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Zeitgenössisches

Das letzte Land – Svenja Leiber

Svenja Leiber erzählt eine Geschichte, die ganze vierundsechzig Jahre umspannt. Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, über die Liebe, Leidenschaften und Begabungen, die Musik und unsere dunkle Vergangenheit. Es ist eine Geschichte voller Poesie und Musikalität, die vieles in sich vereint: Das letzte Land ist Bildungsroman, Familiengeschichte und Kriegsbuch in einem.

DSC_2129Wer will denn da noch schlafen, denkt Ruven und sieht den Vater gehen. Nie mehr will ich schlafen, wenn ich dafür das Geigen lern.

Die Geschichte, von der Svenja Leiber erzählt, beginnt im Jahr 1911: wir lernen Ruven Preuk kennen, den jüngsten Sohn des Stellmachers. Statt bei der täglichen Arbeit mit anzupacken, steht der sensible Junge häufig abseits und spinnt seine eigenen Gedanken. Ruven hat eine ganz besondere Begabung: er kann Töne sehen und seltsam schöne Melodien auf der Geige spielen. Im rauen Dorfalltag weiß kaum jemand  etwas mit dem Jungen und dessen Begabung anzufangen. Es werden mutige und kräftige Männer gebraucht, die arbeiten und anpacken können, keine Träumer, die glauben Farben zu sehen, wenn sie Töne hören. Es ist ein Zufall, der ihm eine Geige schenkt, doch fortan musiziert der Junge und erhält Unterricht. Es dauert nicht lange und Ruven spielt besser als der Dorflehrer. Auf der Suche nach neuen Lehrern zieht es Ruven immer weiter fort: in der Stadt findet er einen neuen Lehrer. Bei dem Juden Goldbaum lernt er nicht nur seine Geige besser kennen, sondern verliebt sich auch noch in dessen Enkelin Rahel.

Ist ihm langsam ganz fern, dieser Junge. Kommt weder nach ihm noch nach der Mutter, und kam doch aber mal nach ihnen beiden. Er hatte die Formen von ihm und die Farben von ihr. Jetzt sieht es so aus, als habe er vor, einer zu werden, den man nicht kennt, jedenfalls sagte das neulich der Röver und guckte dabei nicht eben freundlich.

Eine Begabung, die in seinem Heimatdorf nicht erwünscht gewesen ist, die – wenn überhaupt – belächelt wurde, verspricht Ruven plötzlich Freiheit und Anerkennung. Auch wenn er seinem Zuhause weiterhin verhaftet bleibt, dringt er mit seiner Geige in der Hand in Gesellschaftsschichten vor, die eigentlich unerreichbar für ihn sind. Doch der Zweite Weltkrieg zerstört nicht nur Deutschland, sondern auch Ruvens Glauben an eine Karriere als Musiker.

[…] dann hat er nach ihrer Hand gegriffen, wie seit Jahren nicht, und sie hat gesagt, das sei eben das Schlimme am Muttersein, dass man seit der Geburt immer nur Abschied nehme. Auch Ruvcn nimmt Abschied, aber davon weiß er noch nichts, weil man mit neun immer nur weiß, dass was kommt, und darüber das Gehen nicht merkt. Das hat er seiner Mutter voraus. Er kann in jedem Moment vergessen, loslassen, wo sich was Neues breitmacht, genau wie sich jetzt das Fieber in Ruven breitmacht, oder die Zukunft.

Svenja Leiber begleitet ihre Figuren bis in das Jahr 1975 hinein: heraus aus dem bäuerlichen Dorf im hohen Norden, bis in die Großstadt nach Hamburg. Es sind 64 Jahre, während denen Ruven, der feinsinnige Junge mit der Geige, zu einem erwachsenen Mann reift – verheiratet ist und Nachwuchs bekommt. Alles könnte so schön sein, doch während Ruven den Ersten Weltkrieg noch unbeschadet übersteht, raubt der Zweite Weltkrieg ihm seine Karriere, seine Leidenschaft, sein Talent. Er wird eingezogen und muss das Musizieren aufgeben, als er nach Hause zurückkehrt, ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist. Er musiziert zwar noch, doch nie wieder so erfolgreich wie vor dem Krieg. Doch es nicht nur seine berufliche Laufbahn, die in einem schmerzhaften Prozess in zwei Teile bricht – auch seine Familie löst sich während des Krieges auf. Der Krieg löscht alles aus, löst alles auf, zerstört das, was zuvor gut gewesen ist.

Es ist nicht möglich, auf der Welt zu sein und keinen Vater zu haben. Es ist nicht denkbar. Man müsste verrückt werden, weil man weiterlebt, obwohl der, der immer schon lebte, der immer schon da war, lange vor einem selbst, und der für alles gesorgt hat, nicht mehr ist. Und die Liebe, die man doch für ihn hatte, die läuft jetzt immer ins Dunkle hinaus, als hätte man da irgendwo ein Leck.

