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Zeitgenössisches

Leben – Karl Ove Knausgård

“Leben” ist der nunmehr vierte Band eines großangelegten autobiographischen Projekts: bereits in den ersten drei Bänden – “Sterben”, “Lieben” und “Spielen” – setzt sich Karl Ove Knausgård immer wieder neu mit seinem Leben, seiner Kindheit und seinen Dämonen auseinander.

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Während Karl Ove Knausgård in “Spielen” noch weit zurückblickte auf seine frühe Kindheit, blickt er in “Leben” auf eine Phase des Übergangs, des Umbruchs. Es ist eine Phase der Veränderung, die er durchläuft, als sein Leben, wie er es zuvor kannte, auseinander bricht. Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater zieht zu seiner neuen Freundin, die bald darauf schwanger wird. Karl Ove Knausgård und seine Mutter bleiben zurück, der große Bruder Yngve ist schon lange ausgezogen. Dem Vater, der ihn seine ganze Kindheit lang drangsaliert und gequält hat, begegnet er nur noch selten – die Begegnungen sind häufig angespannt und enden zumeist in heftigen Wutausbrüchen oder Tränen. Bei dem Vater, der sich jahrelang kühl und zurückhaltend gegeben hat, brechen plötzlich alle Dämme: immer häufiger erlebt sein Sohn ihn betrunken, angetrunken oder mit einem Bier in der Hand.

“[…] so war es mit vielen in diesem Haus, in dem ich mit ihr lebte, und so musste es wohl auch sein: Manches wurde gesagt, kommentiert, beurteilt und zu verstehen versucht, anderes wurde verschwiegen, nicht erwähnt, nicht zu verstehen versucht.”

Für Karl Ove Knausgård ist dies eine Zeit, in der er versucht, sich freizustrampeln, sich von den Schrecken der Vergangenheit zu befreien. Auch er selbst greift dabei immer häufiger zum Alkohol, verbringt die Tage und Wochen vor seinem Abitur in einer Art ständigem Vollrausch und manövriert sich dabei von einer peinlichen Situation in die nächste. Für ihn ist der Alkohol eine Selbstmedikation, die ihn von seinen Komplexen und Ängsten befreit, unter denen er vor allen Dingen im Umgang mit Mädchen leidet. Dabei schwankt er ständig zwischen dem Leben im Rausch und dem Wunsch nach Normalität und danach, ein guter und strebsamer Schüler zu sein. Sein Leben driftet immer stärker auseinander, er selbst spaltet sich auf in zwei Persönlichkeiten, die kaum noch miteinander vereinbar sind. Auch nach dem Abitur kann er nicht damit aufhören, zu trinken, zu trinken und zu trinken. Die Schritte, die er hinein geht in das Leben eines Erwachsenen, sind unsicher – ohne Ziel und häufig auch ohne Verstand, regelmäßig gibt er mehr Geld aus, als er eigentlich besitzt. Er beschließt, ein Jahr als Aushilfslehrer in Nordnorwegen zu arbeiten, er ist gerade einmal achtzehn Jahre alt und ohne Ausbildung, doch dort oben in der Einöde werden Lehrkräfte händeringend gesucht.

“Ich! Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.”

Es ist nicht überraschend, dass Knausgård um Anerkennung und Autorität bei seinen Schülern kämpfen muss. Doch eigentlich möchte er auch gar nicht Lehrer sein, er möchte Schriftsteller werden. Abend für Abend, wenn er nicht unterwegs ist und sich sinnlos betrinkt, sitzt er zu Hause an seiner Schreibmaschine und tippt, tippt, tippt. Immer mit dem vagen Wunsch im Hinterkopf, irgendwann ein berühmter Schriftsteller zu sein.

“Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman. Alles, was sie wollten, wollte ich auch.”

Karl Ove Knausgård erweist sich in “Leben” erneut als erbarmungsloser und schonungsloser Chronist des eigenen Lebens. Detailliert und akribisch skizziert er den eigenen Absturz in den Alkohol, der mit einer erschreckenden Parallelität dem des eigenen Vaters folgt. Als ich die erste Seite von “Leben” aufschlug, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Die Mischung von Knausgårds Lebenserinnerungen, die stellenweise hochnotpeinlich sind (besonders dann, wenn es um Mädchen geht), daneben aber auch voller Traurigkeit und lähmender Angst vor dem Leben stecken, entwickelt einen ungeheuren Lesesog. In dieser Peinlichkeit, in dieser Schonungslosigkeit entwickelt sich eine unglaubliche Kraft, eine faszinierende Macht, die mich beim Lesen vollständig im Griff hatte.

“Das ist es, was man wirklich braucht, ich meine wirklich, ich finde es wichtig, hier Prioritäten zu setzen. Alle legen Wert auf materielle Dinge. Alle wollen neue Jacken, neue Schuhe, neue Autos, neue Häuser, neue Wohnwägen, neue Hütten oder neue Boote. Ich aber nicht. Ich kaufe Bücher und Platten, weil das etwas über das Wesentliche aussagt, darüber, was es heißt, hier auf Erden ein Mensch zu sein. Verstehst du?”

