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Zeitgenössisches

Rosa Straußenfedern – Hanna Krall

“Dies ist ein Buch über das, was mir Menschen in fünfzig Jahren schrieben und erzählten.” Das sind die wenigen Worte, aus denen der Klappentext dieses seltsamen Buches besteht – es sind Worte, die mich sofort neugierig gemacht haben. Im Einband erfahre ich, dass Hanna Krall 1935 in Warschau geboren wurde und mit ihren Veröffentlichungen vor allem in Polen für Aufmerksamkeit sorgte, auch ein jahrelanges Publikationsverbot konnte sie nicht stoppen. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren häufig lakonischen Reportagen.

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“Ich bin keine Pessimistin, überhaupt nicht. Ich denke nie, schade, dass ich nicht mehr vierzig bin. Ich denke, gut, dass ich noch nicht vierundsechzig bin. Ich denke, gut, dass ich eine Brasse gefangen habe und keinen Goldbarsch. Ich denke, dass mir solche Dinge wie Sonne, Wolken, Dämmerung am Wasser immer wichtiger werden.”

“Rosa Straußenfedern” ist weit entfernt von klassischer oder auch herkömmlicher Literatur, was auch immer man darunter verstehen mag. Es gibt keine Handlung, keine wirklichen Figuren, keinen roten Faden – das Einzige, das es gibt, ist ein klar abgegrenzter Zeitraum: die Jahre von 1960 bis 2009. Hanna Krall versammelt Briefe, Notizzettel, Gedankensplitter, Unterhaltungen, Ideen, Reportagematerial und ordnet all dies in eine chronologische Reihenfolge. Ihre Gesprächspartner sind berühmt, zu Wort kommt unter anderem Jan Karski, aber auch Marek Edelman. Doch es sind vor allem die unbekannten Stimmen, die unbekannten Namen, deren Geschichten berühren und bewegen.

Die Struktur des Buches ist kompliziert, ich habe mich beim Lesen zunächst einmal hineindenken müssen. Die einzelnen Abschnitte sind kurz, manchmal nur eine Seite lang, höchstens drei. Das Schriftbild ist zweigeteilt, die kursiven Passagen sind direkte Zitate ihrer Gesprächspartner, aus den anderen Stellen spricht die Stimme von Hanna Krall. Über jedem Abschnitt steht ein Name, es sind bekannte und unbekannte Namen – mit viel Gespür für das Detail und mit dem Auge einer Reporterin fasst Hanna Krall ihre Geschichten zusammen.

“Liebste Gattin, lass dich nicht unterkriegen, wir haben schon ganz andere Dinge überstanden, wir haben die Schwindsucht überstanden, die Wawel-Straße und den Verlust unserer Tulpenzwiebeln. Das Buch wird irgendwann herauskommen, das verspreche ich Dir. Vorerst gehe ich die Pferde unserer Tochter bezahlen und den dritten Band der Enzyklopädie kaufen. Ja, dein Buch ist fern, aber die Familie ist nah, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.”

Der banale Alltag wechselt sich ab mit grausamen Erinnerungen an den Krieg. Krall ruft dem Leser alles der damaligen Zeit in Erinnerung: die Gewalt, die Grausamkeit, die Einsamkeit, der Hunger. Es gibt aber auch viele heitere und lakonische Abschnitte, wir erfahren woraus die Arbeit eines Sexers besteht, eine Berufsbezeichnung, über die ich zum ersten Mal gestolpert bin. Es wird ein Verlagsdirektor zitiert, der Hanna Kralls Buch ablehnt, Seite an Seite mit Briefen ihrer Tochter Katarzyna, die der Mutter aus dem Ferienlager schreibt. Auch mit der quälenden Frage der Berufswahl ihres Enkels, beschäftigt sich die Autorin.

Hanna Krall erzählt keine Geschichte, es bleibt dem Leser überlassen, die Geschichte, die sich in diesem 200 Seiten schmalen Buch verbirgt, aufzuspüren und zu entdecken. Die Geschichten der anderen, macht Hanna Krall zu ihrer eigenen, verleibt sie sich ein und erzählt sie nach. Der rote Faden ist – wenn man so mag – der Verlauf der Zeit. Hanna Krall richtet ihren Blick auf die großen sowie die kleinen Katastrophen unserer jüngsten Geschichte, sie lässt Holocaust-Überlebende zu Wort kommen und Solidarnosc-Aktivisten und wir lernen eine angebliche Attentäterin Lenins kennen.

“Ich bin überhaupt nicht melancholisch. Mir genügt eine kleine, winzige Freude am Tag. Mir genügt der Gedanke, dass diese Freude noch auf mich wartet. Manchmal ist es eine gute Zigarre. Manchmal … Sie werden es nicht glauben. Manchmal ein Stück Fruchtgelee – süß, mit Bitterschokolade überzogen -, das ich abends esse.”

Hanna Krall legt mit “Rosa Straußenfedern”  ein wahrlich seltsames Buch vor. Ein Buch, das sich entzieht, das sich sperrt und verweigert – es ist nicht leicht, einen Zugang zu finden, zur Sprache von Hanna Krall, aber auch zu den hier versammelten Erinnerungen und Gedankensplittern. Und doch hat mich die Lektüre seltsam angerührt, all die Geschichten, Erinnerungen und Erlebnisse fremder und bekannter Menschen hallen auch jetzt immer noch in mir nach und ich ertappe mich dabei, wieder und wieder zu dem Buch zu greifen und in diese Lebensgeschichten einzutauchen.