Svenja Leiber entwirft in ihrem Roman nicht nur ein groß angelegtes Zeitpanorama, sondern auch eine weit verzweigte Familiengeschichte. Ihre Figuren begleitet sie über viele Jahrzehnte und behält dabei alle Erzählfäden kunstvoll in der Hand. Die Sprache ist etwas ganz Besonderes und wunderbar poetisch, auch wenn sich mancher Satz ungewöhnlich liest, verzaubern die Worte einen zugleich. Auch wenn “Das letzte Land” so viele Themen in sich vereint – zwei Weltkriege, eine große Familie, Tod und ganz viel Liebe – wirkt der Roman keineswegs überladen.

Das letzte Land ist einer der Romane dieses Jahr, die in dem Wust an Neuerscheinungen etwas untergegangen zu sein scheinen, doch diese Geschichte hat es verdient, entdeckt und gelesen zu werden und zwar von möglichst vielen!

Länger als sonst ist nicht für immer – Pia Ziefle

Warum werden wir zu den Menschen, die wir sind? Dieser Frage spürt Pia Ziefle in ihrem neuen Roman Länger als sonst ist nicht für immer nach. Es ist ein Sommertag im Jahr 1976 der das Leben von drei Kindern für immer verändern und sie zu den Erwachsenen macht, die sie später werden sollten.

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Die Dinge entscheiden sich von ganz allein, wenn man ihnen nur genügend Zeit lässt.

Lew ist siebenunddreißig Jahre alt und auf der Suche nach seinem Vater in einem indischen Dorf gestrandet. Das erste Mal in seinem Leben, nimmt der junge Mann sich Zeit, um zurückzublicken. Lew ist in der DDR aufgewachsen, als er noch ein kleines Kind ist, flüchten die Eltern und lassen ihn und seinen Bruder Manuel zurück. Auf sich allein gestellt und mit so unendlich vielen Fragen. Lew und Manuel kommen in eine Pflegefamilie, doch dieser Bruch, der die Kindheit zersplittern und in zwei Teile teilen sollte, den können sie nie so ganz überwinden. Erst mit siebenunddreißig Jahren erfährt Lew, wo sein Vater lebt. Sein Bruder Manuel möchte nicht noch einmal in die Kindheit zurückkehren, doch Lew reist nach Indien – auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sein ganzes bisheriges Leben geprägt haben.

Was wird er diesem Vater erzählen können, wenn er ihn morgen wiedersieht, nach neunundzwanzig Jahren?

Auch Ira reist in Gedanken zurück in ihre Kindheit, sie reist zurück, weil sie Abschied nimmt. Ihr Vater ist schwer krank, er liegt im Sterben und plötzlich zieht all das an ihr vorbei, das ihr Leben geprägt und sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist. Ihre Eltern sind nicht verschwunden und doch waren sie nie wirklich da für Ira. Von der Mutter wurde sie nicht geliebt, der Vater hat sich zwar gekümmert, doch zu nahe durfte sie ihm nicht kommen. Ein Zuhause hat sie nie wirklich gehabt, sie hat sich immer fehl am Platz gefühlt, unerwünscht, überflüssig. Ein Gefühl, das auch als Erwachsene noch wie klebriger Schleim an ihr haftet. Der einzige Ort ihrer Kindheit, der ihr Sicherheit bietet ist die Bäckerei, in der Tag ein und aus Evi hinter der Theke steht. Dort lebt auch Fido, der ihr bester Freund werden sollte.

Fido trägt ein Gepäck an ganz eigenen Geschichten mit sich – auch er wurde von der Mutter verlassen, sie ist nach Deutschland gereist um Geld zu verdienen. Als Fido und sein Großvater nachkommen, hat sich die Mutter schon längst ein eigenes Leben aufgebaut, in dem Fido keinen Platz hat. Er bleibt mit seinem Großvazer zurück und zieht in die Wohnung über Evis Bäckereistube.

Er will in seinem Haus bleiben zum Sterben, weil er glaubt, er kann unsere Geschichte einfach so mitnehmen. Aber sie wird bleiben, wenn er nicht mehr da ist, selbst dann, wenn ich die Möbel verschenke, die Teppichböden herausreiße und die Tapeten von den Wänden ätze, dann wartet sie noch immer in diesem Haus auf die nächsten Bewohner.

Sanft und mit viel Wärme umkreist Pia Ziefle die Frage danach, was uns so werden lässt, wie wir sind. Lew, Ira und Fido spüren dieser Frage selbst nach, wenden sich der Vergangenheit zu, erforschen diese, immer auf der Suche nach Gründen. Warum ist man, wie man ist? Warum ist man ein vorsichtiger Mensch, warum ein trauriger, warum ein ewig besorgter? Es müssen nicht immer die großen Brüche sein, wie die Republikflucht von Lews Eltern, die ein Leben nachhaltig prägen können. Manchmal sind es klitzekleine und ganz alltägliche Ereignisse, die einem Leben eine ganz andere Wendung geben. Manchmal liegt die Vergangenheit wie ein dunkler Schatten über dem eigenen Leben, der alles andere unter sich begräbt. Lew und Ira müssen sich von diesem Schatten befreien, um wieder atmen zu können. Lew muss seinen Vater finden, um all die unbeantworteten Fragen zu den Akten zu legen, Ira muss sich von ihrem Vater verabschieden, um ihre Kindheit endlich hinter sich zu lassen. Erst wenn dies gelingt, gelingt es auch, sich von den eigenen Wurzeln zu lösen. Eine Kindheit ist immer eine prägende Zeit, doch erst wenn man sich von dieser Altlast befreit, kann man irgendwann so leben, wie man leben möchte.

