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Altes Land – Dörte Hansen

Dörte Hansen legt mit Altes Land einen eindrucksvollen und warmherzigen Debütroman vor. Nüchtern, und doch mit ganz viel Humor, erzählt sie von Heimat und Heimatlosigkeit, von Flucht und dem Wunsch danach, ein Zuhause zu finden. Schon jetzt kann ich sagen, dass Altes Land mein Buch des Frühjahrs ist.

Altes Land

In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.

Das Alte Land ist ein Teil der Elbmarsch südlich der Elbe, der vor allen Dingen bekannt für einen ertragreichen Obstbau ist: hier findet man Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume. Die Kirschbäume sind bei räuberischen Vögeln beliebt, besonders bei den Staren, die mit lauten Rufen und Trommeln verscheucht werden. Doch so leicht wie sich die Vögel verscheuchen lassen, lassen sich Menschen nicht wegschicken. Auf dem Hof von Ida Eckhoff, Bäuerin im Alten Land, stehen im Frühjahr 1945 plötzlich Flüchtlinge aus Ostpreußen und bitten um Einlass. Ida Eckhoff schimpft die Flüchtlinge Polacken und lässt Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera in der Knechtekammer schlafen.

Vera hatte immer gefroren in diesem Haus, nicht nur am Anfang, als sie mit ihrer Mutter in der Gesindekammer an der großen Dielentür wohnte, die von allen kalten Räumen im Haus der kälteste war, am weitesten weg von Ida Eckhoffs warmem Herd.

Doch Hildegard von Kamcke lässt sich nicht unterkriegen, sie möchte nicht allzu lange Flüchtling sein. Sie schnappt sich bald darauf einen gut verdienenden Mann und zieht mit diesem weiter nach Hamburg, um eine neue Familie zu gründen. Vera bleibt auf dem Hof zurück und lebt von nun an bei Karl, Idas einzigem Sohn. Karl ist körperlich beinahe unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, doch er wird sich von seinen Erlebnissen nie erholen. Auch als sie endlich erwachsen ist und als Zahnärztin arbeitet, zieht Vera nicht aus und bleibt alleine zurück in diesem großen, kalten Haus, in dem sie lebt, doch trotzdem nie so richtig heimisch ist.

Sechzig Jahre später stehen plötzlich erneut zwei Flüchtlinge vor der Tür: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann hat sich in eine Andere verliebt und ihre Arbeit als Flötenlehrerin füllt sie schon lange nicht mehr aus – überhaupt empfindet sie ihr Leben in Hamburg-Ottensen zunehmend als erdrückend.

Manchmal, wenn sie mit fremden Frauen auf dem Spielplatz saß, sah sie die dunklen Augenringe und fragte sich, ob es noch andere gab wie sie, Nachtmütter, die sich am Tag ein anderes Leben wünschten. Falls ja – sie würden es auch unter Folter nicht gestehen. Man durfte erschöpft sein auf den Bänken in Ottensen, gestresst und ungekämmt, auch ungeschminkt, das alles ging, nur mutterglücklos, das ging nicht. 

Gemeinsam mit ihrem Sohn und Willy, dem Kaninchen, zieht Anne zu Vera in das große, kalte Haus. Anne, die eine Ausbildung als Tischlerin gemacht hat, nimmt sich dem Haus an, das Vera ein Leben lang vernachlässigt und nie gepflegt hat: die morschen Fenster werden erneuert, auch ein Gerüst wird aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass das Haus voller Geheimnisse ist, voller Erlebnisse, über die nie gesprochen wurde, voller drückendem Schweigen. Doch diese bedrückende Vergangenheit sitzt nicht nur im Haus, sondern auch in Vera selbst – durch die zwei Flüchtlinge, die ihr Leben spontan ergänzt haben, beginnt sie sich ganz langsam aus einer jahrelangen Erstarrung zu lösen.

Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.