Für mich gehört Karl Ove Knausgård in seinem gleichsam radikalen und schonungslosem Versuch, über sich selbst zu schreiben, um sich und seine Dämonen auf Papier zu bannen, zu den spannendsten Autoren unserer Gegenwart. Um sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zurück, dass man beinahe 4000 Seiten über das eigene Ich schreibt, braucht es auf den ersten Blick ein ungeheures Ego und eine große Portion Eitelkeit und Selbstliebe. Doch Karl Ove Knausgård untergräbt dieses Ego auf charmante Art und Weise, in dem er keine Peinlichkeit unerwähnt lässt. Dabei entstanden ist ein faszinierendes Lektüreerlebnis, bei dem ich mich stellenweise fast schon als Voyeur gefühlt habe: Karl Ove Knausgård zieht sich aus, macht sich nackig. “Leben” ist ein Buch der Flüssigkeiten, es geht um Alkohol, Tränen und den männlichen Samen.

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Alles was ich bin – Anna Funder

“Alles was ich bin” ist nicht nur Roman, sondern wahre Geschichte. Die australische Autorin Anna Funder erzählt von den Erinnerungen ihrer Freundin Ruth Blatt, einer tapferen und mutigen Widerstandskämpferin, die gemeinsam mit ihren Freunden in den Wirren die dem Ersten Weltkrieg folgten, gegen die Machtergreifung Hitlers kämpfte. “Alles was ich bin” ist Fiktion und Wahrheit, ein Erinnerungsbuch über Mut, Freundschaft, Liebe und das Leid, verraten zu werden.

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“Was er noch nicht wissen kann – oh, warum wird uns so wenig beigebracht? Und es ist doch eine so wichtige, wichtige Sache – ist, dass man sich nicht an seinen eigenen Schmerz erinnert. Es ist das Leiden anderer, das uns zugrunde richtet.”

Der Roman wird auf zwei Zeitebenen erzählt, auf der einen befinden wir uns in Sydney. Es ist das Jahr 2001 und bei Ruth Blatt wurden erste Plaqueablagerungen im Gehirn entdeckt – ein Hinweis auf Alzheimer. Ihre Gegenwart wird für sie immer flüchtiger, das, was gestern gewesen ist, erinnert sie kaum noch. Dafür erwachen in ihr immer mehr Erinnerungen an die Vergangenheit. Erinnerungen an ihr Leben in Deutschland, dort, wo sie die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur miterlebt hat, sondern auch mitgeprägt hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Hans Wesemann, Berthold Jacob, Mathilde Wurm und Dora Fabian, der Sekretärin des Schriftstellers und Revolutionärs Ernst Toller, gehört sie einer Gruppierung deutscher Widerstandskämpfer an, die gegen die drohende Machtergreifung der Nationalsozialisten ankämpfen. Es ist ein Kampf, der sie zur Flucht nach London treibt, wo sie nicht aufhören können, gegen die menschenverachtenden Methoden der Nationalsozialisten anzukämpfen – unter großer Gefahr des eigenen Lebens und im verzweifelten Versuch, das Ausland auf die Situation in ihrem Heimatland, das keine Heimat mehr ist, aufmerksam zu machen. Der Kampf dauert so lange an, bis die Gruppierung feststellen muss, dass sie in ihrem Exil keinesfalls so sicher sind, wie sie lange geglaubt haben.

“Ich bin ein Gefäß voll Erinnerungen in einer vergesslichen Welt.”

Die Erinnerungen von Ruth werden ergänzt von den tagebuchartigen Aufzeichnungen Ernst Tollers, der sich zurück erinnert an die 30er Jahre und an sein Leben im Exil. Ernst Toller war Schriftsteller, Pazifist und Revolutionär – er saß viele Jahre im deutschen Gefängnis und obwohl ihm die Möglichkeit offen stand, entlassen zu werden, wollte er seine Mitgefangenen nicht im Stich lassen.

“Den meisten Menschen mangelt es an Phantasie. Könnten sie sich die Leiden anderer vorstellen, würden sie weniger Leiden zufügen. […] Sich in das Leben eines anderen hineinzuversetzen ist ein Akt des Mitgefühls, der absolut heilig ist. Wir entwarfen die Flugblätter, vervielfältigten die Wahrheit. Wir erzählten die Geschichten auf Butterbrotpapier, in Zigarrenbehältern, schmuggelten sie nach Deutschland. Wir riskierten unser Leben, um unseren Mitmenschen – dort und in London – dabei zu helfen, es sich vorzustellen. Sie stellten es sich nicht vor. Aber Toller, so groß er war, hat nicht recht. Es ist nicht so, dass es den Menschen an Phantasie mangelt. Es ist so, dass sie sich deren Gebrauch versagen. Denn wenn man sich einmal solches Leiden vorgestellt hat, wie kann man dann weiterhin nichts tun.”

Im Zentrum des Romans stehen die Jahre 1933 bis 1935 und Anna Funder beschreibt mit beeindruckender Präzision, Detailreichtum und Authentizität den Kampf der Widerstandsgruppierung: es geht um Mut, Tapferkeit, Ideale, Überzeugungen und den Wunsch danach, etwas aufzuhalten, das kaum noch aufzuhalten ist. Es geht aber auch um Vertrauen und darum, dass das Fundament der Gruppierung an einer Stelle zu bröckeln beginnt, an der niemand dies je erwartet hat. Plötzlich müssen sich all jene, die glaubten, an einem Strang zu ziehen und dieselben Überzeugungen zu vertreten, hinterfragen – sich selbst, aber auch ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen. Nichts ist mehr sicher, nichts hat noch Bestand.

“Und nun, eine Ewigkeit später, ertappe ich mich dabei, dass ich, wenn ich nicht aufpasse, denke: Warum hat Gott mich gerettet und nicht all die anderen? Die Gläubigen? Tief im Innersten empfinde ich, dass meine Stärke und mein Glück nur Sinn ergeben, wenn ich zum auserwählten Volk gehöre. Unverdientermaßen, und dennoch auserwählt; ich bin ein langlebiger Beweis seiner Irrationalität. Wenn man darüber nachdenkt, verdienen es weder Gott noch ich zu existieren.”