Und als er abermals das Wasser sieht und die winzigen Boote, die Häuserschluchten, die verdorrten Büsche an den rotschimmernden Abhängen und das Blau des Himmels, an den Rändern ein wenig lichter, da wird ihm klar, dass er diese Reise begonnen hat, um einem kleinen Jungen zu begegnen, der noch immer in einem längst verschwundenen Land hinter einer Mauer lebt und hoch oben auf einem Klettergerüst auf ihn wartet.

Pia Ziefle legt mit Länger als sonst ist nicht für immer einen feinsinnigen und nachdenklichen Roman vor, der seinen ganz eigenen Rhythmus hat. Überzeugend werden nicht nur mehrere Perspektiven miteinander verschränkt, sondern auch eine Vielzahl an Figuren und Zeitebenen. So bewegen wir uns wie auf einer sanften Welle durch das Leben von Lew, Ira und Fido und dabei ist nur eines sicher: nichts ist sicher und im Leben kann es immer Überraschungen geben.

Deutscher Meister – Stephanie Bart

Stephanie Barts Roman Deutscher Meister ist nicht nur große Literatur, sondern auch ein großartiges Porträt eines Boxers. Es ist das Jahr 1933 und Johann Rukelie Trollmann begeistert das Boxpublikum. Doch gewinnen darf er nicht, denn er ist Sinto. Stephanie Bart erzählt nicht nur eine wahre Geschichte von einem Gewinner, der kein Gewinner sein durfte, sondern auch davon, wie der Nationalsozialismus eine ganze Gesellschaft zerfressen hat.

BartEs war der Kampf um den Titel des Deutschen Meisters im Halbschwergewicht am 9. Juni 1933 in der Bockbrauerei, Fidicinstraße, Berlin-Kreuzberg.

Es sind fast vier Monate, von denen Stephanie Bart in ihrem Roman Deutscher Meister erzählt – alles beginnt am 31. März 1933 und findet seinen Schlusspunkt im selben Jahr, am 21. Juli. Es sind vier Monate, die das Leben des Boxers Johann Rukelie Trollmann für immer verändern sollten. Die ganze Handlung kreist um den großen Meisterschaftskampf, der am 9. Juni 1933 stattfindet. Dem Kampf voraus ging eine Säuberung des ganzen Boxsportes – jüdische Kämpfer und Funktionäre wurden verbannt und von linientreuem Personal ersetzt. Trollmann, ein Sinto, ist einer der letzten, der der Säuberung bisher entgehen konnte – doch seine Herkunft grenzt ihn aus und der Politik ist er ein Dorn im Auge. Auch sein Nachweis ein richtiger Deutscher zu sein, hilft ihm nicht weiter. Und dennoch: er darf kämpfen, sogar um den Titel des deutschen Meisters. Nur gewinnen darf er nicht, dabei ist Trollmann beim Publikum beliebt, er boxt unkonventionell und unterhaltsam und er ist im Gegensatz zu seinem Gegner der deutlich bessere Boxer. Frauen, die dem Boxen sonst eigentlich eher fernbleiben, begeistert er mit seinem Charisma und guten Aussehen.

Trollmann hatte sich schon seit Herbst 1930 um den Titel beworben, war aber stets hingehalten und abgewiesen worden. Nicht nur, weil er Sinto war, sondern auch, weil er erst den falschen und dann gar keinen Manager gehabt hatte.

Deutscher Meister ist nicht nur das Porträt eines ungewöhnlichen Boxers, sondern darüber hinaus auch ein groß angelegtes Gesellschaftspanorama. Ein Panorama, das sich aus zahlreichen Erzählfäden und Figuren zusammensetzt, die jedoch alle um ein einziges Thema kreisen: die Machtergreifung des Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund des Kampfes um die deutsche Meisterschaft, erzählt Stephanie Bart davon, wie der Nationalsozialismus sich 1933 ausgebreitet hat. Einer Krebserkrankung ähnlich, hat dieser sich in allen Bereichen der Gesellschaft ausgebreitet, Metastasen gebildet und alles mit dem nationalistischen Gedankengut vergiftet.

Lasker-Schüler war weg. Nicht ganz. Kurzbein wusste eins von den Liebesgedichten auswendig. Nun gewöhnte sie sich an, das Gedicht in Gedanken sich immer wieder vorzusagen, damit es nicht verschwand. Die letzte Zeile der vierten Strophe: Niemand sieht uns, die bisher nur die Liebenden meinte, schloss jetzt die Dichterin mit ein.

Auch das Boxen blieb davon nicht verschont. Es sollte mithilfe eines Säuberungsplans auf nationalen Boden gestellt werden. Trollmann darf zwar um den Titel kämpfen, doch gewinnen darf er nicht, denn ein Zigeuner darf doch niemals deutscher Meister werden, oder? Trollmann sieht sich selbst nur als Boxer, akribisch bereitet er sich auf diesen so wichtigen Kampf vor – den Kampf seines Lebens, der von der ganzen Familie auf den Zuschauerrängen verfolgt wird. Von der deutschen Sportpolitik wird er jedoch nicht als Boxer gesehen, sondern als Ärgernis – er wird auf seine Nationalität reduziert, völlig losgelöst von seinen Boxqualitäten.

