch immer um eingefahrene Rituale, um eine Gemeinschaft, die als starr empfunden wird, um jemanden, der nicht dazu gehört, sich nicht eingliedern kann oder möchte. Bei “Blasmusikpop” steht der Gegensatz zwischen Dorf und Stadt im Mittelpunkt: Johannes entwickelt schon sehr früh den Wunsch, sein Heimatdorf zu verlassen. Er grenzt sich ab, indem er sich weigert, den heimischen Dialekt zu sprechen, er schämt sich für die anderen Bewohner seines Dorfes.

“Seit er an der Klosterschule angenommen worden war, hatte er jeden Kontakt zu den Dorfbewohnern abgebrochen. Er hielt sich von den Festen fern, hörte seinen Eltern nicht zu, wenn diese über das Dorf sprachen, und verbrachte so viel Zeit wie möglich in Lenk. Anders als in St. Peter fühlte er sich dort akzeptiert und nicht mit Stielaugen beobachtet, wenn er in der Öffentlichkeit ein Buch las oder beim Spazieren Vokabeln lernte. Johannes wollte sich so weit wie möglich vom Dorf distanzieren, denn er hatte Angst, dass er es sonst nie schaffen würde, seine Träume zu verwirklichen, Forscher zu werden und hinaus in die große Welt zu gehen […].”

Versuche seiner Eltern, Johannes in die Dorfgemeinschaft einzugliedern – durch die Teilnahme am örtlichen Fußballtraining oder einem gemeinsamen Ausflug mit den anderen Kindern – enden immer wieder schon beinahe traumatisch für ihn. Johannes grenzt sich ab von der Engstirnigkeit und Starrigkeit seines Dorfes und seiner Bewohner und die Bewertung seines Verhaltens ist auch immer wieder eine Gratwanderung zwischen Individualismus und Arroganz oder auch Überheblichkeit.

Vea Kaiser ist mit “Blasmusikpop” ein fantastischer Debütroman gelungen. “Blasmusikpop” sprudelt über vor Ideen und absurden Einfällen und Vea Kaiser gelingt es, all dies in eine erstaunlich lesbare Form zu bringen. Ein großartiger Roman, dem ich viele Leser wünsche!

Das Maikäfermädchen – Gina Mayer

Gina Mayer wurde 1965 in Ellwangen geboren und lebt heutzutage als freie Autorin in Düsseldorf. Im Aufbau Verlag erschienen von ihr bereits die beiden Romane “Zitronen im Mondschein” und “Das Lied meiner Schwester”.

“Das Maikäfermädchen” spielt im Sommer 1945 in Düsseldorf. Der Krieg ist mittlerweile zu Ende, doch von der Stadt sind lediglich Trümmer und Ruinen übrig geblieben. Die Lebensmittelkarten sind knapp, der Hunger groß.

“Ein Zehntel der ursprünglichen Bevölkerung hauste noch in den Trümmern der Stadt. Der Rest war gefallen, evakuiert, erschossen, zerbombt, vernichtet, verhungert, vergast. Oder emigriert […].”

Im Zentrum der Erzählung steht die Hebamme Käthe, die in dieser Situation im Nachkriegsdeutschland auf sich allein gestellt ist: ihr Mann Wolf ist aus russischer Gefangenschaft nicht zurückgekehrt. Und doch: Käthe hofft immer noch auf eine Rückkehr, auf eine Wiedervereinigung. Das Gefühl, stark bleiben zu müssen, um da zu sein, wenn Wolf nach Hause zurückkehrt, hält Käthe am Leben.

“Man wartet auf eine Zukunft, in der alles wieder wäre wie in der Vergangenheit, aber das würde nicht geschehen, das wusste Käthe so gut wie die anderen. Die Vergangenheit hatten die Flieger zerschossen und die Bomben zertrümmert. Nichts auf der Welt wurde die Toten wieder lebendig machen, die Ruinen wieder aufrichten, die Untröstlichen trösten.”