Die niedrigen Himmel – Anthony Marra

Ein junger amerikanischer Autor, der gerade einmal dreißig Jahre alt ist und einen Debütroman vorlegt, dessen Schauplatz das vom Krieg zerstörte Tschetschenien ist … klingt ungewöhnlich? Ist es auch, aber Anthony Marra gelingt genau dies und das auch noch auf einem ausgesprochen hohem literarischem Niveau.

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“Sobald man etwas im Kopf hat, kann es einem keiner mehr wegnehmen.”

Anthony Marra erzählt in “Die niedrigen Himmel” eine vielschichtige Geschichte, die eigentlich nur fünf Tage lang dauert und doch einen Zeitraum von zehn Jahren umfasst und eine Vielzahl an Figuren, die nicht nur einfach Romanfiguren sind, sondern sich in mein Herz geschlichen haben und sich dort immer noch aufhalten. Der Autor siedelt seinen Roman in Eldar an, einem archaischen Bergdorf. Es ist ein Dorf, von dem nur noch ein ausgehöhltes Skelett übrig geblieben ist, seit der Tschetschenienkrieg ausgebrochen ist. Männer und Frauen werden verschleppt, Häuser zerstört. In diesem Dorf lebt Achmed, der die Tochter eines Freundes rettet, nachdem dieser verschleppt wurde. Er bringt Hawah in die Stadt, er bringt sie bei Sonja unter, einer Frau, die als Chirurgin im Krankenhaus arbeitet. Es ist kein Zufall, der darüber entscheidet, dass Achmed ausgerechnet Sonja zur Mädchenretterin erwählt – erst viele Seiten später erfahren wir all das, was sich hinter dieser Entscheidung verbirgt.

“Die Finger des Mädchens lagen wie ein Armband um sein Handgelenk. Er wollte sich Hawah über die Schulter werfen und mit ihr nach Norden rennen, bis der Wald das Dorf verschluckte, aber als sie vor den verkohlten Balken standen, fehlte ihm die Kraft, ein Wort des Trostes über die Lippen zu bringen, die Hand des Mädchens zu halten oder die Füße in die gewünschte Richtung zu lenken.”

Die Rettung Hawahs ist Ausgangspunkt des Romans, an dem sich alle andere Erzählstränge und -fäden entknoten und entwickeln. Anthony Marra erzählt von Achmeds Leben, von Hawahs Familie und von Sonja, der es gelingt aus Tschetschenien zu fliehen und in London zu studieren, nur um dann doch wieder in die Heimat zurückzukehren, immer auf der Suche nach ihrer verschwundenen Schwester Natascha. “Die niedrigen Himmel” erzählt darüber hinaus eine Geschichte eines fürchterlichen Krieges, eine Geschichte von menschlicher Grausamkeit, von Gewalt und von Familien, die an den Kriegswirren zerbrechen. Die Beschreibungen des Krieges sind frei von Kitsch und Pathos, Anthony Marra findet nüchterne Worte für das Kriegsgeschehen, die vielleicht gerade in all ihrer Nüchternheit ihre größte Wirkung entfalten.

“Auch wenn es ein Schock ist, eine leere Wohnung zu betreten, macht sich die Abwesenheit nicht sofort bemerkbar, eher schon verblasst eine geteilte Gegenwart, schmilzt in die Vergangenheit hinüber, wird nicht ausgelöscht, sondern wechselt die Gestalt, aus dem Dasein wird Erinnerung, Festes verflüchtigt sich, und der Mensch, den man einst berührte, rinnt einem jetzt die Wangen hinab, bildet eine Gänsehaut auf dem Rücken, und man kann in der Erinnerung baden, versinken und ertrinken, aber halten können die Finger sie nicht.”

“Die niedrigen Himmel” ist eindeutig ein Roman, der seine ungeheure Faszination in der fortlaufenden Geschichte entfaltet. Je tiefer sich Anthony Marra in die Zusammenhänge hinein begibt, desto beeindruckender ist das Panorama, das sich vor den Augen des Lesers entfaltet. Es ergeben sich Querverbindungen, von denen man auf den ersten Seiten noch nichts ahnen konnte und auch die Beziehungen zwischen den Figuren kristallisieren sich nach und nach immer stärker heraus, Schicht um Schicht dringt der Autor hinein in das Herzstück seines Romans.

“[…] wie konnte man mit einem so stumpfen Instrument wie der Sprache einen so eigenartigen und flüchtigen Menschen wie Natascha erfassen? Die Metaphern versagten; Natascha ließ sich nicht zusammenfassen. Greifen konnte Sonja nur, was sie verloren hatte: Nataschas Lachen, Nataschas Hohn und ihre widerspenstige Liebe; und genau wie ein fehlendes Glied noch schmerzen und kribbeln kann, so lachte ihre verlorene Natascha noch immer, gab noch immer höhnisch und widerwillig ihre Liebe und strotzte noch immer vor Leben, so dass Sonja sich manchmal fragte, ob nicht vielmehr sie selbst verschwunden war.”