Anna Funder erzählt einen intensiven Roman, der nicht nur von Figuren bevölkert wird, sondern von Menschen, die mir beim Lesen ans Herz gewachsen sind, genauso wie von Menschen, die mich in ihrer unfassbaren Brutalität abgestoßen und angeekelt haben. “Alles was ich bin” ist kein Buch, aus dem man unbeschadet hervorgeht, es ist unheimlich intensiv und bewegend – als Leser holt man sich blaue Flecken und Schürfwunden.  Darüberhinaus wirft die Autorin einen informativen und authentischen Blick auf eine wichtige historische Zeit und auf eine Gruppierung an mutigen Widerstandskämpfern, deren Geschichte in wenigen Jahren von kaum jemandem noch erzählt werden kann. “Alles was ich bin” ist keine Autobiographie, kein Sachbuch und wirkt dennoch unheimlich authentisch und realistisch – Anna Funder bedient sich den bruchstückartigen Erinnerungen ihrer Freundin Ruth Blatt und erzählt eine Geschichte davon, wie es gewesen sein könnte. Es ist eine wichtige Geschichte, eine Geschichte gegen das Vergessen.

Leben, Denken, Schauen – Siri Hustvedt

In Siri Hustvedts lesenswertem Essayband gibt es einen Essay, der den Titel “Ausflüge zu den Inseln der Wenigen” trägt, in dem die Autorin das Prinzip ihres eigenen Buches erklärt: sie spricht dort über unsere Kultur des Hyperfokus und Expertentums – jeder ist nur noch Experte auf seiner eigenen abgeschotteten Insel, ohne Blick für die Schönheiten rechts und links. Siri Hustvedt ist Literatin, Künstlerin, doch sie macht sich mutig auf, zu den Inseln der Kunsttheroie, der Neurowissenschaften, der Psychoanalyse. Es sind Reisen, die sie für immer verändert haben.

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“Große Bücher sind solche, die eindrücklich und lebensverändernd sind, solche, die dem Leser Kopf und Herz öffnen.”

Die Essays, die in “Leben, Denken, Schauen” versammelt sind, wurden über einen Zeitraum von sechs Jahren geschrieben und sie alle vereint, dass Siri Hustvedt in ihnen über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausblickt. Sie legt keinen literatur- oder geisteswissenschaftlichen Essayband vor, sondern bedient sich vielerlei Theorien aus anderen Disziplinen. Fündig wird sie dabei vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es verwundert nicht, dass sich die erfolgreiche Autorin auch lange vorstellen konnte, als Psychoanalytikerin zu arbeiten.

Die hier versammelten Essays sind nicht alle auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, neben dem klassischen Essay gibt es auch Beiträge für Fachzeitschriften oder auch Mitschriften von Vorträgen. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte in gemeinschaftlicher Arbeit von Uli Aumüller und Erica Fischer.

“Beim nochmaligen Lesen der in diesem Band gesammelten Essays wurde mir klar, dass sie, obwohl sie eine ganze Reihe von Themen behandeln, durch die beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, miteinander verbunden sind. Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen?”

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Leben, Denken, Schauen. Unter dem Schlagwort Leben versammelt Siri Hustvedt die wohl persönlichsten Essays dieses Bandes. Vater und Mutter finden Erwähnung, genauso wie ihre skandinavische Herkunft und ihre Liebe für die dänische Schriftstellerin Inger Christensen. Denken ist die Überschrift für diejenigen Essays, in denen die Autorin sich mit theoretischen Rätseln und Fragen beschäftigt. Viele dieser Rätsel wurzeln in der Literatur. Es geht um die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Schreiben von Erinnerungsliteratur und dem romanhaften Erzählen. Es geht um die Sprache in der Politik, eine Sprache, die ein Klima der Angst erzeugen kann – etwas, das vor allem George Bush beherrscht hat. Klug und besonnen zeigt Siri Hustvedt auf, wie dieser durch ständige Wiederholungen, ein Wort wie Freiheit entwertet und ausgehöhlt hat. Es geht aber auch um die Frage nach Phantasie und Imagination und um die Psychoanalyse. In vielen Essays vermischen sich die Theorien – warum auch nicht, warum sollte man nicht die neurowissenschaftliche Forschung heranziehen, um eine literarische Frage zu beantworten?

“Meine Essays sind eine Form von geistigen Reisen, von einem Zugehen auf Antworten, wobei ich mir intensiv dessen bewusst bin, dass ich nie ans Ende der Straße gelangen werde.”

Im letzten Abschnitt des Buches, der den Titel Schauen trägt, beschäftigt sich Siri Hustvedt mit Fragen der Bildenden Kunst. All diesen Fragen geht eine ursprüngliche Begeisterung für Kunst und Künstler voraus, Erwähnung finden Louise Bourgeois, Kiki Smith, Gerhard Richter, Annette Messager, Goya oder auch Richard Allen Morris. Kunst ist ein Bereich, der Siri Hustvedt seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt und den sie immer wieder auf neuen Wegen versucht zu entdecken und zu beschreiben.