Einen Großteil des Romans machen die Kampfhandlungen aus, die von Stephanie Bart in allen Einzelheiten geschildert werden – als würde man einen Boxkampf in Zeitlupe betrachten und ab und an hat man das Gefühl, gerade selbst von einem Leberhaken getroffen worden zu sein. Diese Passagen sind von großer Eindrücklichkeit und literarischer Qualität, noch stärker beeindruckt hat mich aber das politische Panorama, das von der Autorin entworfen wird: selten zuvor habe ich eine so gute Beschreibung davon gelesen, wie sich der Nationalsozialismus schleichend in alle Gesellschaftsschichten ausbreitet. Bis es ganz normal erscheint, abends zur Bücherverbrennung zu gehen – als würde man in’s Kino gehen.

Trollmann aber legte seine Rechte auf die Halterung des obersten Seils, berührte noch einmal mit beiden Füßen den Boden, ging leicht in die Knie, ließ den Impuls fürs Hochfliegen mit einem lockeren Einatmen aus der Hüfte kommen, schnellte nach oben, warf die Beine, das rechte vorweg, das linke hinterher, hinaus, schwang gegenläufig, wie ein Vogel den Flügel, seinen linken Arm, platzierte den Körperschwerpunkt über der aufgestützten Hand, schwebte fast waagrecht in der Luft über dem Seil, sah in das Dach der Orchesterbühne, drehte auf dem Zenit der Flanke die Hüfte aus dem Ring, ließ den Körperschwerpunkt hinübergleiten, ließ jenseits der Seile ausatmend die Beine herab, setzte mit beiden Füßen auf und federte weiter.

1933 durfte Johann Rukelie Trollmann nicht gewinnen, doch Dank Stephanie Bart ist er nun deutscher Meister für die Ewigkeit – sie hat ihm ein literarisches Denkmal von beeindruckender Qualität gesetzt. Eine große Leseempfehlung!

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja

Katja Petrowskaja erzählt nicht nur von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, sondern auch von der eigenen Gegenwart. Vielleicht Esther ist eine Recherchereise zurück in die Vergangenheit der eigenen Familie, bis in das Jahr 1864. Es ist eine poetische, berührende, kluge und herzerwärmende Reise und eine großartige Lektüre.

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Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu? 

Katja Petrowskaja begibt sich in ihrem Roman auf eine Reise, es ist die Reise in die eigene Vergangenheit und es ist eine Reise, die die Autorin von Warschau über Babij Jar bis nach Mauthausen führt. Die Wurzeln ihrer Familie führen zurück in die Ukraine, aber auch nach Russland, Deutschland und Österreich. Vielleicht Esther ist kaum mehr ein Roman, denn dafür stecken in diesem Text zu viele autobiographische Bezüge. Der Verlag selbst gibt dem Buch den Untertitel Geschichten. Es sind Familiengeschichten, die Geschichten der Familie von Katja Petrowskaja.

Am Anfang dachte ich, ein Stammbaum sei so etwas wie ein Tannenbaum, ein Baum mit Schmuck aus alten Kisten, manche Kugeln gehen kaputt, zerbrechlich wie sie sind, manche Engel sind hässlich und robust und überleben alle Umzüge. Jedenfalls war ein Tannenbaum der einzige Familienbaum, den wir hatten, er wurde jedes Jahr neu gekauft und dann weggeschmissen, einen Tag vor meinem Geburtstag.

Diese kurzen Geschichten wirken am Anfang der Lektüre etwas fragmentarisch, so löcherig, dass es schwer ist, Zusammenhänge herzustellen. Doch all diese Löcher werden gefüllt und gestopft, Geschichte für Geschichte. Im Zentrum steht die titelgebende Esther, die Großmutter des Vaters, die zu alt und unbeweglich ist, um 1941 fliehen zu können und alleine in ihrer Wohnung in Kiew zurückbleibt. Es ist die Großmutter des Vaters der Autorin, doch dieser weiß gar nicht mehr ganz genau, wie seine Großmutter hieß. Vielleicht Esther? Doch hieß diese Großmutter, die im Krieg sterben musste, wirklich Esther?  Katja Petrowskaja erzählt aber auch die Geschichte eines Großonkels, der 1932 als junger Mann ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübt. Fritz von Twardowski wurde verletzt, der Großonkel Judas Stern verhaftet. Sie erzählt von ihrem Großvater, der in Kriegsgefangenschaft gerät, in ein Konzentrationslager kommt, ein Gulag überlebt und lebend nach Hause zurückkehrt. Sie erzählt von all ihren Verwandten, die an Gehörlosenschule gearbeitet haben. Verwandten, denen beinahe schon heilende Kräfte angedichtet wurden.

[…] ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.