Dörte Hansen erweist sich in ihrem Roman Altes Land als wunderbar genaue Beobachterin. Dabei gelingen ihr sehr intensive Einblicke in die Gefühle und Empfindungen ihrer Figuren, die alle irgendwie Flüchtlinge sind. Vera kommt als ungewolltes Flüchtlingskind in der Elbmarsch an und wird dort auch noch von ihrer eigenen Mutter zurückgelassen, die sich im viel schickeren Hamburg ein eigenes Leben aufbaut. Doch auch Anne ist ein Flüchtling, denn sie erstickt so langsam an ihrem schicken Leben in Hamburg. Die Beobachtungen des szenigen Großstadtlebens lesen sich herrlich amüsant: eingekauft wird natürlich im Bio-Supermarkt, die Kinder werden zu autonomen Entscheidungsträgern herangezogen, müssen die eine oder andere Frühförderung über sich ergehen lassen und wenn eine Beziehung doch mal scheitert, dann trennt man sich gesittet und eben wie zwei Erwachsene. Ebenso amüsant und mit humorvollem Augenzwinkern liest sich die Beschreibung der Menschen, die von der Stadt auf das Land gezogen sind, weil es dort doch ach so romantisch ist und dort nun Hoftür an Hoftür mit Vera und den anderen Alteingesessenen leben. Sie planen Bücher und Zeitschriften über die Landromantik, doch dabei übersehen sie, dass das Leben auf dem Land auch seine Schattenseiten haben kann. Der eine kann von seinen Verkäufen kaum überleben, der andere arbeitet noch im hohen Alter, da er keinen Nachfolger für den Hof findet – obwohl er drei Söhne hat.

Altes Land ist ein lesenswerter Roman, der von einem wunderbaren Humor getragen wird. Die Sprache ist nüchtern – knapp und verdichtet. An keiner Stelle ist ein Wort zu viel. Doch der Humor und die ironischen Beschreibungen sind nicht alles, denn unter der dicken Schicht Humor gibt es auch ganz viel Traurigkeit und eine bedrückende Schwere. Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit. Es geht um den Wunsch anzukommen und das Gefühl, sich fremd zu fühlen – manchmal sogar im eigenen Haus. Altes Land ist wunderbar leicht und unterhaltsam und doch gleichzeitig so tiefgehend und berührend. Ein leichtes Buch, das doch ein kleines Wunder ist. Erwähnte ich schon, dass das Buch für mich das Buch des Frühjahrs ist? Eine unbedingte Leseempfehlung!

Dörten Hansen: Altes Land. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 286 Seiten, €19,99. Weitere Besprechungen gibt es im Bücherwurmloch und bei Papiergeflüster.

Heimflug – Brittani Sonnenberg

Das Wort Heimflug beinhaltet das Gefühl, nach Hause zu kommen. Doch was ist, wenn man zwar um die Welt fliegt, doch gar kein Zuhause mehr hat? Kein Heim, keinen Ort, an dem man sich geborgen fühlt? Brittani Sonnenberg legt mit “Heimflug” einen wunderschönen Roman über Heimat vor und erzählt eine Geschichte vom Wunsch danach, irgendwo anzukommen.

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Familie Kriegstein ist immer unterwegs. Vater Chris Kriegstein arbeitet in einem internationalen Unternehmen, er ist die Karriereleiter empor geklettert, doch der Preis, den er dafür zahlen muss, sind häufige Umzüge: in achtzehn Jahren sind er und seine Frau Elise acht mal umgezogen. Deutschland, England, China, Singapur – das sind nur einige ihrer Stationen. Elise folgt ihrem Mann immer wieder in fremde Länder und sie gibt für ihn auch immer wieder alles auf: die neu gewonnene Heimat, die neu erlernte Sprache, die neu gefundenen Freunde. Elise schwankt zwischen dem Wunsch danach, neue Länder zu entdecken und einem seltsamen Heimweh. Eine unglückliche Kindheit hat sie früh aus dem Elternhaus vertrieben, so weit fort, wie möglich. Nun sehnt sie sich zurück, doch wie geht das – Heimweh nach einem Heim haben, das es eigentlich gar nicht mehr gibt?

“Wie es sich aber konkret anfühlte, in einer fremdsprachigen Umgebung zu leben, wurde ihr erst bewusst, als sie am Flughafen landeten und ihr die Wörter um die Ohren schwirrten wie sommers die Zikaden in Vidalia.”