“Jedes Buch ist für jemanden. Der Akt des Schreibens mag einsam sein, er ist aber immer eine Hinwendung zu einer anderen Person – einer Einzelperson -, da jedes Buch allein gelesen wird. Die Schriftstellerin weiß nicht, für wen sie schreibt. Das Gesicht des Lesers oder der Leserin ist unsichtbar, und doch stellt jeder zu Papier gebrachte Satz ein Angebot dar, Kontakt aufzunehmen, und eine Hoffnung darauf, verstanden zu werden. Die Essays in Leben, Denken, Schauen wurden in diesem Geist geschrieben. Sie wurden für Sie geschrieben.”

Allen Essays gemein ist der unbändige Entdeckergeist und Forscherwille von Siri Hustvedt. Hier schreibt keine von ihrem Alltag gelangweilte Literatin, die gerne mal ein bisschen in die Psychologie hinein schnuppern will. Hustvedt erschließt sich all die fremden Inseln mit unbändigem Wissensdurst, Fleiß und Ausdauer. Sie nimmt regelmäßig teil an monatlichen Vorträgen über Neurowisschenschaft und ist als einzige Künstlerin Mitglied einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Sie veröffentlicht in psychologischen Fachzeitschriften und leitet einen Schreibkurs an einer Psychiatrie. Dieses stete Interesse an der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben liegt sicherlich auch in der eigenen Erkrankung Hustvedts begründet, die an schweren und häufig monatelangen Migräneschüben leidet.

“Das Lesen hat in unserer Kultur so nachgelassen, dass jetzt alles Lesen für ‘gut’ gehalten wird. Kinder werden ermahnt, überhaupt zu lesen, so als wären alle Bücher gleich, doch ein mit Binsenweisheiten und Klischees, mit formelhaften Geschichten und einfachen Antworten auf schlecht gestellte Fragen aufgeblähtes Gehirn ist kaum das, worum wir uns bemühen sollten.”

Auf die Frage danach, wer wir sind und wie wir so geworden sind, gibt es keine einfachen oder gar allgemeingültigen Antworten, doch Siri Hustvedt gelingt es, kleine Impulse zu geben, interessante Perspektiven aufzuzeigen und zu neuen Denkanstößen anzuregen. Ihre wichtigste Anregung ist sicherlich die, mal über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken – mit einem Blick, der offen sein sollte und immer darauf ausgerichtet, Neues zu entdecken.

Das letzte Polaroid – Nina Sahm

Das Leben eines anderen Menschen leben – stellen wir uns das nicht alle manchmal vor? In ein fremdes Leben eintauchen, um das eigene nicht mehr leben zu müssen – wünscht sich das nicht jeder einmal? Nina Sahm lässt dieses Szenario Wirklichkeit werden und erzählt dabei von Freundschaft und davon, wie wichtig es ist, herauszufinden, wer man wirklich ist.

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“Zehn Jahre waren vergangen, seit ich auf den schmalen Wegen rund um unser Ferienhaus die Schritte zum See gezählt hatte.”

Während eines Familienurlaubs am Balaton lernt Anna, die behütet in München aufwächst, die wilde und lebenslustige Kinga kennen. Beide Mädchen sind fast gleich alt, doch es trennen sie Welten. Während Anna das Leben eines Kindes lebt, umsorgt von Eltern, die alles versuchen zu planen und Schlechtes zu verhindern wissen, lebt Kinga ein wildes Leben. Sie hat bereits Brüste und den ersten Sex, beim Kirschkernweitspucken gewinnt sie mit Abstand. Wenige gemeinsame Tage am Balaton genügen, um aus diesen ungleichen Mädchen ein eingeschworenes Team zu machen. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft.

“Ich stand auf dem Bahngleis, ein Polaroid von Kinga und ihren Eltern in den Händen, das ich bis zur Abreise zwischen dem fünften und sechsten Band meiner Enzyklopädie versteckt hatte.”

Jahre später erhält Anna die Nachricht, dass Kinga im Koma liegt. Ohne zu zögern, lässt die junge Frau ihr Leben zurück, um an das Krankenbett ihrer Freundin zu reisen. Ihr Leben lebt sie in München, dort macht sie eine Ausbildung zur Bäckerin – es ist ein beschauliches Leben, ohne Partner, Kind und Haustier. Ein Leben, das sie schon lange ohne Mutter führt, die die Familie kurz nach dem Urlaub in Ungarn verließ. Es ist ein Leben, das ihr so eng und erstickend erscheint, dass sie es ohne zu überlegen aufgibt. Doch als Anna in Ungarn ankommt und ein Zimmer im Elternhaus von Kinga bezieht, führt ihr Weg sie zunächst kaum an deren Krankenbett. Stattdessen streift sie das alte Leben Kingas über, wie einen warmen und bequemen Wollpullover. Sie taucht ein in die ihr unbekannte Stadt, nimmt Arbeit in einem Café an und knüpft ein zartes Band zu Kingas Freund, mit dem sie viel Zeit verbringt.

“Es war wie bei den Ritzen zwischen den Steinen, ich musste mich so vorsichtig wie möglich bewegen, um mögliches Unglück, so gut es ging, fernzuhalten.”

Kinga hat ein Leben gelebt, das ganz anders ist, als das von Anna, die als Tochter eines Arztes und einer Architektin in München aufwuchs: wild, lebenslustig, abenteuerlich, fröhlich. All das, macht Anna plötzlich zu ihrem eigenen Leben. Jahrelang hat sie die Polaroids angeschaut, die das Leben Kingas zeigten. Jahrelang las sie die Briefe ihrer Freundin, die so viel zu erzählen hatte, das Anna Freunde erfinden musste, um mit Kinga mithalten zu können. Plötzlich betritt sie ein anderes Leben, als würde sie Teil eines Polaroids werden – sie schummelt sich auf das Foto, drängt sich hinein, macht sich zu einem Teil eines Lebens, das nicht ihr gehört.