Vielleicht Esther ist ein seltsames Buch, das sich jeder Einordnung verweigert. Es befindet sich irgendwo zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Roman und Autobiographie, zwischen Wahrheit und Erfindung. Vielleicht Esther ist nicht nur ein Buch, das Erinnerungen erzählt, sondern gleichzeitig auch ein Buch über Erinnerungen. Was macht man mit all den Verwandten, von denen man nur einen Namen kennt – wenn überhaupt. Was macht man mit all diesen Lücken und Löchern, die den eigenen Familienstammbaum in ganz viele Teile zersplittern. Wie geht man mit solchen Erinnerungen um? Katja Petrowskaja entscheidet sich dazu, sich auf eine Recherchereise zu begeben, auf eine Wurzelsuche, auf Ahnenforschung. Sie entscheidet sich für einen unbekümmerten Umgang mit Erinnerungen – es gibt keine Gewissheit und keine Bestätigung, aber schmerzhafte Lücken können manchmal schon allein durch die Kraft von Phantasie und Vorstellung geschlossen werden.

Katja Petrowskaja beschäftigt sich bei dieser Recherchereise sehr eindrücklich auch mit den Quellen, auf die sie zurückgreifen kann. Was kann man tun, wenn es plötzlich keine Menschen gibt, die man befragen kann? Wenn das einzige, das bleibt Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven ist. Die Autorin reist in Archive und Gedenkstätten, sie greift aber auch auf moderne Wege zurück – sie nutzt nicht nur Google. sondern auch Facebook und Ebay.

Rosa kritzelte mit ihren Zeilen gegen die Blindheit an, sie häkelte die Zeilen ihrer entschwindenden Welt. Je dunkler es um sie herum wurde, desto dichter beschrieb sie die Blätter. Manche Stellen waren unentwirrbar wie verfilzte Wolle, die Kartoffelpreise Ende der achtziger Jahre verknoteten sich mit Erzählungen aus dem Krieg und von flüchtigen Begegnungen. Das eine oder andere Wort sickerte durch das wollene Dickicht, die ‘Kranken’, ‘Moskau’, ‘Herzblut’. Jahrelang dachte ich, sie ließen sich entziffern, in Amerika gibt es Geräte, die solche Zeilen entwirren können, bis ich verstand, dass Rosas Schriften nicht zum Lesen gedacht waren, sondern zum Festhalten, ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden.

Vielleicht Esther ist ein Kunstwerk, dass das klassische Korsett eines Romans abgestreift hat. Die Autorin Katja Petrowskaja verlässt bei der Aufarbeitung der Schrecken des 20. Jahrhunderts bereits ausgetretene Erzählpfade und geht eigene, experimentelle, Wege. Entstanden ist dabei ein Fragment aus Geschichten, das nicht nur berührt und bewegt, sondern auf seltsame Weise auch das Herz zu wärmen weiß.

Der Allesforscher – Heinrich Steinfest

Ein explodierender Wal, ein abgestürztes Flugzeug, ein Manager aus dem ein Bademeister wird – klingt vielleicht skurril, ist aber die Lebensgeschichte von Sixten Braun. Heinrich Steinfest erzählt in seinem Roman Der Allesforscher von der wundersamen Wandlung eines Topmanagers und von so einigen abstrusen Begebenheiten. Das ist auf jeden Fall unterhaltsam, doch reicht das auch aus, um auf der kurzen Liste der sechs besten Romane des Jahres zu stehen?

DSC_1903Der Beginn eines jeden Buchs leidet unter einem großen Manko: Es fehlt die Musik.

Sixten Braun ist sechsundzwanzig Jahre alt und Hürdenläufer, beinahe wäre er mal Deutscher Meister geworden. Außerdem arbeitet er als Manager, überwiegend im chinesischen Raum. Als er sich 2004 in Taiwan aufhält, wird er Opfer eines explodierenden Wals. Es ist nicht ganz klar, ob es sich um den Teil eines Gedärms handelt oder um ein Walorgan, das ihn am Kopf trifft – doch wie auch immer: Sixten Braun geht zu Boden. Nach zweitägigem Koma erwacht er, als er einer wunderschönen Ärztin in die Augen blickt. Mit dieser Ärztin stürzt er sich Hals über Kopf in eine Affäre, denn er spürt, dass diese Frau die Liebe seines Lebens sein muss. Doch schnell gerät Sixten in die nächste Katastrophe: sein Flugzeug stürzt ins ostchinesische Meer und er ist einer der wenigen Überlebenden. Natürlich nur, weil er seinem Sitznachbarn die Schwimmweste geklaut hat. Klingt skurril, ist es auch – und all dies geschieht gerade einmal auf den ersten fünfzig Seiten.

Ich würde es in Zukunft soweit wie möglich vermeiden, von dieser Geschichte zu berichten, sosehr sie mein Leben entscheidend verändern sollte. Wobei ich noch nicht ahnen konnte, wie entscheidend.