Es ist nicht das Zuhause, nach dem Elise sich sehnt, sondern ein Gefühl – das Gefühl anzukommen, das Gefühl, nicht mehr fremd zu sein, nicht seltsam angeschaut oder gar ausgegrenzt zu werden. Später reisen die Kriegsteins nicht mehr nur zu zweit durch die Welt, sondern gemeinsam mit ihren Töchtern Leah und Sophie, für die die ständigen Neuanfänge nur schwer zu bewältigen sind. Unsicherheiten und Enttäuschungen begleiten jeden ihrer Umzüge. Einmal im Jahr gibt es eine vom Unternehmen verordnete Heimreise, doch das Gefühl für die ehemalige Heimat geht immer mehr verloren. Weder da, noch dort fühlt sich die Familie wirklich zu Hause. Es ist ein fürchterlicher Schicksalsschlag, der das ganze bisherige Leben der Familie Kriegstein schließlich auf den Kopf stellt…

“Wie soll Leah Evgenia an der amerikanischen Schule von Schanghai den Trost vermitteln, den es birgt, auf der vorderen Hüttenveranda heiße Schokolade zu trinken, in die Steppdecke ihrer Großmutter gehüllt, während im Tal die Kirchenglocken des Städtchens läuten, und sie den ganzen Tag lesend verbringen kann, ohne dass irgendetwas ihr signalisiert, sie gehöre nicht hierher – weder die überfüllten Bürgersteige einer Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern noch das Kichern und Schnattern einheimischer Schulkinder, die mit dem Finger auf sie zeigen, noch die Speisekarten, die lauter unentzifferbare Gerichte anführen.”

Die Autorin verfolgt ihre Figuren über viele Jahrzehnte, bis zu dem Moment, in dem Leah erwachsen ist und sich endlich den Wunsch nach einem festen Zuhause erfüllen möchte. Doch dann muss die junge Frau feststellen, dass es als Nomade nicht einfach ist, sesshaft zu werden – sie spürt dieses Fernweh in sich, diesen seltsamen Drang danach, wegzulaufen, immer immer weiter zu laufen.

Brittani Sonnenberg erzählt eine Familiengeschichte, die nicht nur mehrere Generationen umfasst, sondern auch mehrere Kontinente umspannt. Es dürfte also nicht verwundern, dass in ihrem Roman auch eine Vielzahl an unterschiedlichen Stimmen und Erzählperspektiven zu Wort kommen. Erzählt wird das Leben der Familie Kriegstein aus der Sicht aller Familienangehöriger, jeder von ihnen kommt abwechselnd zu Wort. Dadurch entsteht ein vielstimmiges Panorama, das sich aus ganz vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, Gedanken und Perspektiven zusammensetzt. Eine der Erzählperspektiven ist besonders ungewöhnlich, denn das erste Kapitel des Romans wird aus der Sicht von Elises Elternhaus erzählt – für mich gehört dieses Kapitel zu den berührendsten des ganzen Romans.

“Für eine Heimstatt ist es schlimm, keine Macht über das eigene Erscheinungsbild zu haben, das Schlimmste aber ist, dass man nicht einschreiten kann, wenn sich unheilvolle Dinge in einem abspielen. Man kann nur hilflos zusehen.”

“Heimflug” ist ein Roman über Heimat und das Nachhausekommen. Brittani Sonnenberg erzählt von globalen Nomaden, die im Rahmen ihrer Arbeit immer weiterziehen – sich von ihrem Ursprung wegbewegen, ohne irgendwo wirklich anzukommen. Sie erzählt davon, was passiert, wenn Heimat nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern das Konstrukt Familie die einzige Heimat ist, die einzige Sicherheit, die einzige Geborgenheit, die man bekommen kann. Und sie erzählt davon, was passiert, wenn dieses Konstrukt anfängt zu bröckeln und Risse zu bekommen.

Positiv besprochen wurde der Roman übrigens auch im Bücherwurmloch.

Saša Stanišić im Gespräch!

Acht Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Saša Stanišić warten, aber das Warten hat sich gelohnt – “Vor dem Fest” ist eine großartige Lektüre. Ich habe mich mit dem Autor getroffen, um über das Schreiben, die deutsche Sprache, Heimat und Heimweh zu sprechen.

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Du bist 1992 nach Deutschland gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Wie hast du dir die neue Sprache und das neue Land vertraut gemacht?

Am Anfang war das eine soziale Notwendigkeit, so schnell wie möglich die Sprache zu beherrschen. Ich war vierzehn Jahre alt, war mitten in der Pubertät und ich glaube, ich habe ganz schnell verstanden, dass die Sprache mir helfen wird, diese Zeit gut zu überstehen. Dass ich durch die Sprache nicht nur zu den Menschen einen Zugang finden werde, sondern auch in der Schule besser sein kann und mich leichter zurechtfinden werde in dieser kleinen, neuen Umwelt. Am Anfang habe ich sehr bewusst Deutsch lernen wollen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Ich habe gelernt und gelernt. Zusätzlich hatte ich Glück, dass ich auf einer Schule war, auf der verstärkt Deutsch für Ausländer unterrichtet wurde. Das hat mich beflügelt und mir zusätzlich geholfen, die Sprache schnell zu erlernen. Später habe ich dann wahnsinnig viel gelesen.