Ihre Liebe hatte im Krankenhaus begonnen, wo Wolf nach einer Blutabnahme ohnmächtig geworden war und Käthe ihn gefunden und “wieder zum Leben erweckt” hat. Sie begegneten sich am 26. August 1932, als Käthe bereits fünfunddreißig Jahre alt war und kaum noch daran glaubte, irgendwann den Richtigen zu treffen. Nachdem sie Wolf kennengelernt hat, verlässt Käthe das Evangelische Krankenhaus, in dem sie jahrelang gearbeitet hat und ist in der Folge als freie Hebamme tätig.

Als alleinstehende Frau, deren Mann nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist, ist es für Käthe nicht leicht sich zu versorgen. Das Gefühl des Hungers ist ihr nicht unbekannt. Eines Tages wird sie von einem jungen Mädchen angesprochen: Ingrid ist schwanger und wirkt verstört. Sie spricht kaum, sondern summt immer nur die Melodie eines deutschen Volksliedes: Maikäfer flieg. Sie bittet Käthe darum, ihr Kind abzutreiben und bietet ihr im Gegenzug einen Pelzmantel an, den Käthe auf dem Schwarzmarkt gegen Geld und Lebensmittel eintauschen kann.

“‘Wobei soll ich dir denn helfen?’ fragte Käthe und wusste schon Bescheid. Und ahnte bereits die Folgen. Dass es nicht bei diesem einen Pelzmantel bleiben würde und bei einem einzigen Mal, sondern dass das, was nun begann, immer weitergehen würde, bis es nicht mehr weiterging. Weil der Krug eben nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.”

Käthe zögert nicht lange und entscheidet sich, dem jungen Mädchen zu helfen. In einer ausgebombten ehemaligen Arztpraxis nimmt sie eine Ausschabung vor und kümmert sich anschließend um die Entsorgung des Embryos. Schnell merkt Käthe, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag: was mit Ingrid begann, würde immer weitergehen. Es kommen immer mehr junge Mädchen, die Käthe um Hilfe bitten, “das Gerücht, dass es da eine Engelmacherin gab, die ihr Handwerk verstand und bezahlbar war”, verbreitet sich wie ein Lauffeuer.

“Es war nicht nur das großzügige Honorar, es war die Erleichterung in den Gesichtern der Frauen und ihre Dankbarkeit. Als sie sich von Käthe verabschiedete, hatte Trudi glücklicher ausgesehen als die meisten Frauen, die Käthe in den letzten Monaten entbunden hatte.”

Durch Zufall trifft Käthe ihre ehemalige Kollegin Lilo Hambach aus dem Evangelischen Krankenhaus wieder, die ihr ihre Hilfe anbietet. Gemeinsam entscheiden sie sich, den jungen Frauen zu helfen. Lilo hat gute Kontakte zu dem englischen Offizier Winston, der Medikamente besorgt und zu Schimanek, der seinen Keller zur Verfügung stellt. Käthe und Lilo setzen durch ihr Handeln eine Kette von Ereignissen in Gang, die sie am Ende selbst überrascht und von deren ganzen Ausmaß sie lange nichts ahnen …

Gina Mayer ist mit ihrem neuen Roman “Das Maikäfermädchen” eine großartige Geschichte gelungen, die mich von der ersten Seiten an gefesselt hat, was dazu geführt hat, dass ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte. “Das Maikäfermädchen” zeichnet sich in meinen Augen vor allem durch eine ungeheure Vielschichtigkeit aus: der Roman besteht aus vielen Schichten und kann auf mehreren Ebenen gelesen werden, die doch auf unterschiedliche Weise alle miteinander verwoben sind. Zum einen handelt es sich um eine sehr beeindruckende Beschreibung der Situation, mit der die Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland konfrontiert gewesen ist. Der Hunger, die Lebensmittelknappheit – beides führt dazu, dass Käthe entgegen ihrer moralischen Grundsätze handelt: sie “tötete ungeborene Kinder, um selbst zu überleben”. Darüber hinaus ist “Das Maikäfermädchen” natürlich auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Abtreibung. Lilo und Käthe bilden dabei zwei gegensätzliche Pole: während Lilo die Perspektive einer Geschäftsfrau vertritt und bereit ist, “über Leichen” zu gehen, hat Käthe sehr viel stärker ethische und moralische Bedenken. Die Beschreibungen der Abtreibungen sind sehr präzise, erschreckend plastisch. 