“Die Kinga, die ich suchte, steckte sich Pommes in die Ohren und war mir immer einen Schritt voraus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit einer Kinga, die unter einem weißen Laken lag und mir nicht mehr weiterhelfen konnte, umgehen konnte.”

Nina Sahm erzählt eine Geschichte, die zunächst zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringt. Dabei wird nicht nur von einer ganz besonderen Freundschaft erzählt, sondern es entfaltet sich auch ein Panorama zweier Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Der Leser erfährt davon, wie diese seltsame Freundschaft entstand und warum sich beide Mädchen auch zehn Jahre später noch Briefe schrieben. Nina Sahm verzichtet auf Pathos und Tragik, auf große Effekte. “Das letzte Polaroid” ist ein leiser, ein stiller Roman. Anna schleicht in das Leben ihrer Freundin hinein, macht sich das Wissen aus Kingas Briefen zunutze, um deren Freund an sich zu binden und doch ist es schwer, der jungen Frau böse zu sein. Anna hat kein Leben, in dem sie geliebt und geschätzt wird. Ihre Eltern waren vor allen Dingen mit sich selbst beschäftigt. Kingas Eltern schätzen sie, doch Anna kann nicht glauben, dass sie für das geschätzt wird, was sie ist – sie glaubt, etwas darstellen zu müssen, um geliebt zu werden.

“Evà lachte und warf einen Blick auf den Kuchen im Ofen, der langsam aufging und sich nach oben wölbte. In Wirklichkeit hatte meine Entscheidung nichts mit ihr zu tun. Aber ich mochte sie, und es schadete niemandem, wenn ich die Sachen ein wenig verdrehte, im Gegenteil. Vielleicht bedeutete Zuneigung gerade, dass man sich dem anderen zuliebe auch mal verstellen konnte.”

Nina Sahm hat einen Roman geschrieben, der wie ein Polaroid ist. Ein Polaroid fängt einen Moment ein, doch es dauert, bis sich das Bild entwickelt, bis man alles darauf erkennen kann. Man knipst, wedelt, wartet – auch “Das letzte Polaroid” setzt sich Stück für Stück zusammen, bis sich schließlich das ganze Bild entfaltet. Was dann darauf zu sehen ist, handelt von Freundschaft, dem Platz im Leben, den man finden muss und davon, herauszubekommen, wer man eigentlich wirklich ist und sein möchte.

Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie – Katherin Dunn

Obwohl der Roman mit dem ungewöhnlichen Titel bereits vor etlichen Jahren erschienen ist, besitzt er auch heute noch erschreckend viel Aktualität und zeichnet in einer bissigen und skurrilen Satire unsere heutige Welt der Schönheitsideale nach. Die Frage nach Normalität und Schönheit steht dabei im Mittelpunkt und lässt sich übertragen auf vieles, das  Teile unsere Gesellschaft heutzutage immer noch bestimmt: sei es der Wunsch, den Körper generalüberholen zu lassen oder die neueste Diät. Die Vorstellung, sich so zu akzeptieren, wie man ist, ist mittlerweile aus der Mode gekommen. Come as you areEs ist sicherlich kein Zufall, dass auch Kurt Cobain zu den prominenten Fans dieses Romans gehörte.

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“Was dumme Menschen für eine Behinderung halten könnten, ist in Wahrheit ein Riesengeschenk. Was Sie mit Ihrer Stimme geschafft haben, wäre vielleicht nie möglich gewesen, wenn sie normal gewesen wären.”

“Binewskis”, der Roman mit dem schönen Untertitel “Verfall einer radioaktiven Familie”. galt jahrzehntelang als unübersetzbar – zumindest behauptet genau dies der Klappentext. Im Original wurde das Buch bereits 1989 veröffentlicht, doch erst jetzt erscheint es auch auf Deutsch, verantwortlich dafür ist die Übersetzerin Monika Schmalz, die aus einem scheinbar unübersetzbaren Roman einen wahren virtuosen Lesegenuss gemacht hat.

“Arty stupste mich an, und ich meldete  mich zu Wort. ‘Erzähl doch mal von damals, als Mama der Geek war!’, sagte ich, und dann rutschten Arty, Elly und Iphy und Chick neben mich in eine Reihe auf den Boden.”

Katherine Dunn erzählt eine Familiengeschichte, doch die Familie, von der sie erzählt, ist anders, als alle anderen Familien. Den Binewskis gehört ein Wanderzirkus, den Vater Aloysius (von allen Al genannt) von seinem Vater geerbt hat. Seine größte Attraktion ist seine eigene Frau Crystal Lil, die er als Geek engagiert hat – sie beißt Hühnern die Köpfe ab und trinkt deren Blut. Finanziell durchlebt der Zirkus dennoch schwierige Zeiten, ein alter Löwe braucht teure Zahnprothesen und die dickste Frau der Welt verursacht steigende Lebenserhaltungskosten. Doch Al und Crystal Lil haben eine rettende Idee, sie beschließen, sich ihre eigene Freakshow zu züchten: mithilfe von illegalen Drogen, rezeptpflichtigen Medikamenten, Insektiziden und Radioisotopen zeugen sie keine normalen Kinder, sondern Kreaturen. Nicht alle Versuche glücken, die gescheiterten Experimente werden in Formaldehyd eingelegt im Familienmuseum ausgestellt. Es gibt jedoch auch geglückte Versuche, zum Beispiel Arty, der von allen nur Aquaboy genannt wird, weil er mit Schwimmflossen zur Welt kommt. Oder die siamesischen Zwillinge Electra und Iphigenia, deren Körper an der Taille miteinander verbunden sind. Chick hat keine sichtbare Behinderung, dafür aber eine innere Besonderheit: er verfügt über die Fähigkeit der Telekinese.