Doch auch auf den nächsten 300 Seiten geht es ebenso skurril weiter: aus dem Topmanager wird ein Bademeister. Sixten lässt sein altes Leben hinter sich, er besteigt kein Flugzeug mehr und zieht stattdessen von Köln nach Stuttgart, um dort im Bad Berg ältere Damen vor dem Ertrinken zu retten. Doch plötzlich tritt auch noch ein Kind in sein Leben und bringt damit all das, was acht Jahre zuvor in Taiwan geschehen ist, wieder zurück an die Oberfläche. Die Verwandlung zum liebevollen Vater ist in kurzer Zeit perfekt, wäre da nicht die knifflige Sprachhürde, denn das Kind Simon spricht lediglich eine Phantasiesprache.

Doch das Zeichen, das mich dann erreichte, war ein ganz anderes als erwartet und erhofft. Das Zeichen war kein Insekt, sondern ein Kind, auch wenn dies für manche Kinderhasser oder genervte Eltern das gleiche sein mag.

Heinrich Steinfest erzählt all dies mit viel Humor, aber auch mit einem leisen Hauch Bedauern. Unter der dicken Schicht der Skurrilität verbirgt sich eine traurige Geschichte, es ist der frühe Unfalltod von Sixtens Schwester Astri, die Anfang zwanzig beim Klettern in den Bergen stirbt. Erst mit der Wandlung seines ganzen Lebens, gelingt es Sixten, sich diesem Verlust zu stellen und den Unfall aufzuarbeiten. Im Nachwort erfährt der Leser, dass dieser Teil der Geschichte einen persönlichen Hintergrund hat, denn auch der Bruder von Heinrich Steinfest verstarb beim Klettern.

Der Allesforscher ist große Unterhaltung und ein Buch, das bis oben hin gefüllt ist mit Ideen und Skurrilität. An dieser Stelle muss ich jedoch auch leise Kritik üben. Während ich den Roman auf den ersten Seiten noch als runde Lektüre erlebt habe, verliert der Autor für mein Empfinden mit zunehmender Dauer den Erzählfaden. Die Ereignisse werden immer skurriler und die Zufälle immer unglaublicher, am Ende müssen die losen Erzählfänden in den Träumen der Protagonisten zusammengeführt werden. Heinrich Steinfest sprudelt über vor Ideen, doch stellenweise wäre es der Geschichte zuträglich gewesen, sich zu beschränken. Ich habe die Figuren beim Lesen irgendwann verloren, weil die Geschichte immer unglaubwürdiger wurde.

Der Herbst – gleich, wie golden er ist – ruft einem unweigerlich ins Gedächtnis, daß der Sinn des Lebens darin besteht, zu Ende zu gehen.

Wenn ich den Allesforscher neben Kruso lege, neben April oder neben die Pfaueninsel, dann fehlt es mir in diesem Roman vor allen Dingen an Ernsthaftigkeit und Tiefe. Ja, stellenweise habe ich mich gut unterhalten gefühlt und die Figur des Sixten Brauns ist genauso wie viele der anderen Figuren mit viel Wärme und Liebe geschildert, doch reicht Absurdität und Unterhaltung aus, um aus einem guten Buch ein Buchpreisbuch zu machen? Ich habe den Allesforscher trotz allem gerne gelesen und ich glaube, dass sich unter all der absurden Skurrilität auch viel Weisheit und Wahrheit verbirgt und vieles, das man für sich und sein eigenes Leben mitnehmen kann.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Literaturen.

3000 Euro – Thomas Melle

Thomas Melle erzählt in seinem Roman 3000 Euro die Geschichte zweier Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Die pornodrehende Supermarktkassiererin und der insolvente Flaschenpfandsammler – möglicherweise das Sinnbild einer modernen Liebesgeschichte, doch steht der Roman auch zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis?

3000 Euro

Anton, der Zauderer, wartet. Er will nicht leben und auch nicht sterben. Er will abgeschafft sein.

3000 Euro erzählt von zwei Menschen, für die 3000 Euro viel Geld ist – Geld, das sie auf normalem Wege nie verdienen könnten. Thomas Melle lässt die Lebenswege zweier Menschen kreuzen, die nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft leben, sondern Randständige sind – sie stehen am Rand der Gesellschaft, dort, wo die anderen lieber nicht so genau hinschauen wollen.

Humpeln die Penner an uns vorbei, berührt uns das unangenehm. Nicht nur ist es eine ästhetische Belästigung, sondern auch ein moralischer Vorwurf. Wieso bitte ist dieser Mensch so tief gesunken, welche Gesellschaft lässt einen derartigen Verfall zu? Das ist schon kein Mensch mehr, das ist ein Ding.

Denise ist Kassiererin im Supermarkt und Mutter einer kleinen Tochter, die an einer Wahrnehmungsstörung leidet. Einen Vater gibt es nicht wirklich, Denise erzieht ihr Kind allein. Das Geld, das sie im Supermarkt verdient, reicht gerade einmal so zum Leben. Doch Denise hat einen Traum, sie möchte gemeinsam mit ihrer Tochter nach New York reisen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, macht Denise bei einem Pornofilm mit – in Aussicht gestellt werden ihr dafür 3000 Euro. Doch der Film ist gedreht und das Geld kommt einfach nicht, stattdessen fühlt Denise sich überall angestarrt, ertappt. Sie fühlt sich ausgegrenzt, an den Rand gedrängt – als könnte man ihr ansehen, was sie getan hat, um auch einmal so viel Geld in der Hand haben zu können, wie andere im Monat verdienen.