Der Tschetschenienkrieg fungiert bei Anthony Marra keineswegs nur als Folie oder Schablone, es gelingt ihm mit beeindruckender Klarheit, geschichtliche und politische Zusammenhänge aufzuzeigen und zu thematisieren. Er beschreibt fünf Tage im Jahr 2004, er braucht dafür fast 500 Seiten, weil er eben nicht nur diese fünf Tage beschreibt, sondern immer wieder zurückgeht in die Vergangenheit, in das, was gewesen ist und nie wieder so sein wird. Es ist das Thema der Erinnerung, das im Roman eine zentrale Rolle spielt: während Sonja in den Erinnerungen an die Schwester lebt und sich dabei fast selbst aufgibt, gibt Ula, die Frau Achmeds, ihre Erinnerungen auf und lebt in einem demenzähnlichen Zustand vor sich hin. Die Umgangsweise der beiden Frauen mit ihren Erinnerungen ist ganz unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen jedoch die Tatsache, dass Erinnerungen etwas Flüchtiges sind.

Anthony Marra legt mit “Die niedrigen Himmel” einen großartigen Roman vor, der eine eindringliche und kraftvolle Geschichte erzählt. Es ist ein Roman, der sich komplexen Themen annimmt: im Mittelpunkt steht natürlich das Kriegsgeschehen, es geht aber auch um Liebe, um Treue, um Verrat. Und es geht um Freundschaft und menschliche Güte, beides findet sich hier, mitten im Krieg. “Die niedrigen Himmel” ist ein Roman, der mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Unternehmer – Matthias Nawrat

Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, erzählt in “Unternehmer” eine Geschichte mit doppeltem Boden, eine Geschichte, die man – trotz besseren Wissens – einfach glauben möchte. Er erzählt von Arbeit, familiärem Zusammenhalt und dem modernen Unternehmertum und all dies findet statt in einer abenteuerlichen und unglaublich anmutenden post-apokalyptischen Welt.

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“Vielleicht ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: dass sich stets – so schön die Arbeit auch sein mag – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit.”

Im Zentrum des Romans steht die dreizehnjährige Lipa, die ein ganz anderes Leben führt, als so viele andere Mädchen. Sie ist Assistentin in einem Unternehmen, in einem Familienunternehmen. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Berti, dem nur noch ein Arm bleibt, den anderen hat er bei einem Arbeitseinsatz verloren, durchforstet sie alte Industrieruinen im Schwarzwald, immer auf der Suche nach Tantal und Wolfram, die die Familie reich machen sollen. Sie arbeiten, um sich einen Traum zu erfüllen: im nächsten Jahr möchte die Familie nach Neuseeland auswandern. Gemeinsam schlachten sie verlassene Fabriken aus, eine gefährliche Arbeit. Das Risiko ist hoch (Ein Unternehmen fordert seine Opfer) und der Ertrag ist gering, es bleibt unklar, ob die Familie wirklich daran glaubt, von dem Klimpergeld, das sie verdienen, irgendwann nach Neuseeland auswandern zu können.

“Was soll das sein, freie Zeit?, fragt Vater. Zeit, in der ich unternehmensfreie Dinge machen kann, sage ich. Was willst du machen?, fragt Vater. Topsecret, sage ich, und Vater sagt: Heute ist Spezialtag, du bist Assistentin.”

Was das genau für eine Apokalypse gewesen ist, die mitten im Schwarzwald ihr Unwesen getrieben hat, bleibt unklar. Die Welt scheint zweigeteilt worden zu sein: Lipa führt das Leben einer Erwachsenen, Ferien kennt sie nicht, der Blick ist auf den Profit und auf das Unternehmen gerichtet und dafür werden Opfer in Kauf genommen. Doch es gibt auch noch eine andere Welt, es gibt Computer und Tankstellen, es gibt einen Supermarkt. Es gibt eine normale Welt, die Lipa kennenlernt, als sie zum ersten Mal die Schule besucht: in der normalen Welt springt man Trampolin und taucht im Schwimmbecken. Es ist eine Welt, die Lipa verschlossen bleibt, die so sehr in der Unternehmerideologie ihres Vaters gefangen ist, dass sie sich jede Freizeitaktivität untersagt. Lipa glaubt, dass nur Kinder, die arbeitslos sind, Zeit dafür haben können, eine Schule zu besuchen. Auch Müdigkeit hält sie für eine Erfindung der Arbeitslosen, Unternehmer haben gar keine Zeit dafür müde zu werden.

Beim Lesen des Romans überkommt einen fast das Gefühl, als hätte Matthias Nawrat einen eignen Wortschatz erfunden: Unternehmer-Chef, Unternehmer-Händeschütteln, Unternehmer-Stellung. Es ist eine Welt, in der es um Termine geht, um Auskundschaftungen, um Inventur und Kundenanfragen. Überhaupt neigt Lipa dazu, sich eine Welt der Wörter zu erfinden:  die Täler des Schwarzwaldes werden von Gebiets-Veränderten bewohnt und als ihr Vater eine ganze Weile im Bett bleibt und das Familienunternehmen vernachlässigt, hält sie fest, dass sich im Haus eine Vaterschwere breit macht.

“Das Unternehmertum, sagt er später im Mercedes am Wiedener Eck, ist eine Teamarbeit, eine Arbeit für drei. Das merkt euch, fällt nur einer von uns aus, ist es vorbei.”

