Sibylle Berg wurde 1962 in Weimar geboren, zog 1984 in den Westen um, ohne dort zunächst ihr Glück finden zu können. Sie arbeitete als Lexikonverkäuferin, Puppenspielerin und wohl zwischenzeitlich auch als Tierpräparatorin. Heutzutage lebt sie in Zürich. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Kolumnen, unter anderem für Spiegel Online. 2009 erschien bei Hanser ihr Roman “Der Mann schäft”. Sibylle Berg hat eine eigene Homepage. Ich bin froh, dass Sibylle Berg bereit dazu war, für meinen Blog fünf Fragen zu beantworten.
“Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normalerweise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuropäischen Landes.
Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts.”
Im kalten Sommer 1966, an den sich niemand mehr erinnern kann, wird Toto geboren. Schon kurz nach seiner Geburt hat Toto einen “seltsamen” Blick , “fast erwachsen und müde”. Der Arzt bezeichnet Toto als ein “Nichts”, denn Toto ist nicht normal. Er wird mit zwei Geschlechtern geboren, als Hermaphrodit. Totos Vater ist unbekannt, verschwunden, nicht mehr auffindbar. Totos Mutter ist Alkoholikerin und als “Besitzerin” eines Kleinkindes überfordert.
“Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben mit einem Kind aussehen sollte, sie konnte es sich ja nicht einmal ohne eine zusätzliche Person vorstellen, dieses Leben, das in den Abfluss gefallen war und nun irgendwo in der Kanalisation auf eine neue Fäkalwelle wartete, die es endlich wegspülte.”
Sie entscheidet sich dazu, Toto wegzugeben, in ein Kinderheim, ein Waisenhaus, das man auch als Straflager bezeichnen könnte. An einen Ort, an dem es keine Liebe gibt, zu Erzieherinnen, die keine Kapazitäten für die vielen Kinder haben. Für Kinder, die ein unvorstellbares Elend überlebt haben, für Kinder von Eltern, die Alkoholiker sind oder sich das Leben genommen haben. Toto ist immer alleine, immer der letzte der Gruppe, immer am Ende.
“Er wusste nicht, wie es ist, einen Menschen zu haben, er kannte nur einsame Kinder, aber die meisten hatten doch wenigstens einen Freund gefunden, mit dem sie nachts die Angst halbieren konnten. Alleinsein bedeutet, dass man der Welt ohne jeden Schutz gegenübersteht.”
Toto ist zu groß, zu plump, zu unförmig, zu dick, zu anders – und dann auch noch geschlechtslos. Trotzdem gelingt es ihm, einen Freund zu finden: Toto knüpft Kontakt zu Kasimir. Aus dem Kinderheim heraus wird er in eine Pflegefamilie vermittelt, die das Wort Familie nicht verdient: die Mutter ist meistens betrunken und der Vater schlägt Toto, der in einem Verschlag im Stall schlafen muss. Schon wieder hat Toto das Gefühl, auf einem Abstellgleis gelandet zu sein.
Als er alt genug ist, flüchtet Toto vom Sozialismus in den Kapitalismus, doch die Hoffnung, dass es im Westen bessern werden könnte, hat er schon lange aufgegeben. Jeder Tag von Toto beginnt ohne die Aussicht auf ein Wunder, Toto lernt schnell, dass sich alles immer erbärmlicher anfühlt, als in seiner Vorstellung.
“Ich werde niemals etwas wollen, schwor sich Toto, ich werde ein Teil dieser hässlichen Umgebung sein, die man Natur nennt oder Gebäude, und ich werde, außer am Leben zu bleiben, keinen Ehrgeiz entwickeln. Es führt doch zu nichts, dieses Gewolle, das konnte er doch sehen an den verspannten Gesichtern der Erwachsenen, die offenbar alle nicht bekommen hatten, wonach sie verlangten.”
Die Wege, die Toto im Westen einschlägt, sind verschlungen, verwinkelt. Die Schlagzahl seines Lebens scheint sich mit der Wiederbegegnung mit seinem Freund Kasimir aus dem Kinderheim zu verändern, die ihm später zum Verhängnis werden soll. Toto beginnt die einzige Leidenschaft zu verfolgen, die er im Leben hat: das Singen. Er lernt Männer kennen, die sich für ihn interessieren, unternimmt eine Reise und findet irgendwann sogar einen Beruf, in dem er gerne arbeitet. Toto entscheidet sich schließlich dazu, als Frau zu leben, doch trägt weiterhin den Namen Toto.