‘Und wie sind Menschen wie wir?’

Daraufhin lächelt Anton nur.

‘Anders’, sagt er. ‘Oder eben: so ein bisschen am Rand.’

‘Am Rand’, wiederholt Denise.

‘Oder schon über den Rand hinaus. Die, die ferner liefen. Jenseitig, irgendwie.’

Anton hat mal Jura studiert, doch dann hat er zu viel gefeiert. Jetzt hat er nichts mehr: das Studium hat er irgendwann abgebrochen, ein Taxi hat er zu Schrott gefahren und nun besitzt er weder einen Führerschein noch Arbeit, dafür aber einen Haufen Schulden. Ihm droht die Privatinsolvenz, wenn er es nicht schafft, rechtzeitig seine Schulden zurückzuzahlen: 3000 Euro. Anton ist ein sympathischer Träumer, ein Taugenichts, der fürchterlich passiv ist und in den Tag hineinlebt.

Wenn Anton träumt in diesen Wochen, dann von den alten Zeiten, die es so nie gab. Alternative Versionen seiner Jugend: Das Personal ist zwar dasselbe, aber die Ereignisse sind komplett irreal. Er schläft mit den Mädchen, die er nie haben konnte, er rettet die Freunde, die nicht mehr Teil seines Lebens sind, er feiert die Erfolge, die er nie hatte. Treibgut aus der Zeit, als noch alles möglich schien.

Dramaturgisch ist es sicherlich nicht überraschend, dass Thomas Melle Denise und Anton aufeinandertreffen lässt. Er lässt beide Lebenswege an einer ganz heiklen Stelle kreuzen, lässt den Gerichtstermin und die Überweisung des Pornogehalts auf ein und denselben Moment fallen. Und natürlich, ein bisschen Liebe ist auch mit dabei. Schließlich steht Denise vor der alles entscheidenden Frage, ob sie sich selbst rettet oder jemanden anderen.

All dies wird von Thomas Melle schnörkellos erzählt, stellenweise ist die Sprache sogar fast ein bisschen spröde. Dabei gelingt es dem Autor sehr viel besser, seine Figur Denise zu zeichnen und ihre Verzweiflung abzubilden. Es ist die Verzweiflung über ihre Arbeit an der Supermarktkasse, ihre Ängste davor, enttarnt zu werden und ihre Überforderung mit der schwierigen Tochter, die sie gleichzeitig liebt und hasst. Anton dagegen bleibt kaum greifbar, ein Schluffi irgendwie, der es weder schafft zu leben, noch den Mut findet sich umzubringen. Thomas Melle legt mit 3000 Euro einen Roman vor, der solide erzählt ist. Obwohl der Text Ecken und Kanten hat, an denen ich mich gestört und gestoßen habe, bleibt er lesenswert. Dies liegt vor allem an der ungewöhnlichen Thematik, von der Thomas Melle in seinem Roman erzählt und an seinem Mut, von zwei Menschen zu erzählen, die am Leben gescheitert sind, die am Rand der Gesellschaft stehen, dort, wo die Sonne nur noch selten scheint.

Eine weitere lesenswerte Besprechung zu 3000 Euro findet ihr bei Tilman von 54books.

Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman – Wolfgang Herrndorf

Ein Jahr nach dem Tod von Wolfgang Herrndorf erscheint Bilder deiner großen Liebe, ein unvollendeter Roman und – wenn man so will – eine Fortsetzung von Tschick. Es ist eine Fortsetzung, die aus Bruchstücken besteht und die die Geschichte von Isa Schmidt erzählt. Wenn man an Tschick denkt, dann denkt man an Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, doch es gab da auch noch das seltsame Müllmädchen Isa. Bilder deiner großen Liebe erzählt ihre Geschichte.

DSC_1846Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.

In Tschick ist Isa Schmidt das Mädchen von der Müllkippe. Sie hilft Andrej und Maik dabei Benzin zu klauen und begleitet sie ein Stück auf ihrer gemeinsamen Reise, bevor sie die beiden wieder verlässt. In Bilder deiner großen Liebe bekommt Isa ihre eigene Geschichte, es ist eine Geschichte, die vor den Toren einer geschlossenen Irrenanstalt beginnt. Isa macht sich auf den Weg. Wohin genau, dass weiß sie selbst noch nicht. Hauptsache weg. Die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet, nutzt sie dazu, durch das riesige Tor aus riesigem Eisen abzuhauen – ohne Schuhe und mit nicht viel mehr als dem, was sie am Leib trägt.

Es macht einem nur wahnsinnig Angst, wenn man merkt, dass man gerade auf den Gehweg kackt und weiß, dass das nicht üblich ist und dass so was nur Leute machen, die verrückt sind, und diese Angst macht, dass es einem auch wieder ganz gleichgültig ist, was die anderen denken, ob die jetzt gucken oder nicht, weil man in dem Moment wirklich andere Probleme hat. Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde.