Lipa wird von Matthias Nawrat wunderbar gezeichnet, sie ist erfrischend sympathisch, aber auch erschreckend naiv und gefangen in den familiären Vorstellungen von Ethik und Arbeitsmoral. Als sie zum ersten Mal eine Schule besucht und der Lehrer sie fragt, wie es ihr geht, antwortet Lipa mit den Worten: “Es ist ein schöner Morgen”. Das Familienunternehmen presst das junge Mädchen in eine Lebensform, in der sie nicht mehr differenzieren kann zwischen den Bedürfnissen des Unternehmens und den eigenen Bedürfnissen – wenn sie diese denn überhaupt kennt. Vielleicht ist dieses postapokalypitsche Zukunftsszenario eine Warnung an unsere Hochleistungsgesellschaft, die kleine Kinder zu Höchstleistungen drängt – ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Hochleistungsgesellschaft, in der das einzelne Individuum zunehmend verschwindet. Lipa lebt ein seltsames Leben, doch ihr erscheint es logisch, so sehr ist sie gefangen in der väterlichen Ideologie. Als Leser läuft man immer wieder Gefahr, den Krakenhänden dieser Ideologie ebenfalls in die Fänge zu geraten. Erst die Liebe zum langen Nasen-Timo bietet Lipa einen Ausweg aus dem Arbeitsleben, das sie lebt – es ist ein Ausweg aus dem Unternehmen und aus der eigenen Familie. Beiden wollen in die Vogesen auswandern, die Vogesen scheinen dann doch auf jeden Fall erreichbarer zu sein, als Neuseeland.

Auf knapp 140 Seiten erzählt Matthias Nawrat virtuos eine vielschichtige Geschichte, die als Gesellschaftsroman gelesen werden kann, als Sozialstudie, als Zukunftsszenario, aber auch ein ganz kleines bisschen als Liebesgeschichte. Er trifft einen herrlich poetischen Ton, der manchmal heiter und naiv ist, aber auch immer wieder tieftraurig und schwer klingt. “Unternehmer” ist ein wahres Kleinod, das nachdenklich macht, das bewegt und das man lesen sollte.

 

Der Distelfink – Donna Tartt

“Dicke Bücher sind deswegen dick, weil der Autor nicht die Zeit hatte, sich kurz zu fassen”. Angesichts der 1022 Seiten, die “Der Distelfink” umfasst, ist es nicht abwegig, an dieses überlieferte Zitat des Schriftstellers Walter Moers zu denken. Zehn Jahre lang hat Donna Tartt an ihrem neuesten Roman gearbeitet, doch eines kann an dieser Stelle bereits verraten werden: trotz des beträchtlichen Umfangs, ist kein Wort in diesem Roman zu viel, keine Seite überflüssig. Es gibt keinen Satz, den man auch hätte streichen können.

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“Wir können uns unser eigenes Herz nicht aussuchen. Wir können uns nicht zwingen zu wollen, was gut für uns oder gut für andere ist. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind.”

In “Der Distelfink” erzählt Donna Tartt die Geschichte von Theo Decker, dessen Leben sich von einem Tag auf den anderen für immer verändern sollte, als er gerade einmal dreizehn Jahre alt ist. An diesem Tag besucht er mit seiner Mutter ein Museum in New York, der Besuch ist nicht geplant – eigentlich sind Mutter und Sohn auf dem Weg zur Schule, weil dort eine Konferenz stattfindet. Theo wurde der Schule verwiesen. Als es auf dem Weg dahin anfängt zu regnen, flüchten beide in das Museum. Dort entdecken sie ein Gemälde von Carel Fabritius – den Distelfink. Die Minuten, in denen sie dieses kleine Gemälde betrachten, sind die letzten gemeinsamen Minuten, die beiden bleiben – danach sollte ein schreckliches Unglück das Leben von Theo für immer verändern. Von einem Moment auf den anderen verliert der Junge seine Mutter und bleibt alleine zurück – traumatisiert und verstört.

“Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie am Leben geblieben wäre. Aber sie starb, als ich klein war, und obwohl ich an allem, was mir seitdem passiert ist, zu hundert Prozent selbst schuld bin, verlor ich doch mit ihr den Blick für jede Art von Orientierungspunkt, der mir den Weg zu einem glücklicheren Ort hätte zeigen können, hinein in ein erfüllteres oder zuträglicheres Leben. Ihr Tod also der Grenzstein. Vorher und Nachher.”

Das Einzige, das Theo geblieben ist, ist das Gemälde – im Schrecken nach dem Unglück, hat er es von der Wand genommen und eingesteckt, es mitgenommen wie einen Pfand. In dem Moment, in dem er sich entscheidet, das Lieblingsbild seiner Mutter mitzunehmen, ahnt er nicht, welche Rolle das Gemälde in den folgenden Jahren in seinem Leben spielen wird.

“Wie war ich in diesem seltsamen neuen Leben gelandet, wo betrunkene Ausländer nachts um mich herum schrien und meine Sachen schmutzig waren und niemand mich liebte?”

In den folgenden Jahren wird er hin- und hergeschoben, erst lebt er bei vermögenden Eltern eines Schulfreundes, später taucht sein verschollen geglaubter Vater auf und nimmt Theo mit nach Las Vegas. Die Ereignisse rund um das Unglück im Museum und die Wochen und Monate danach, werden von Donna Tartt mit einer beeindruckenden Authentizität und Dichte beschrieben. Das Unglück macht aus Theo, der zuvor ein halbwegs behütetes Leben geführt hatte, einen halt- und ziellosen Teenager. Drogen- und Alkoholexzesse werden zur Regel. Den Schmerz betäuben, egal wie. Taub werden für die drückende Scham, die verzehrende Sehnsucht, die Schuld und die Trauer.

“Wie war es möglich, jemanden so zu vermissen, wie ich meine Mutter vermisste? Ich vermisste sie so sehr, dass ich sterben wollte. Es war eine harte, körperliche Sehnsucht wie das Verlangen nach Luft unter Wasser.”