Sibylle Berg erzählt das Leben von Toto, das eine Zeitspanne von 1966 bis 2030 umfasst. Das Bild der Zukunft das Sibylle Berg entwirft, ist kalt und lieblos. Die Menschen sind gleichförmig und Andersartigkeit ist nicht gewünscht, nicht erwünscht. Das ist sicherlich auch eine der grundsätzlichen Erfahrungen, die Toto in ihrem Leben gemacht hat. In beiden Systemen – im Osten und Westen – wird Toto ausgegrenzt und angefeindet, weil sie aus der Norm fällt. Das Thema Hermaphroditismus ist ein Thema in der Literatur, das bereits von Jeffrey Eugenides in seinem Roman “Middlesex” aufgegriffen wird. Toto ist anders als andere Menschen, schon allein aufgrund dessen, dass sie kein eindeutiges Geschlecht hat. Diese Kälte und Grausamkeit gegenüber Menschen, die scheinbar nicht normal sind, finde ich eine der erschreckendsten Aspekte dieses Romans.
“Vielen Dank für das Leben” ist daneben sicherlich auch ein politischer Roman. Im Zentrum des ersten Teil stehen Beschreibungen des Lebens in der DDR. Beschreibungen, die von Trostlosigkeit und Verzweiflung geprägt sind, von einer ungeheuren Schwere, von einer sehr tiefen Melancholie. Alkoholismus spielt in diesem Abschnitt eine große Rolle, nicht nur Totos Mutter ist Alkoholikerin, auch in seiner Pflegefamilie erlebt er erneuten Alkoholmissbrauch. Doch auch im Westen findet Toto keine Heimat, kein Zuhause: “Hier war nichts Vertrautes, hier war das Land der vielen Joghurts und des Jammerns.” Beinahe konträr zu der Melancholie und der Schwere in der DDR steht der Kapitalismus im Westen mit seinen Supermärkten, Billigbekleidungsläden und Imbissbuden. In einer Form der Dystopie werden von Sibylle Berg im letzten Abschnitt des Romans beide Systeme zusammengeführt und eine mögliche Zukunftsvision entworfen.
Sehr viel stärker und sehr viel nachhaltiger als die politischen Beschreibungen habe ich jedoch die Beschreibung der Figur Toto empfunden. Toto, die schon als Kind verlassen wird von ihrer Mutter und ohne Orientierung und Unterstützung aufwächst. Toto erträgt ihr Schicksal mit einer unfassbaren Gelassenheit. Was auch immer ihr widerfährt, es ist für sie nicht möglich, Wut zu empfinden oder gar zu hassen: “Toto schien über allem zu schweben, was die Welt zu einem widerlichen Ort machte.” Das einzige, was Toto sich wünscht ist Liebe, Geborgenheit und Akzeptanz.
“[…] Toto wollte sich einfach auf den Boden legen und darauf warten, dass jemand kam, um ihn zu streicheln, zu trösten, ihm zu sagen, wohin er gehen sollte und warum.”
Trotz dieser Gleichmütigkeit von Toto ist “Vielen Dank für das Leben” dennoch ein unheimlich wütendes Buch, denn Toto selbst bewertet zwar ihr Leben nicht, doch die Erzählinstanz bewertet. Im Fokus der Wut steht “die Basis der Gesellschaft, dieses uninformierte, dumme Pack”.
“Vielen Dank für das Leben” ist ein großer, ein großartiger Roman. Er ist prall gefüllt mit großen Themen: die Menschheit und ihre immer stärker verschwindenden Werte, die Finanzkrise, die fortschreitende Globalisierung. Doch im Mittelpunkt von all dem steht Toto. “Vielen Dank für das Leben” habe ich gestern – nach dem ich die letzte Seite gelesen habe – zugeklappt, doch Toto trage ich immer noch mit mir. Sie ist immer noch bei mir, in meinen Gedanken, in mir. Ich wünschte mir, dass mehr Menschen so sein könnten, wie Toto, dann hätten wir sicherlich eine bessere Welt.
“Toto war glücklich. Sie konnte nicht wissen, wie es gewesen wäre, hätte sie von einem geliebt werden können, aber es war müßig, darum zu trauern. Sie konnte auch nicht wissen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Zeit gelebt zu haben, als ein anderer Mensch, oder ein Tier. Man kann alle Möglichkeiten betrauern, die man nie gehabt hat, oder sich daran freuen, dass man kurz aufgetaucht ist aus der Großen Dunkelheit der Unendlichkeit, die sonst immer herrscht, vor der Geburt und nach dem Tod, ein kurzer Moment Licht, das ist doch viel, und Milliarden, Trilliarden Eizellen war nicht einmal das vergönnt.”
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