Wie würdest du mittlerweile dein Verhältnis zur deutschen Sprache bezeichnen?

Die Sprache ist auf eine sehr banale Art und Weise Material für mich. Damit meine ich tatsächlich eine formbare, spielbare, veränderbare Masse, aus der ich versuche den in diesem Moment bestmöglichen Satz auf Papier zu bringen. Mir ist bewusst, was mir durch die Sprache möglich ist, was erlaubt ist und was nicht, wo Regeln gebrochen werden dürfen und wo nicht. Ich weiß auch den rein strukturellen Umgang mit Sprache zu schätzen, treibe es in meinen Texten aber auch gerne auf die Spitze, damit eben nicht alles nur banal erzählt wird, oder von a nach b. Mir ist es – glaube ich – wichtig, immer in solchen Gesprächen zu betonen, dass das Deutsche für mich eine ganz flexible Sprache ist. Damit meine ich, man kann – wenn man sich ein bisschen Mühe gibt – alles mit ihr anstellen, was Geschichten und Texte angeht. Es ist also ein liebendes Verhältnis zur deutschen Sprache. Ich mag dieses Material, ich mag, wie es beschaffen ist, ich mag aber auch die Grenzsprengung, die ich durch sprachliche Spielereien erreichen kann.

Für deinen neuen Roman bist du in die Uckermark gereist. Wie hast du dir diesen Ort angeeignet und ist dir die Uckermark zwischendurch eine neue Heimat geworden?

Nein, nicht so richtig! Die Uckermark ist mir nach wie vor, genauso wie Hamburg oder Berlin, auf eine gewisse Art und Weise nicht vertraut. Für mich bedeutet es zu Hause zu sein, wenn man sich an einem Ort wirklich auskennt. Mit auskennen meine ich, wirklich an einem Ort zu sein, mit den Dingen und Menschen zu arbeiten und sich mit ihnen zu beschäftigen, sich darauf einlassen und versuchen, diesen Ort zu verstehen – durch die Geschichte hinweg, aber vor allen Dingen auch, was das Jetzt betrifft. Dadurch, dass ich so viel reise und mal in Bosnien bin, mal in Deutschland, habe ich diesen Zustand des Auskennens noch nicht erreicht. Es reicht immer nur für die fiktionale Auseinandersetzung, aber ich bin nie so wirklich irgendwo. In gewisser Hinsicht ist das sogar ganz gut, denn mich begeistert vieles und nicht eine Sache mehr als etwas anderes. Ich fühle mich häufig wohl, ich kann mich überall wohlfühlen und nicht an einem Ort wohler als an einem anderen. Deshalb ist der Heimatbegriff bei mir sehr dehnbar und manchmal ist schon das Gespräch mit einem netten Menschen für mich Heimat.

Sich eine neue Heimat anzueignen, bedeutet auch immer, eine alte zu verlassen – hattest du Heimweh als du nach Deutschland gekommen bist?

Vielleicht ganz am Anfang, ja. Das lag vor allem daran, dass wir aus einem sehr intakten Leben geflüchtet sind. Ich hatte das Gefühl, dass da etwas gesprengt wird, was unheimlich intakt gewesen ist und gut getan hat. Mein Heimweh resultierte nicht unbedingt aus dem Umzug, sondern aus dem Gefühl heraus, dass etwas gerade verloren geht und niemals wieder genauso sein wird. Dieses Gefühl kann man vielleicht gar nicht als Heimweh bezeichnen, ich hatte einfach ein starkes Gefühl von Traurigkeit.

Wenn man nach dir recherchiert, stößt man schnell auf Begriffe wie Migrationskultur oder Integration – spielt das für dein eigenes Selbstverständnis überhaupt irgendeine Rolle?