Donna Tartt lotet das Innenleben von Theo aus, der von Schuld zerfressen wird, denn irgendwie hat er seine Mutter doch in das Museum geführt. Sie lotet seine Gedanken aus, seine Dämonen, steckt den Leser in seinen Kopf und lässt einen erleben, wie Theo jeglichen Halt und jede Orientierung verliert. Auch in Momenten, in denen man glaubt, dass er sich endlich fangen wird, verschafft sich das Dunkle und Düstere doch immer wieder Zutritt zum Leben von Theo.

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“Niemand wird mir jemals, jemals einreden können, das Leben sei ein fantastisches, lohnendes Geschenk. Denn dies ist die Wahrheit: Leben ist Katastrophe. Die Grundtatsache des Daseins – des Umhergehens auf der Suche nach Nahrung und Freunden und all dessen, was wir sonst noch tun – ist Katastrophe. […] Für mich gilt – und das werde ich stur wiederholen, bis ich sterbe, bis ich auf mein undankbares, nihilistisches Gesicht falle und zu schwach bin, um es noch einmal zu sagen: besser nie geboren als geboren in diese Kloake. In diese Jauchegrube mit ihren Krankenhausbetten, Särgen und gebrochenen Herzen. Keine Erlösung, keine Berufung, kein “Neustart” […], kein Weg voran außer Alter und Verlust, kein Weg hinaus außer dem Tod.”

“Der Distelfink” ist ein Entwicklungsroman, über den man nicht zu viel erzählen darf, um nicht zu viel zu verraten. Er ist aber auch eine erschreckend detailreiche Studie des Guten und des Bösen und wie fein die Linie ist, die beides voneinander trennt oder auch miteinander verbindet. Als Leser wird man in das Leben von Theo gestoßen, als dieser bereits 27 Jahre alt ist und zurückblickt auf den Tag, der sein Leben für immer verändern sollte. Als Leser erhält man bereits auf den ersten Seiten eine Ahnung davon, dass Theos Leben kompliziert ist, dass ein dunkler Schatten über diesem liegt. Es ist das Unglück im Museum, das ihn für immer prägen sollte. Es ist dieser Tag im April, der darüber entscheidet, welche Abzweigungen er im Leben nimmt und beim Lesen ist es schon beinahe schmerzhaft mitzuerleben, wie Theo immer wieder die falschen Wege nimmt. Theo leidet darunter verlassen worden zu sein, er leidet darunter, nirgendwo anzukommen. Der Verlust der Mutter und die Scham darüber, nicht gewollt zu sein, wird Theo ein Leben lang verfolgen. Er liebt, aber er liebt die Falschen. Er vertraut, aber er vertraut den Falschen. Er betäubt sich, um nicht spüren zu müssen.

“Warum bin ich geschaffen, wie ich bin? Warum liegt mir alles an den falschen Dingen und nichts an den richtigen? Oder, um es anders zu drehen: Wieso sehe ich so klar, dass alles, was ich liebe, was mir am Herzen liegt, Illusion ist, und wieso liegt – für mich jedenfalls – alles, wofür sich zu leben lohnt, in diesem Zauber?”

All dies erzählt Donna Tartt in einer unnachahmlichen Sprache – sie webt einen unfassbar dichten Erzählteppich, so dass man beim Lesen glaubt, jede Figur die das Buch bevölkert wirklich vor sich zu sehen und gemeinsam mit ihnen die unterschiedlichen Straßen, Orte und Häuser zu besuchen, die im Roman eine Rolle spielen. Im Zentrum all dessen steht Theo, um den der gesamte Roman kreist, an dem alle Verbindungen und Fäden zusammenlaufen. In jeder Zeile des Romans ist zu lesen und zu spüren, dass Donna Tartt insgesamt zehn Jahre daran gearbeitet hat – so viel Liebe zum Detail, so viel Reichtum, Fülle und Tiefe stecken darin.

Ich habe mit “Der Distelfink” einen großartigen Roman gelesen und ich bin dankbar, dass ich mich fast zwei Wochen lang Seite an Seite mit den Figuren durch New York und Las Vegas bewegen durfte, durch Höhen und Tiefen. Donna Tartt gelingt ein Roman, der nur einen einzigen Fehler hat: er geht irgendwann zu Ende, dabei hätte ich doch noch 1000 Seiten weiter in diesem Universum schweben können.

Zwitschernde Fische – Andreas Séché

Andreas Séché wurde 1968 geboren, er studierte Politikwissenschaft, Jura und Medienwissenschaft und arbeitete als Journalist für unterschiedliche Tageszeitungen. Vor drei Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman “Namiko und das Flüstern”, seitdem lebt er als freier Redakteur und Autor im Rheinland.

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“Ausgerechnet im Buchladen fing er Feuer. Und so hatte er seine wundersamsten Erlebnisse an einem Ort, wo manche das Abenteuer gar nicht erst suchten, obwohl es doch voll davon war.”

Yannis ist ein Bücherliebhaber, als er in Athen einen alten Buchladen entdeckt, glaubt er, das Paradies auf Erden zu betreten. Mit dem ersten Schritt hinein in den verwunschenen und beinahe schon magischen Laden, ist der junge Mann verzaubert – nicht nur von den zahlreichen Büchern in den Regalen, sondern auch von Lio, der Buchhändlerin. Lio ist genauso magisch wie die Buchhandlung, in der sie arbeitet und sie verzaubert Yannis auf den ersten Blick. Die Begegnung der beiden im Buchladen strahlt hinüber in den Alltag von Yannis, der plötzlich einen magischen Schimmer erhält und voller Poesie zu seien scheint.