Erzählt wird der Roman von Olympia, die von allen nur Oly genannt wird und im Gegensatz zu ihren ungewöhnlichen Geschwistern fast schon eine Enttäuschung gewesen ist: Trotz einer ordentlichen Menge Kokain, Amphetaminen und Arsen während der Schwangerschaft, kommt Oly lediglich als kleinwüchsiger Albino auf der Welt, dessen einzige Besonderheit ein wenig bemerkenswerter Buckel ist.

“Das alles war viel zu alltäglich, als dass ich in gleichem Maße hätte vermarktet werden können wie meine Brüder und Schwestern. Immerhin stellten meine Eltern bei mir eine starke Stimme fest und beschlossen, dass aus mir ein geeigneter Ausrufer und Marktschreier für unser Geschäft werden könnte. Ein Albino mit Glatze und Buckel schien die Leute auf den Geschmack bringen zu können für die abseitigen Talente der restlichen Familie.”

Der Roman setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: auf der einen Ebene erzählt Olympia die Geschichte ihrer skurrilen Familie, die im Laufe der Jahre immer stärker um ihren ältesten Bruder Arty kreist. Dieser vereint beinahe schon eine religiöse Fangemeinde an Anhängern hinter sich, die seien wollen, wie er: die Arturo-Sekte. Dieser Arturismus geht soweit, dass Fans sich Fingerglieder, Zehen und ganze Körperteile amputieren lassen, um ihrem Idol möglichst nahe sein zu können. Die zweite Ebene des Romans spielt viele Jahre nach den Wanderzirkuszeiten, der sich bereits lange zuvor aufgelöst hat. Oly ist einer Frau auf den Fersen, die ein skurriles Unternehmen betreibt: schöne Frauen werden von ihr verstümmelt und verunstaltet, damit möchte sie erreichen, dass die Frauen – losgelöst von ihrer Attraktivität, ihrer Schönheit – sich selbst entdecken und dadurch zu ihren wahren Talenten finden können.

“Die armen Kröten hinter mir sind verstummt. Ich habe sie besiegt. Sie haben gedacht, sie könnten mich benutzen und beschämen, aber ich gewinne von Natur aus, weil man zu einem echten Freak nicht gemacht werden kann. Ein echter Freak muss geboren werden.”

Die Autorin hat 17 Jahre an diesem Roman gearbeitet, er ist vor 25 Jahren erschienen und doch besitzt er auch heutzutage immer noch eine erschreckende Aktualität. “Bineweskis” ist skurril und grotesk, beinhaltet aber auch einen bitteren Wahrheitskern. Es geht um eine Gesellschaft, die sich im Schönheitswahn befindet, um eine Gesellschaft, in der alle gleich sein wollen und alle gleich aussehen. Es geht um Normalität, um Andersartigkeit. Es geht aber auch um die leichte Beeinflussbarkeit von Menschen, für die die Arturo-Sekte ein erschreckendes Beispiel ist. Gekonnt dreht Katherine Dunn die Verhältnisse in ihrem Roman um, denn im Wanderzirkus der Binewskis möchte niemand normal sein. Normalität ist langweilig und gewöhnlich, die Menschen möchten verstümmelte, verunstaltete Kreaturen sein.

Katherine Dunn schildert in “Bineweskis” auf eine komische, skurrile und immer wieder aberwitzige Art und Weise den Verfall einer radioaktiven Familie und legt dabei einen Roman vor, der als Satire auf den Schönheitswahn unserer Gesellschaft gelesen werden kann. Der Roman ist dabei gleichzeitig Familienroman, Gesellschaftskritik und Horrorgeschichte. Eine unbedingte und ganz außergewöhnliche Leseempfehlung!

Von hier nach da: Briefe, 2008 – 2011 – Paul Auster und J.M. Coetzee

Zwei Menschen, die sich Briefe schreiben – wirkliche Briefe, die mit einem Stift auf Papier geschrieben und durch die halbe Welt geschickt  werden – sind aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten, eine Seltenheit. Paul Auster und J.M. Coetzee machen jedoch genau das; das Höchste der technischen Gefühle, ist ein Faxgerät, das von beiden ab und an genutzt wird. Diese Abneigung gegenüber der modernen Technik ist etwas, das beide Autoren miteinander verbindet. Paul Auster besitzt weder ein Handy, noch schreibt er E-Mails und doch dürfen sich beide als Romanautoren dem Fortschritt nicht ganz verweigern, zumindest solange man keine historische Schinken schreiben möchte.

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“Ich schätze altmodische Briefe mit Briefmarken darauf außerordentlich, aber in diesem Fall habe ich das Gefühl, so lange außer Gefecht gewesen zu sein, dass ich die Energie des Internets einspannen muss.”