Nein, überhaupt nicht! Ich finde diese Labels immer ganz schwierig. Junger deutschsprachiger Autor ist genauso ein Label, genauso banal  wie das Migrantenlabel oder das Label des postmodernen Autors. Das klebt man einfach irgendwo dran, es sagt aber überhaupt nichts über das aus, was ich eigentlich mache. Solche Labels haben für mich tatsächlich keine Wertigkeit für das Buch und ich beschäftige mich auch nicht damit. Ich frage mich lediglich, warum es solche Schubladen geben muss. Mich macht neugierig, was das über die Menschen aussagt, die diese Schubladen aufmachen. Was will man mit dem Versuch bewirken, Dinge zu strukturieren und in eine Ordnung zu bringen, wo keine Ordnung ist? Wo Autoren zu mannigfaltig sind, wo wir von überall her kommen und hier gelandet sind und dabei aus ganz unterschiedlichen familiären Konstellationen kommen. Ich frage mich dann immer, warum es solche Sortierungen außerhalb des Textes geben muss. Einmal hat man auch über mich gesagt, dass ich ein Vorbild für gelungene Integration sei – da habe ich mich wirklich aufgeregt, weil ich das als eine Vereinnahmung empfinde, im Grunde schon fast als Diskriminierung. Das finde ich einfach lächerlich, denn genau das will ich nicht sein. Ich will auch anecken!

Wann ist bei dir überhaupt der Wunsch entstanden, zu schreiben?

Das ist eine Geschichte, die ich schon oft erzählt habe. Meine Eltern hatten ein Sofa, das man aufklappen konnte und darunter war ein Kasten und da kam normalerweise Bettwäsche rein, aber meine Eltern haben mir dort stattdessen eine Art Sofabibliothek eingerichtet. Wenn man das Bett aufgeklappt hat, waren dort Bücher drin. Wenn ich aus der Schule gekommen bin, habe ich mich in diese Bücher hineingelegt – ich war damals acht oder neun Jahre alt und habe es mir darin gemütlich gemacht. Hinter mir war die Schräge des Sofadeckels, neben mir war ein Tisch und für mich war das wie ein kleines Versteck, wie ein kleines Zelt. Dort lag ich dann und habe wahnsinnig viel gelesen. Aus diesem für mich schönsten Gefühl, zu Hause zu sein und aus diesen Büchern zu schöpfen, ist der Anfang meines Schreibens entstanden.

Deine literarischen Texte schreibst du auf Deutsch, wie ist diese Entscheidung gefallen?

Das war eine absolut bewusste Entscheidung. Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich nach wie vor geschrieben, aber zunächst noch auf Bosnisch. Irgendwann habe ich angefangen, meine bosnischen Texte ins Deutsche zu übersetzen und später habe ich dann die ersten Texte direkt auf Deutsch geschrieben. Davon bin ich auch nicht mehr abgewichen. Deutsch ist meine Sprache, ich bin darin auch sicherer, als im Bosnischen.

Du hast das Leipziger Literaturinstitut besucht, hat das Studium dort dein Schreiben in irgendeiner Form verändert oder beeinflusst?

Ja, beides – aber nur eingeschränkt. Ich habe nicht unbedingt durch das Studium selbst etwas gelernt, was mein Schreiben verändert hat, aber ich habe sehr viele interessante Leute kennengelernt, mit denen ich in Werkstattgesprächen an ihren oder auch meinen eigenen Texten arbeiten konnte. Für mich war es eine Mischung aus dem theoretischen Gespräch über Texte und dem privaten Austausch, aus dem eine Art Werkstattarbeit entstanden ist. Diese Arbeit hat mich wirklich sehr stark beeinflusst. Ich habe dabei erkannt, was funktioniert und was nicht funktioniert. Auch durch das Vertiefen in fremde Texte kann man viel über das eigene Schreiben lernen. Dort waren Leute wie Thomas Pletzinger, Katharina Adler oder auch Clemens Meyer und es war einfach ein ständiges Lernen. Ich habe gelernt, was einen guten Text ausmacht und habe dadurch gelernt, was ich besser machen kann.

Ein wichtiger Bestandteil eines Schreibstudiums ist auch immer die gegenseitige Kritik, wie gehst du heutzutage mit Kritik um?