“[…] immer, wenn er ein Buch kaufen wollte, machte er daraus eine kleine Zeremonie. Ein gutes Buch, dachte der Mann, hat es einfach verdient, dass man den Tag, an dem man es in seiner Büchersammlung willkommen hieß, mit einem üppigen Frühstück beginnt. Bücher und Frühstück, das war nicht nur beides Nahrung, das war auch der leidenschaftliche Beweis dafür, dass man noch genießen konnte.”

Der erste Besuch in der Buchhandlung bei Lio, bleibt nicht der letzte von Yannis. Immer wieder schaut er bei ihr vorbei, beide kommen ins Gespräch und beginnen einen tiefen und intensiven Austausch über das Lesen, über Bücher, über Autoren und Autorinnen und über die Welt der Geschichten. Ganz selten nur noch betritt Yannis die Buchhandlung, um sich Bücher zu kaufen, viel mehr zieht es ihn immer wieder hinein in Lios magische Welt. Der eine beginnt Sätze, die der andere beendet. Gemeinsam durchwandern sie literarische Welten, literarische Geschichten, literarische Jahrhunderte. Doch dann ist Lio eines Tages plötzlich verschwunden und Yannis begibt sich auf die Suche nach seiner mysteriösen Freundin …

“Während er den Stadtpark verließ, dachte er, dass Bücher auch wie Zylinder voller Mysterien waren, und sein Traum war, eines Tages vielleicht selbst eine Geschichte zum Leben zu erwecken, Kapitel für Kapitel und Gedanke für Gedanke, und dann würde irgendwann eine richtige kleine Welt vor ihm liegen, von ihm gestaltet und mit liebevollen Details versehen, und er würde den Leser durch spannende Episoden führen und durch durch traurige Ereignisse, durch romantische Liebesgeschichten, verwegene Abenteuer und verschlungene Begebenheiten.”

Auf der Suche nach Lio überschreitet Yannis die Grenzen von Fantasie und Realität: wer ist der Fremde, der plötzlich mit einer Leier im Arm im Buchladen auftaucht? Was hat es mit dem berühmten Kriminalschriftsteller auf sich, der 1907 angeblich einen Mord begangen hat? Lio und ihr Buchladen wirken so, als hätten sie die Zeit irgendwie überdauert. Doch kann das wirklich sein? Sind Zeitreisen möglich? Können wir uns in andere Ebenen begeben, in andere Geschichten, auf neue Buchseiten?

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“‘Lassen Sie uns einmal allein sein, ohne Bücher, und wir werden sofort in Verwirrung geraten und ratlos sein und nicht wissen, wo wir uns anschließen und was wir festhalten sollen, was wir leben und hassen, verehrten und verachten sollen.’ Bücher können uns die Richtung weisen.”

Der Roman “Zwitschernde Fische” von Andreas Séché besteht für mein Empfinden aus zwei Ebenen, zum einen gibt es die Ebene der Erzählhandlung, die leicht mystisch angehaut ist und sich abseits von unserer Realität befindet. Diese poetische und fantasievolle Erzählung hat mich verzaubert, auch wenn nicht alle losen Fäden am Ende eine Verbindung miteinander finden. Gerade die Tatsache, dass vieles in der Schwebe bleibt und damit die Interpretation auch ein Stück weit in meine Hände gegeben wird, in die Hände des Lesers, hat mir gefallen. Darüber hinaus gibt es aber auch eine bibliophile Ebene des Romans, wenn man dies so nennen möchte. Selten zuvor habe ich so viele Passagen angestrichen, so viele Seiten markiert, mich in so vielen Sätzen wiedergefunden. Besonders die Gespräche von Lio und Yannis, die sich um alle möglichen literarischen Themen drehen, haben es mir angetan – selten zuvor hatte ich ein so intensives Gefühl, Teil eines Buches zu sein.

“Heute, wo es schwieriger geworden war, das Herz der Menschen beim Anblick von Büchern in Flammen der Begeisterung aufgehen zu lassen, war es womöglich umso wichtiger, sich daran zu erinnern, dass das Buch nicht einfach ein Gegenstand war, sondern eine Waffe im Kampf um mehr Gerechtigkeit – und dass es zu allen Zeiten die Passion mutiger Schriftsteller gewesen war, die Welt gerechter zu machen und unser aller Leben mit Geschichten zu füllen.”

Andreas Séché legt mit “Zwitschernde Fische” einen bezaubernden Roman vor, der nicht nur eine magische Geschichte erzählt und den Leser durch Zeiten und Welten reisen lässt, sondern der auch davon erzählt, dass Bücher eine Macht haben können und uns das Lesen immer mal wieder retten kann … einfach wunderbar, ein Roman, der wie für mich gemacht war!

Krieg – Jochen Rausch

Jochen Rausch ist Journalist, Autor und Musiker und leitet seit dem Jahr 2000 Radio 1Live als Programmchef. 2008 erschien sein Roman “Restlicht”, 2011 folgte der Erzählungsband “Trieb”. Im vergangenen Herbst veröffentlichte der Berlin Verlag schließlich “Krieg”, den neuesten Roman von Jochen Rausch, der heutzutage in Wuppertal lebt. Mehr zum Autor findet man auf dessen Homepage.

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“In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie.”