Fast 300 Seiten, auf denen Briefe von zwei – naja, nicht mehr ganz jungen – Schriftstellern versammelt werden … die Frage, warum man das lesen sollte ist sicherlich nicht ganz unberechtigt. In den Briefen wechseln sich philosophische Diskussionen über Freundschaft ab mit banalen Alltagsgesprächen (Paul Auster berichtet, dass Siri Hustvedt an Weihnachten den Rotkohl vergessen hat). Politische Diskussionen über Israel, den arabischen Frühling oder auch den Zusammenbruch der Finanzmärkte stehen Seite an Seite mit Gedanken über die Faszination des Sports, denn beide Männer verbringen immer wieder Stunden damit, sich Sport im Fernsehen anzuschauen. Viele der Themen, die Auster und Coetzee in ihrem Briefverkehr anreißen, bleiben jedoch seltsam oberflächlich. Was sollte auch zwei Schriftsteller dazu befähigen, über Israel oder Libyen zu diskutieren? Was können beide, neben der Tatsache, dass sie bedeutende Autoren sind, zu einer solchen Diskussion überhaupt beitragen? Leider nicht wirklich viel. Die Finanzkrise wird von J.M. Coetzee als Krise der Zahlen bezeichnet, die Lösung ist denkbar simpel: einfach neue Zahlen erfinden und von vorne beginnen. Auch für den Konflikt in Israel hat Paul Auster eine praktisch handliche Lösung: warum die ganzen Israelis nicht einfach nach Wyoming umsiedeln, das Problem wäre gelöst.

“Ich sage mir, dass sollte mich nicht überraschen; so geht es nun einmal, wir alle sind sterblich, der Tod kann uns jederzeit holen, aber solch allgemeine Betrachtungen bieten nicht den geringsten Trost. Es zerreißt einem das Herz. Es gibt schlicht kein Mittel dagegen.”

Briefe üben auf mich eine ähnliche Faszination aus, wie Tagebücher: das Lesen hat ein voyeuristisches Element, eine Ebene, die aus Tratsch und Lästereien besteht, daraus, sich dem unverfälschten Bild eines Menschen zu nähern. Bei den Briefen von Paul Auster und J.M. Coetzee bleibt unklar, ob sie auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, oder ob man sich erst später dazu entschied, sie zu veröffentlichen. Der Eindruck, der bei mir entstanden ist, ist der einer zu glatten Oberfläche – ohne Risse und Sprünge. Auster und Coetzee üben sich in einer seltsamen gegenseitigen Zustimmung, die irgendwann allzu harmonisch und flach wirkt. Kaum einmal widersprechen sie einander, kaum einmal sind sie konträrer Meinung.

“Wir leben in einer Zeit endloser Schreibworkshops, Schreibkurse (stell Dir vor, ein Examen in Schreiben zu machen), es gibt mehr Dichter pro Quadratzentimeter als je zuvor, mehr Lyrikzeitschriften, mehr Lyrikbände (99% davon in mikroskopisch kleinen verlagen), Poetry Slams, Performance-Dichter, Cowboy-Dichter – aber trotz all dieser Betriebsamkeit kommt dabei kaum etwas Bemerkenswertes heraus.”

“Von hier nach da” ist an den Stellen am stärksten, an denen sich beide ihrem eigentlichen Metier zuwenden: der Literatur. Die Bücher des jeweils anderen werden höflich analysiert (Coetzee hat “Unsichtbar” verschlungen) und auch über andere Schriftsteller wird kaum ein böses Wort verloren. Und doch erhält man seltsam intime Eindrücke in die Arbeit eines Literaten, beide reisen von Festival zu Festival und doch tut sich J.M. Coetzee auch mit siebundsechzig Jahren noch schwer, persönliche Fragen zu beantworten. Besonders faszinierend sind die Passagen, in denen es um Kritik an den eigenen Büchern geht und wie man damit umgehen kann. J.M. Coetzee erhält einen Brief einer Leserin, die ihm antisemitische Tendenzen unterstellt, weil sie zwischen Autor und literarischer Figur nicht unterscheiden kann. Paul Auster hat es in der Zwischenzeit ganz aufgegeben, Kritiken seiner Bücher zu lesen – sie setzen ihm zu sehr zu. An einer anderen Stelle entspinnt sich – angelehnt an Derrida – ein faszinierender Dialog über die Muttersprache. Auch über die neuen technischen Entwicklungen des Lesens wird diskutiert, Paul Auster begrüßt das E-Book und den E-Reader, während J.M. Coetzee bedauert, dass es in der heutigen Zeit immer weniger um das Buch an sich geht.

“[…] kürzlich habe ich eine Alumnus-Zeitschrift einer Universität in Südafrika bekommen. Darin war auch ein Artikel, der die Eröffnung einer neuen Universitätsbibliothek feierte, ausgestattet mit Computerarbeitsplätzen, Studienkabien, Seminar- und zahllosen Arbeitsräumen. Ich habe den Artikel gelesen und noch einmal gelesen, um sicherzugehen. Ich hatte recht. Das Wort Buch tauchte nicht ein einziges Mal auf.”

Paul Auster und J.M. Coetzee legen mit “Von hier nach da” einen Briefwechsel voller Stärken und Schwächen vor. Thematisch zusammengehalten werden die Briefe von der losen inhaltlichen Klammer der Freundschaft, die die ersten und letzten Briefe dieses Bandes bestimmt. Nicht alles davon ist substantiell, aber vieles ist interessant, besonders dann, wenn es um die Literatur geht. Vieles ist ab und an auch humorvoll. Doch das Gefühl, zwei Schriftstellern wirklich näher gekommen zu sein, das habe ich leider nicht.