Bei meinem neuen Roman hatte ich mir eigentlich vorgenommen, keine Besprechungen zu lesen und habe das auch sehr lange durchgehalten. Jetzt musste ich aber doch welche lesen, weil ich ein paar Mal von Leuten moderiert wurde, die eine Besprechung geschrieben haben. Ich lese aber viel im Internet, ich lese dort eigentlich fast alles und versuche zu verfolgen, was dort über mein Buch geschrieben wird. Mich interessiert die Einzelmeinung von sogenannten Laien, die ich immer nicht als Laien empfinde, sondern als sehr fleißige und gute Leser. Ich habe das Gefühl, dass ich dort auf eine unauffällig Art und Weise reagieren kann, um z.B. Fragen zu beantworten. Wenn ich eine Rezension in einer Zeitung lese, dann fehlt mir diese Möglichkeit. Ich könnte einen Leserbrief schreiben, aber damit würde ich mich total lächerlich machen. In einem Blog jedoch habe ich die Möglichkeit mich zu Wort zu melden, manchmal tue ich das dann auch und habe den Eindruck, dass dadurch für den Rezensenten ein Gefühl der Zusammenarbeit entsteht. Ich finde, dass das ein schönes Gefühl ist. In Rezensionen werden ja oft Fragen gestellt, Verwunderung geäußert oder auch Unverständnis formuliert und da habe ich die Gelegenheit, Dinge zu erklären und zu verdeutlichen. Das finde ich total grandios!

Dein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ erschien 2006 und war gleich erfolgreich. Anschließend haben wir acht Jahre auf deinen zweiten Roman warten müssen. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?

Die Füße hochgelegt! Nein, mir kommt es gar nicht so vor, als wären wirklich acht Jahre vergangen. Nach dem ersten Roman habe ich mir eine Auszeit genommen, denn ich hatte eigentlich nie vor, Schriftsteller zu werden. Das klingt komisch, aber ich dachte, ich werde immer nur dann schreiben, wenn ich wirklich etwas zu schreiben habe. Mit dem bisschen Geld, das ich damals verdient habe, habe ich dann ganz egoistisch beschlossen, auf Reisen zu gehen. Das war meine Chance! Ich bin drei Jahre lang fast permanent unterwegs gewesen und habe mir die Welt angeschaut. Erst als ich von meinen Reisen wieder zurückgekehrt bin, habe ich mich an neue Stoffe und Ideen gesetzt.  Dieses Mal soll es aber nicht so lange dauern, ich hoffe, dass im nächsten Jahr bereits ein neues Buch erscheinen wird.

Mit deinem zweiten Roman hast du im März den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. War diese positive Rückmeldung wichtig für dich?

Ja, solche Rückmeldungen sind schon wichtig, ich glaube aus zweierlei Gründen: einmal habe ich gemerkt, dass solche Auszeichnungen mir Mut machen, weiterzuarbeiten. Mut ist vielleicht das falsche Wort, aber sie spornen mich an, fordern mich auf, jetzt nicht wieder aufzuhören. Solche Rückmeldungen geben mir das Zeichen, dass das, was ich mache, etwas zählt. Grundsätzlich muss das aber nichts mit einem Preis zu tun haben, der Preis ist nur die von außen in die Medien getragene Auszeichnung, die etwas über das Buch sagt, aber nicht viel sagen muss. Genauso wichtig sind mir andere Dinge, die nebenbei laufen, z.B., dass Leute während der Lesung auf mich zukommen und sagen, dass das Buch sie sehr berührt hat. Diese Rückmeldungen geben mir das Zeichen, dass das, was ich tue, anderen Leuten etwas gibt – und sie sinngemäß sagen: mach mal weiter. Der andere Aspekt ist natürlich auch das Finanzielle. 15.000€ bedeutet für mich, dass ich für das nächste halbe Jahr ein Polster habe und keinen Nebentätigkeiten nachgehen muss, sondern wirklich versuchen kann, Autor zu sein. Ich möchte diesen Versuch jetzt mal wagen und die nächsten zwei, drei Jahre nur schreiben.

Vor dem Fest – Saša Stanišić

“Vor dem Fest” ist ein zweifach prämierter Roman. Bevor er überhaupt fertiggestellt wurde, wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres erhielt er dann schließlich den prestigeträchtigen Preis der Leipziger Buchmesse. Preise sagen selten etwas über die Qualität des Inhalts aus, in diesem Fall aber schon, denn der Inhalt ist mehr als preiswürdig. Saša Stanišić erzählt humorvoll, poetisch und voller Warmherzigkeit die Geschichte eines Dorfes.