Natürlich sind die Folgen des Krieges nicht nur Hunger und Lebensmittelknappheit – Gina Mayer schildert auch die psychischen Auswirkungen. Lilos Mann Hambach, der vor dem Krieg als Arzt gearbeitet hat, ist nun arbeitsunfähig. Seine Hände zittern zu stark. Er hat im Krieg Dinge erlebt, die er in sich vergraben hat, über die er nicht spricht. Lilo und Hambach wohnen zwar noch zusammen, leben aber aneinander vorbei. Auch Schimanek muss mit seinen Erinnerungen an seine Zeit im Konzentrationslager weiterleben. Hambach würde es besser gehen, wenn er sprechen könnte, sich mitteilen, die in sich verschlossenen Erinnerungen befreien würde.

“Aber er gestand nichts. Weil das nichts verbessert hätte. Weil es nicht mehr zu ändern war. Weil diese Wunden nicht heilen würden, was auch geschah.”

Fast alle Figuren in Gina Mayers Roman haben etwas in sich vergraben, über das sie nicht mehr sprechen können, zu dem sie selbst kaum noch einen Zugang haben. Gina Mayer gelingt es zu zeigen, was Sprachlosigkeit zerstören kann, wozu es führen kann, wenn man sich nicht mehr mitteilt. Zumindest einigen Figuren gelingt es im Laufe der Geschichte ins Leben zurückzukehren, mit dem Leben wieder Kontakt aufzunehmen.

Ich habe den Roman “Das Maikäfermädchen” unheimlich gerne gelesen. Es ist eine literarisch anspruchsvolle, sehr intelligent komponierte Geschichte mit einer Vielzahl an faszinierenden Charakteren. Nicht nur Käthe, sondern auch das Leben von Lilo, Hambach, deren Tochter Hilde oder auch die Erlebnisse von Schimanek fließen in die Geschichte mit ein. Ein berührender, bewegender und fesselnder Roman, den ich bis zur letzten Seite genossen habe.

Vielen Dank für das Leben – Sibylle Berg

Sibylle Berg wurde 1962 in Weimar geboren, zog 1984 in den Westen um, ohne dort zunächst ihr Glück finden zu können. Sie arbeitete als Lexikonverkäuferin, Puppenspielerin und  wohl zwischenzeitlich auch als Tierpräparatorin. Heutzutage lebt sie in Zürich. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Kolumnen, unter anderem für Spiegel Online. 2009 erschien bei Hanser ihr Roman “Der Mann schäft”. Sibylle Berg hat eine eigene Homepage. Ich bin froh, dass Sibylle Berg bereit dazu war, für meinen Blog fünf Fragen zu beantworten.

“Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normalerweise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuropäischen Landes. 

Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts.”

Im kalten Sommer 1966, an den sich niemand mehr erinnern kann, wird Toto geboren. Schon kurz nach seiner Geburt hat Toto einen “seltsamen” Blick , “fast erwachsen und müde”. Der Arzt bezeichnet Toto als ein “Nichts”, denn Toto ist nicht normal. Er wird mit zwei Geschlechtern geboren, als Hermaphrodit. Totos Vater ist unbekannt, verschwunden, nicht mehr auffindbar. Totos Mutter ist Alkoholikerin und als “Besitzerin” eines Kleinkindes überfordert.

“Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben mit einem Kind aussehen sollte, sie konnte es sich ja nicht einmal ohne eine zusätzliche Person vorstellen, dieses Leben, das in den Abfluss gefallen war und nun irgendwo in der Kanalisation auf eine neue Fäkalwelle wartete, die es endlich wegspülte.”

Sie entscheidet sich dazu, Toto wegzugeben, in ein Kinderheim, ein Waisenhaus, das man auch als Straflager bezeichnen könnte. An einen Ort, an dem es keine Liebe gibt, zu Erzieherinnen, die keine Kapazitäten für die vielen Kinder haben.  Für Kinder, die ein unvorstellbares Elend überlebt haben, für Kinder von Eltern, die Alkoholiker sind oder sich das Leben genommen haben. Toto ist immer alleine, immer der letzte der Gruppe, immer am Ende.    

“Er wusste nicht, wie es ist, einen Menschen zu haben, er kannte nur einsame Kinder, aber die meisten hatten doch wenigstens einen Freund gefunden, mit dem sie nachts die Angst halbieren konnten. Alleinsein bedeutet, dass man der Welt ohne jeden Schutz gegenübersteht.”

Toto ist zu groß, zu plump, zu unförmig, zu dick, zu anders – und dann auch noch geschlechtslos. Trotzdem gelingt es ihm, einen Freund zu finden: Toto knüpft Kontakt zu Kasimir. Aus dem Kinderheim heraus wird er in eine Pflegefamilie vermittelt, die das Wort Familie nicht verdient: die Mutter ist meistens betrunken und der Vater schlägt Toto, der in einem Verschlag im Stall schlafen muss. Schon wieder hat Toto das Gefühl, auf einem Abstellgleis gelandet zu sein.

Als er alt genug ist, flüchtet Toto vom Sozialismus  in den Kapitalismus, doch die Hoffnung, dass es im Westen bessern werden könnte, hat er schon lange aufgegeben. Jeder Tag von Toto beginnt ohne die Aussicht auf ein Wunder, Toto lernt schnell, dass sich alles immer erbärmlicher anfühlt, als in seiner Vorstellung.

“Ich werde niemals etwas wollen, schwor sich Toto, ich werde ein Teil dieser hässlichen Umgebung sein, die man Natur nennt oder Gebäude, und ich werde, außer am Leben zu bleiben, keinen Ehrgeiz entwickeln. Es führt doch zu nichts, dieses Gewolle, das konnte er doch sehen an den verspannten Gesichtern der Erwachsenen, die offenbar alle nicht bekommen hatten, wonach sie verlangten.”

Die Wege, die Toto im Westen einschlägt, sind verschlungen, verwinkelt. Die Schlagzahl seines Lebens scheint sich mit der Wiederbegegnung mit seinem Freund Kasimir aus dem Kinderheim zu verändern, die ihm später zum Verhängnis werden soll. Toto beginnt die einzige Leidenschaft zu verfolgen, die er im Leben hat: das Singen. Er lernt  Männer kennen, die sich für ihn interessieren, unternimmt eine Reise und findet irgendwann sogar einen Beruf, in dem er gerne arbeitet. Toto entscheidet sich schließlich dazu, als Frau zu leben, doch trägt weiterhin den Namen Toto.

Sibylle Berg erzählt das Leben von Toto, das eine Zeitspanne von 1966 bis 2030 umfasst. Das Bild der Zukunft das Sibylle Berg entwirft, ist kalt und lieblos. Die Menschen sind gleichförmig und Andersartigkeit ist nicht gewünscht, nicht erwünscht. Das ist sicherlich auch eine der grundsätzlichen Erfahrungen, die Toto in ihrem Leben gemacht hat. In beiden Systemen – im Osten und Westen – wird Toto ausgegrenzt und angefeindet, weil sie aus der Norm fällt. Das Thema Hermaphroditismus ist ein Thema in der Literatur, das bereits von Jeffrey Eugenides in seinem Roman “Middlesex” aufgegriffen wird. Toto ist anders als andere Menschen, schon allein aufgrund dessen, dass sie kein eindeutiges Geschlecht hat. Diese Kälte und Grausamkeit gegenüber Menschen, die scheinbar nicht normal sind, finde ich eine der erschreckendsten Aspekte dieses Romans.