Arnold Steins lebt seit vielen Jahren tief zurückgezogen in der einsamen Wildnis. Nur selten verlässt er die raue Welt der Berge, um sich auf den Weg hinunter in das Dorf zu machen, doch ab und an muss auch Arnold das Nötigste besorgen und seine Einkäufe erledigen. Sein ehemaliges Leben als Lehrer hat er schon lange hinter sich gelassen, heutzutage zieht er die Einsamkeit und Abgeschiedenheit vor. In seinem früheren Leben als Lehrer, das mittlerweile schon längst verblasst scheint, war Arnold auch verheiratet – gemeinsam mit seiner Frau hat er einen Sohn großgezogen, einen Sohn, der mittlerweile erwachsen ist und als Soldat in den Krieg gezogen ist. Jeder Weg zurück in die wirkliche Welt ist schwer, jeder Einkauf mit der Angst verbunden, das neue Zuhause zerstört wiederzufinden.

“Diesmal sind es keine Schüsse oder Schreie, die Arnold sich einbildet. Diesmal ist er überzeugt, es ist etwas mit der Hütte. Seit er am Weinregal nach einem trockenen Weißen gesehen hat, denkt er es: Die Hütte könnte in Flammen stehen. Oder ein Steinschlag ist über sie niedergegangen. Man hört auch von Einbrechern.”

Und wirklich, so allein wie Arnold zu sein glaubt, ist er nicht – eines Tages bricht ein Fremder in seine Hütte ein, zerstört seine Einrichtung und hinterlässt in den folgenden Tagen immer wieder kleine Zeichen seiner bedrohlichen Anwesenheit, bis er so weit geht, Arnolds geliebten Gefährten, seinen namenlosen Hund, schwer zu verletzen. Für Arnold ist dieser Übergriff, dieser Angriff auf alles, was ihm im Leben geblieben ist, wie eine Kriegserklärung: er besorgt sich eine Waffe und begibt sich in einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, ohne Gesichte und ohne Kontur. Arnold ist bereit für den Sieg in diesem Krieg mit seinem Leben zu bezahlen.

Erst als sich Arnold in diesem Lebenskampf befindet, versteht er zum ersten Mal die eigenen Lebenszusammenhänge. Der Kampf gegen den gesichtslosen Gegner wird zunehmend ein Kampf gegen die eigene Vergangenheit, gegen die Monster im Kopf, gegen die Geheimnisse, gegen alles Dunkle, das auf seinem Leben lastet.

“Dort, wo er den Hund gefunden hat, macht er ein Kreuz. Der Bolzen hat eine bleigraue Spitze wie ein Schreibstift. Der Stift verjüngt sich, erst beim Nagelkopf am anderen Ende wird er breiter. Blut klebt daran. Sie hätten es dem Hund nicht antun sollen. Das nicht. Und das Radio hätten sie ihm auch nicht zerschlagen dürfen.”

Bereits beim Lesen des Klappentextes habe ich mich an den beeindruckenden Roman “Winter in Maine” von Gerald Donovan erinnert gefühlt, der das Leben von Julius beschreibt, das zerbricht, als jemand auf seinen Hund schießt. Auch Julius lebt einsam in einer Hütte, mitten in den Wäldern von Maine. Beiden Romanen liegt beinahe dieselbe Erzählhandlung zugrunde, doch bei diesem Roman gibt es noch eine zusätzliche Ebene, eine Ebene, die bereits im Titel angedeutet wird: der Titel “Krieg” bezieht sich nicht nur auf den Kampf, in den sich Arnold Steins begibt, sondern auch auf seinen Sohn, der als Soldat in den Krieg zieht – er wird nach Afghanistan geschickt und sein Vater bleibt mit seinen Sorgen zurück. Jochen Rauschs Roman “Krieg” wird mithilfe von zwei unabhängigen Erzählsträngen erzählt, auf der die Handlung vorangetrieben wird. Es ist gerade dieser Erzählstil, der eine unwahrscheinliche Spannung erzeugt, einen unwahrscheinlichen Sog ausübt.

In knapper Sprache und wenig Worten gelingt es Jochen Rausch ein Bild der Spannung heraufzubeschwören. In die äußere Idylle, die sich Arnold Steins mitten in den Bergen geschaffen hat, lässt er urplötzlich und mit einer unvorstellbaren Gewalt das Böse hinein brechen. Nicht nur Jochen Rauschs Hauptfigur durchläuft eine Vielzahl an Gefühlen –  vor allen Dingen Wut und Hilflosigkeit – sondern auch ich als Leserin werde durch ein wahres Wechselbad der Gefühle geführt, ein unheimlich intensives und packendes Wechselbad.

“Angst? Nein. Merkwürdigerweise nicht. Vielleicht hat er nie wieder Angst im Leben. Vielleicht überwindet der Mensch alle Angst, wenn er erst seine Träume begraben hat.”

Jochen Rausch legt mit “Krieg” eine unheimlich spannende und fesselnde Lektüre vor, so dass ich ab und an schon beinahe das  Gefühl hatte, einen Thriller zu lesen und keinen Roman. “Krieg” ist ein unheimlich vielschichtiger Roman, dessen wichtigste Aussage möglicherweise die ist, dass man – egal was man tut – nicht vor seiner Vergangenheit fliehen kann …

Eine schöne Wahrheit – Colin McAdam

Colin McAdam wurde 1971 geboren, er wuchs in Hongkong, Dänemark, England und Kanada auf. In Kanada hat er studiert, in England dann seine Promotion abgeschlossen. Bekannt wurde er durch den Roman “Fall”, der mit dem Hugh MacLennan-Preis ausgezeichnet wurde. Heutzutage lebt der Autor in Toronto. Übersetzt wurde sein neuester Roman “Eine schöne Wahrheit”, der im vergangenen Herbst erschien, von Eike Schönfeld.