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”

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Während Saša Stanišić in “Wie der Soldat das Grammofon repariert” noch eine Geschichte des Krieges erzählt hat, verschlägt es ihn in seinem zweiten Roman in die tiefste Provinz Deutschlands. Nach Fürstenfelde, in die Uckermark. Mitten in der brandenburgischen Einöde. “Es gehen mehr tot, als geboren werden.” Die Jungen verlassen das Dorf, auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist, als das, was ihre Heimat ihnen bieten kann. Die Alten werden immer älter und sterben einsam vor sich hin. Auch der Fährmann ist tot und niemand in Sicht, um diese Lücke zu füllen.

“Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.”

Der Titel des Romans ist programmatisch, denn Saša Stanišić erzählt in seinem Roman von einer einzigen Nacht. Von der Nacht vor dem Fest, dem traditionellen Annenfest. Das ganze Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen. Da gibt es Lada, den man Lada nennt, weil er mit dreizehn Jahren mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist. Da gibt es Frau Kranz, die schon neunzig Jahre alt ist und die ihr ganzes Leben lang gemalt hat. Gekannt hat sie dabei nur ein einziges Motiv: Fürstenfelde, in allen denkbaren Variationen. Für die Auktion des diesjährigen Festes möchte sie endlich eine Nachtaufnahme von Fürstenfelde malen, denn Fürstenfelde bei Nacht, das hat sie noch nie gemalt.

“Sie möchte einmal nicht die Wirklichkeit gemalt haben, sondern etwas, das später wirklich geworden ist. Aber wie geht das? Sie möchte malen, was niemand weiß. Sie möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das? Sie möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das? Das Hindern, aber wie?”

Da gibt es Ulli, der die Männer in Fürstenfelde in seiner Garage mit Alkohol bewirtet und an seinem Kühlschrank einen Kalender mit nackten Polinnen hängen hat – “halb wegen Ironie, halb wegen Ästhetik”. Da gibt es die dicke Frau Schwermuth, die von ihrem Sohn nur Mu genannt wird und sich so tief in die Heimatgeschichte ihres Dorfes eingegraben hat, dass sie den Weg zurück ins Jetzt kaum findet. Da gibt es Herrn Schramm, ehemaliger NVA-Soldat und Witwer, der so wenig Rente bekommt, dass er sich schwarz etwas dazu verdienen muss und Johann, der eine Ausbildung zum Glöckner macht.

“Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.”

Vom ersten Satz an hatte ich als Leser das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes, mit seinen schrulligen Bewohnern, zu sein. Die Warmherzigkeit, mit der sich Saša Stanišić seinen Figuren annimmt, ist beeindruckend. Er bevölkert seinen Roman nicht nur mit Figuren, sondern erweckt diese wirklich zum Leben. Die Schrulligkeiten der Dorfbewohner werden mit sehr viel Zuneigung, Einfühlungsvermögen und Feingefühl beschrieben. Doch neben den Figuren ist es vor allen Dingen die Sprache, die diesen Roman zu einer ganz besonderen Lektüre macht: dem Autor gelingt es auf eine höchst charmante Art und Weise, mit der deutschen Sprache zu spielen. Da wird nicht nur gerappt und gereimt, sondern es werden auch Sagen und Geschichten der Fürstenfelder Dorfchronik des 16. Jahrhunderts erzählt – so, wie sie damals erzählt und aufgeschrieben wurden. Stanišić nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die dennoch mit dem Hier und Jetzt in Fürstenfelde verknüpft bleibt. Es gibt auch typographische Spielereien, genauso wie Worterfindungen (im Gedächtnis geblieben ist mir das Wort durcherinnern). Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch ganz viel Humor aus. Obwohl es mit einem Todesfall beginnt, ist die Erzählung auch immer hochkomisch und es gibt zahlreiche wunderbare Pointen. Dabei neigt der Autor dazu, zu verzerren und zu überzeichnen, doch in der Verzerrung steckt auf den zweiten Blick auch viel Wahrheit.

“Und jetzt fängt auch noch die Zieschke sie vor der Bäckerei beschwingt ab, Herrgott noch mal, ist doch viel zu früh für Heiterkeit, aber die Zieschke ist so eine mit Strähnchen, solche schlagen emotional in alle Richtungen extrem aus.”