Isa begibt sich auf eine Reise, immer am Fluss entlang. Sie trifft auf Daniel, der in Afghanistan gekämpft hat. Wird von Max Hiller mitgenommen, der den Kanal mit einem Frachtschiff befährt. Trifft auf einen Juristen, der Schriftsteller geworden ist und über dessen Leben ein dunkler Schatten liegt. Der Lastwagenfahrer Teddybär nimmt sie mit und mit einem Bauarbeiter führt sie ein Gespräch über die erste große Liebe. Auch der Autor selbst schmuggelt sich, standesgemäß in grüner Trainingsjacke, in den Roman – Isa begegnet ihm zwischen lauter Gräbern auf dem Friedhof.

‘Wir sind beide gut und glücklich.’

‘Obgleich wir auch traurig sind.’

‘Aber da denken wir nicht dran.’

‘Da denken wir nicht dran.’

Isas Reise bleibt unvollendet, sie endet genauso plötzlich wie der Roman. Doch aus jeder Begegnung, die sie unterwegs macht, nimmt sie etwas mit. Aus jedem Gespräch behält sie etwas, hält sie etwas fest. Es ist eine Reise, die aus Bruchstücken und Fragmenten besteht, doch vereinzelt und zwischendurch gibt es so einige Sätze voller Klarheit, voller Schönheit und von erschlagender Erkenntnis. Einer dieser Momente ist die Feststellung von Isa, dass es keinen Unterschied macht, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden. Ein anderer Moment ist eine Stelle, an der steht, dass die Menschen mit schwierigem Schicksal glücklicher sind: Nicht die Normalen, das ist ein Naturgesetz.

Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin. Pappelsamen schneien um mich herum, und der süße Duft der Lichtnelken strömt durch die Nächte. Ich sehe einen Wald, aus dem vier hohe Masten aufragen über die Baumwipfel. Am Waldrand steht eine kleine Hütte, die Teil eines Wanderwegs ist, wie drei eingekastelte Zeichen verraten. Ein schwarzer Gedankenstrich, eine gelbe Schlange, ein rotes Dreieck. Mein Name. Unter dem Dachvorsprung lege ich mich hin.

Collage Herrndorf

Manchmal ist der Sinn entstellt, manchmal stehen nur einzelne Wörter am Ende der Kapitel, ohne Zusammenhang. Auch Lücken gibt es, zahlreiche Leerstellen. Einmal berichtet Isa, ihr Vater sei von einem Meteoriten erschlagen worden, alle Zeitungen hätten darüber berichtet. An anderer Stelle erzählt sie, dass sich ihr Vater sicherlich um sie sorgt. Die Topographie des Romans ist genauso unstimmig wie die Jahreszeiten. Doch auf der anderen Seite spiegeln diese Unzuverlässigkeiten auch die Erzählerin wider, die vor lauter Verrücktheiten die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive wahrnimmt. Da überrascht es auch nicht, dass sie sich mit einem taubstummen Jungen unterhält. Die zweiunddreißig Kapitel des Romans erzählen weniger eine zusammenhängende Geschichte, als eine Reise in Fragmenten. Jedes Kapitel katapultiert den Leser in eine neue Situation, an einen anderen Ort. Die Entstehung des Romans, der nur 128 Seiten schmal ist, wird in einem erhellenden Nachwort von Kathrin Passig und Marcus Gärtner beleuchtet. Bilder deiner großen Liebe fußt auf einem neunzig Seiten langen Manuskript, das Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod fertiggestellt hatte. Ihm fehlte jedoch die Kraft, den Roman zu beenden, die Ungereimtheiten zu beseitigen, die Lücken zu schließen. Er wünschte sich jemanden, der das Buch für ihn zu Ende schreiben sollte, doch das ist nicht geschehen, stattdessen wurde dieser kaputte Roman veröffentlicht. Das ist sicherlich auch sinnvoll, denn neben all dem, das keinen Sinn ergibt, findet sich dann doch die Stimme des Autors wieder, die mal humorvoll ist und mal tieftraurig, geprägt von einer erschreckenden Kraft.

Und wenn mir einmal jemand begegnet wäre und hätte mir erzählt, dass dieser Tag und dieser Weg und wie ich Tag für Tag an immer genau der gleichen Stelle mit der flachen Hand über die Farnbläter streiche, während immer und immer die Sonne scheint, dass in meiner Erinnerung nur das zurückbleiben würde und dass ich nie glücklicher sein würde als in diesem Moment, dann hätte ich ihn angeguckt, wie du mich jetzt anguckst. Weil du nicht weißt, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde. Und darum erzähle ich dir das. Weil ich vielleicht der bin, der dir sagt, dass du mit der Hand über die Farne streichst, ohne es zu wissen. Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es längert dauert, das Unglück. Es ist einfach so.

Mit Bilder deiner großen Liebe setzte Wolfgang Herrndorf seinen Romanerfolg Tschick fort. Isa ist auch on the road, aber ihr Weg ist vor allen Dingen düster und von vielen Gedanken über die Zeit, den Sinn des Lebens und den Tod geprägt. Es ist eine Reise ohne Ende, denn es ist dem Autor nicht gelungen, den Roman noch vor seinem Tod fertigzustellen. Dennoch ist es eine außergewöhnliche Reise und eine wertvolle, eine lesenswerte, eine berührende Lektüre. Ein letzter Gruß eines großartigen Autors.

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