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Walt und seine Ehefrau Judy leben in den Hügeln von Vermont, sie haben keine Kinder, aber dafür einen Affen. Den hat Walt seiner Frau geschenkt, als Kind-Ersatz – beide haben einen Haufen Geld und können sich alles kaufen, was ihr Herz begehrt, nur ein Kind haben sie nie bekommen können, da muss ein Tier als Ersatz erhalten.

“Looee war kein konventionell süßes kleines Baby, doch daran, dass er Hände hatte, spürten Walt und Judy gleich, dass er mehr als ein haariges Vieh war. Und wie er sich in Judys Armen bewegte, veranlasste Walt schon dort zu der Bemerkung, das ist aber ein niedlicher kleiner Kerl.”

Den Schimpansen Looee ziehen sie auf, als wäre er ihr eigenes Kind. Looee ist kein Kind, doch Walt und Judy vermenschlichen ihn und ziehen ihm Kinderkleidung an. Doch die Situationen, in denen deutlich wird, dass Looee kein Kind ist, häufen sich mit der Zeit: Walt und Judy werden dem wilden Tatendrang des Schimpansen kaum mehr gerecht. Im Laufe der Monate wächst er immer schneller, wird immer lauter und seine wechselnden Launen nehmen eine bedrohliche Kraft und Stärke an: an einer Stelle wird Looee als ein Affenmensch “mit dem Verstand eines Vierjährigen und der Kraft und Koordination eines Achtzehnjährigen” beschrieben. Ein fürchterlicher Wutanfall und ein tragischer Zwischenfall reißen Looee aus seiner heilen familiären Welt.

“Neues Leben war im Haus. Zwei Arme, zwei Beine, grapschende Finger, forschender Hunger, ein Schock nach einem Traum, der die Glieder erstarren lässt, versinken in bewundernswerten Schlaf und Mund auf Haut, er braucht mich ich brauche es dass er mich braucht ich brauche ihn. Ich bin müde. Sie schlief.”

Zunächst kommt der Schimpanse in ein Versuchslabor, wird dort mit HI-Viren infiziert und kämpft um das nackte Überleben – er lebt dort unter fürchterlichen Bedingungen. Erst als er in ein Freigehege ausgegliedert wird und dort mit einer Gruppe Artgenossen leben kann, erfährt Looee zum ersten Mal, wie ein alternatives Leben zu dem aussehen könnte, was er jahrelang gelebt hat und er erfährt, was eine wahre Familie sein kann.

“Freiheit ist essen zu können, ohne sich bedanken zu müssen, nicht teilen, nicht für das Essen zu arbeiten, sich keine Gedanken über dessen Herkunft zu machen, sich nicht darum zu scheren, wann und wie man isst oder wann es alle ist.”

Colin McAdam erzählt eine Geschichte, die aus drei Ebenen besteht: aus Looee als Kindersatz, aus Looee, dem Versuchstier und aus Schimpansen, die – beobachtet von Verhaltensforschern im Girdish Institute – zusammenleben. Alle drei Ebenen zeichnen sich durch ihre eigene Sprache und die ihr eigene Perspektive aus. Hier liegt möglicherweise die Kernaussage des Autors: er gibt den Affen eine Sprache, er gibt ihn eine Stimme und stellt damit gleichzeitig infrage, ob der Unterschied zwischen Mensch und Tier wirklich so gravierend ist, wie manche glauben.

In “Eine schöne Wahrheit” wirft Colin McAdam auf einem hohen literarischen Niveau eine Vielzahl an Fragen auf. Es sind Fragen über die ich in letzter Zeit häufiger gestolpert bin, Fragen, die Aspekte wie das Persönlickeitsrecht von Tieren betreffen. Was unterscheidet Menschen und Tiere voneinander? Ist es die Sprache? Vor allem die Passagen, die aus der Sicht der Versuchstiere erzählt werden, sind außergewöhnlich – sie greifen auf eine primitive Sprache zurück, auf Wörter, die sie aufgeschnappt haben und auf selbsterfundene Wörter. Oa ist zum Beispiel eine Form von Harmonie. Colin McAdam wagt den Versuch, den Leser dazu anzuregen, sich unangenehme Gedanken zu machen und Fragen zu stellen, auf die man lieber keine Antwort hören möchte. Was zeichnet uns als Mensch – neben der Sprache – noch aus? Es geht jedoch nicht nur um die menschliche Existenz, sondern auch um die Existenz und die Rechte von Tieren: wenn Menschen dazu neigen, Tiere zu vermenschlichen und ihnen aufgrund der fehlenden Sprache ein mangelndes “Innenleben” unterstellen, kann dies immer wieder fatale Konsequenzen haben. Bei Looee tritt genau dies ein.

Das Schöne an “Eine schöne Wahrheit” ist, dass es mich zum Nachdenken gebracht hat, dass es mich angestoßen hat, Fragen zu stellen. Colin McAdam ist ein lesenswerter Roman über Sprache, Kommunikation und die menschliche Existenz gelungen, dem ich möglichst viele Leser wünsche. “Eine schöne Wahrheit” ist ein bewegender und wichtiger Roman, der mich aufgerüttelt hat. Lasst euch auch aufrütteln!

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