“Vielen Dank für das Leben” ist daneben sicherlich auch ein politischer Roman. Im Zentrum des ersten Teil stehen Beschreibungen des Lebens in der DDR. Beschreibungen, die von Trostlosigkeit und Verzweiflung geprägt sind, von einer ungeheuren Schwere, von einer sehr tiefen Melancholie. Alkoholismus spielt in diesem Abschnitt eine große Rolle, nicht nur Totos Mutter ist Alkoholikerin, auch in seiner Pflegefamilie erlebt er erneuten Alkoholmissbrauch. Doch auch im Westen findet Toto keine Heimat, kein Zuhause: “Hier war nichts Vertrautes, hier war das Land der vielen Joghurts und des Jammerns.” Beinahe konträr zu der Melancholie und der Schwere in der DDR steht der Kapitalismus im Westen mit seinen Supermärkten, Billigbekleidungsläden und Imbissbuden. In einer Form der Dystopie werden von Sibylle Berg im letzten Abschnitt des Romans beide Systeme zusammengeführt und eine mögliche Zukunftsvision entworfen.

Sehr viel stärker und sehr viel nachhaltiger als die politischen Beschreibungen habe ich jedoch die Beschreibung der Figur Toto empfunden. Toto, die schon als Kind verlassen wird von ihrer Mutter und ohne Orientierung und Unterstützung aufwächst. Toto erträgt ihr Schicksal mit einer unfassbaren Gelassenheit. Was auch immer ihr widerfährt, es ist für sie nicht möglich, Wut zu empfinden oder gar zu hassen: “Toto schien über allem zu schweben, was die Welt zu einem widerlichen Ort machte.” Das einzige, was Toto sich wünscht ist Liebe, Geborgenheit und Akzeptanz.

“[…] Toto wollte sich einfach auf den Boden legen und darauf warten, dass jemand kam, um ihn zu streicheln, zu trösten, ihm zu sagen, wohin er gehen sollte und warum.”

Trotz dieser Gleichmütigkeit von Toto ist “Vielen Dank für das Leben” dennoch ein unheimlich wütendes Buch, denn Toto selbst bewertet zwar ihr Leben nicht, doch die Erzählinstanz bewertet. Im Fokus der Wut steht “die Basis der Gesellschaft, dieses uninformierte, dumme Pack”.

“Vielen Dank für das Leben” ist ein großer, ein großartiger Roman. Er ist prall gefüllt mit großen Themen: die Menschheit und ihre immer stärker verschwindenden Werte, die Finanzkrise, die fortschreitende Globalisierung. Doch im Mittelpunkt von all dem steht Toto. “Vielen Dank für das Leben” habe ich gestern – nach dem ich die letzte Seite gelesen habe – zugeklappt, doch Toto trage ich immer noch mit mir. Sie ist immer noch bei mir, in meinen Gedanken, in mir. Ich wünschte mir, dass mehr Menschen so sein könnten, wie Toto, dann hätten wir sicherlich eine bessere Welt.

“Toto war glücklich. Sie konnte nicht wissen, wie es gewesen wäre, hätte sie von einem geliebt werden können, aber es war müßig, darum zu trauern. Sie konnte auch nicht wissen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Zeit gelebt zu haben, als ein anderer Mensch, oder ein Tier. Man kann alle Möglichkeiten betrauern, die man nie gehabt hat, oder sich daran freuen, dass man kurz aufgetaucht ist aus der Großen Dunkelheit der Unendlichkeit, die sonst immer herrscht, vor der Geburt und nach dem Tod, ein kurzer Moment Licht, das ist doch viel, und Milliarden, Trilliarden Eizellen war nicht einmal das vergönnt.”

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