Flut und Boden: Roman einer Familie – Per Leo

Der Untertitel von “Flut und Boden”, dem Buch, mit dem Per Leo vor einigen Monaten zu den Nominierten des Leipziger Buchpreis gehörte, ist ein wenig irreführend. Per Leo, der 1972 in Erlangen geboren wurde, legt nämlich im engeren Sinne keinen Roman vor, sondern viel mehr ein Stück Autobiographie. “Flut und Boden” ist ein Stück seiner eigenen Geschichte, ein Stück Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Wirren des 20. Jahrhunderts.

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“Noch immer steht sein Bild am schwarzen Himmel. Doch allmählich wird es schwächer. Noch immer sind in meinem Kopf nur Wörter. Aber sie tönen nicht mehr so schrill. Sie stehen herum wie Bruchstücke eines Textes, die nur ein langer Kommentar wieder verbinden könnte. Familienwappen, Humanismus, Schiffbau, Villa, Heide, Scholle, Bücher, Blitzkrieg, Sturmbannführer. Da komme ich also her.”

Per Leo erzählt in seinem Roman zwei Geschichten, die seiner Familie und die eigene. Die eigene ist klassisch und schnell erzählt: als Student verliert Per Leo kurzzeitig die Orientierung im Leben, stellt sich die Sinnfrage, die sich wahrscheinlich viele junge Menschen stellen. In Freiburg, der Stadt, in der er studiert, sucht er die psychosoziale Beratungsstelle auf – geholfen wird ihm dort nicht, die Mitarbeiterin nimmt ihn nicht einmal wirklich ernst. Erst als er seinen verstorbenen Großvater erwähnt, dessen Vergangenheit er erforscht, wird die Frau hellhörig. Per Leo ist plötzlich nicht mehr nur ein verwöhnter Student, sondern auch ein Nazi-Enkel. Der Vergangenheit seines Großvaters ist er durch Zufall auf die Spur gekommen. Die Nazivergangenheit von Friedrich Leo war in der Familie ein offenes Geheimnis, ein Geheimnis, über das lieber geschwiegen wurde. Zeugnisse dieser Vergangenheit findet Per Leo nicht in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden, sondern im großelterlichen Bücherregal, an einer Stelle auch als Giftschrank bezeichnet.

“Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte?”

Per Leo, der den literarischen Kniff anwendet, nicht nur Autor zu sein, sondern auch der zurückhaltende Erzähler dieses Textes, beschließt, die Vergangenheit zu erforschen. Er erforscht nicht nur die Vergangenheit von Friedrich Leo, der als überzeugter Nationalsozialist Teil der SS gewesen ist, sondern spiegelt dessen Leben mit den Lebensläufen seiner drei Brüder. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf Martin, den ältesten Bruder – er ist neben Friedrich die zweite Hauptfigur dieses Buches. Martin wird Naturwissenschaftler, lebt ein Leben, in dem er für vieles offen und an vielem interessiert ist, nur politisch wird er – im Gegensatz zum Bruder Friedrich – nie aktiv.

“Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes.

Exemplarisch an diesen beiden Männern macht Per Leo deutlich, wie unterschiedlich Leben verlaufen konnten in der damaligen Zeit. Die beiden Brüder hätten sich kaum konträrer entwickeln können. Der Autor zeichnet jedoch nicht nur die Lebensläufe nach, sondern setzt diese in ein Verhältnis zu politischen, aber auch zu geistigen, kulturellen oder religiösen Strömungen. Erwähnung finden Rudolf Steiner und Ludwig Klages, neben vielen anderen. Dabei entsteht jedoch keinesfalls ein überladenes Panorama, sondern ganz im Gegenteil: hochspannend und mit viel Gespür für das Detail und einen feinen Witz, geht Per Leo den Lebensströmungen des 20. Jahrhunderts nach.

Per LeoSchauplatz des Romans ist das beschauliche Bremen, dort hat Friedrich Leo in Vegesack ein Haus bewohnt – Orte wie die Weser, die ehemalige Vulkan Werft und das Weserstadion spielen eine wichtige Rolle und finden immer wieder Erwähnung. Es dürfte nicht überraschen, dass die Lektüre des Romans für mich einem Nachhausekommen gleich kam, ich habe viele bekannte Orte wiederentdeckt. Es gelingt ihm, Bremen so einzufangen, dass man beim Lesen glaubt, mit dem Buch in der Hand durch die Straßen wandern zu können. Eine wichtige Rolle in “Flut und Boden” spielt auch die Musik, es sind Nirvana und Tocotronic, die Per Leo auf seiner Reise in die Vergangenheit begleiten.

“Friedrich Leo, so sagt er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.”

“Flut und Boden” ist weniger ein Roman einer Familie, als ein autobiographischer Essay. Romanhaft an diesem Buch ist lediglich der Erzählton, denn Per Leo holt weit aus und spannt ein Zeitpanorama, das sich über drei Generationen erstreckt – wie in den besten Familienromanen. Doch er kann genau das, erzählen! Er erzählt mit einer enormen Ernsthaftigkeit, die er jedoch stellenweise selbst mit Ironie und Humor unterläuft. Beispielsweise an der Stelle, an der er einem Kapitel die Überschrift “The making of a Nazienkel” verpasst.

Per Leo legt mit “Flut und Boden” ein konzentriertes Stück Familiengeschichte vor. Der Autor erzählt auf hohem literarischem Niveau und zeichnet dabei ein beeindruckendes Panorama des 20. Jahrhunderts. “Flut und Boden” ist keine einfache Sommerlektüre, doch wer die Mühe auf sich nimmt, die Welt der Leos zu betreten, der wird mit einer spannenden und unheimlich interessanten Lektüre belohnt.

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