“Vor dem Fest” ist ein wunderbarer Roman! Er ist prall gefüllt mit so vielem, mit Poesie, mit Humor, mit Sprachspielen und mit einem herrlich skurrilen Dorf und seinen Bewohnern. Obwohl Saša Stanišić nur von einer einzigen Nacht erzählt, geht es doch um so viel mehr: “Vor dem Fest” ist nicht nur eine Chronik eines entvölkerten Dorfes, sondern auch ein großartiger Roman der Geschichten wie Schichten aufeinander stapelt und von Heimat und Erinnerungen erzählt, von der Vergangenheit, zerbrochenen Träumen und der drückenden Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Wir Erben – Angelika Reitzer

Angelika Reitzer wurde 1971 geboren. Nach einem Studium der Germanistik in Salzburg und Berlin, lebt sie heutzutage als freie Schriftstellerin in Wien. Sie hat bereits einen Erzählband und zwei Romane veröffentlicht und erhielt für diese zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Reinhard-Priessnitz-Preis und mehrere Stipendien. Mehr Informationen zu der Autorin gibt es auf ihrer eigenen Homepage.

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“Da spürt sie die Stille. Das ganze Haus ist ruhig, es ist leiser und größer als sonst. Es ist ein großes Haus, und natürlich ist es stiller, seit Lukas in Wien studiert.”

Marianne ist Anfang vierzig. Sie ist alleinerziehende Mutter, doch ihr Sohn Lukas ist mittlerweile erwachsen und hat das Mutterhaus zum Studium verlassen. Marianne lebt in Niederösterreich, ihr gehört ein großes Haus und der Betrieb einer Baumschule. Beides hat sie von ihrer Großmutter geerbt, die bis zu ihrem Tod mit Marianne zusammen gelebt hat. Nun bleibt sie alleine zurück, die Großmutter ist gestorben, der Sohn ausgezogen – sie ist zwar Teil einer weitverzweigten Familie, doch wirklich nahe fühlt sie sich niemanden. “Wie konnte sie sich hier, unter all den Menschen allein fühlen, es war unlogisch.” Sie bleibt zurück mit einem Haus und einem Betrieb, den sie geerbt, doch nie wirklich gewollt hat. Marianne ist mit siebzehn schwanger geworden, sie hat die Schule geschmissen und ein wildes Leben geführt – die Übernahme der Baumschule, war ihre einzige Möglichkeit, einen Weg zurück in die Normalität zu finden. Das, was damals eine Rettung war, ist nun beinahe ein Fluch – durch das Haus und den Betrieb ist Marianne ortsgebunden, sie ist festgelegt in einem Leben, in dem sie so fest verwurzelt ist, dass es ihr die Luft zum Atmen abschnürt.

“Den Lärm der Vögel hinter dem Haus, das Anschlagen der alten Kellertür, die aber immer geschlossen war, ein Geräusch, das Jutta nie gehört hatte. Wie konnte das gehen, all das nicht zu haben? Wie konnte man es austauschen gegen andere Aussichten, andere Geräusche, andere Gewohnheiten?”

200 Seiten lang begleiten wir Marianne durch ein Leben, das wie erstarrt wirkt.  Sie erlebt die Widrigkeiten des Alltags – den Tod der Großmutter, den Tod eines Freundes, die Erkrankung einer Bekannten – wie durch einen Schleier. Die Erzählweise ist so nüchtern und neutral, dass die Ereignisse beim Lesen beinahe emotionslos an mir vorbeigezogen sind. Es ist eine erschreckende Lethargie, die sich über Mariannes Leben gelegt hat. Hin und wieder wird erwähnt, dass sie zu viel trinkt – dieser Umstand ist sicherlich auf die erdrückende Einsamkeit, in der sie lebt, zurückzuführen. Sie hat ein Leben geerbt, das sie nun am Leben hindert – ihr französischer Liebhaber geht zurück in seine Heimat, über die Option, mit ihm zu gehen, darf Marianne gar nicht erst nachdenken, zu viele Verbindlichkeiten lassen sie wie festgewurzelt in ihrem Zuhause bleiben.

“Wenn sie sich an jeden Streit, an jede Auseinandersetzung in der Familie erinnern könnte, würde sie wohl schon lange niemanden mehr einladen. Wenn sich alle daran erinnern könnten, was sie je zueinander gesagt haben, dann wäre doch längst alles explodiert. Aber das war wahrscheinlich in allen Familien so.”

Es kommt einem Schock gleich, wenn Angelika Reitzer ihre Hauptfigur nach 200 Seiten einfach fallen lässt und sich im zweiten Teil ihres Romans auf Siri konzentriert, eine entfernte Bekannte von Marianne. Siri ist mit ihrer Offenheit und Unbedarftheit das Kontrastprogramm zu Mariannes Sesshaftigkeit. Die junge Frau, die mit ihren Eltern aus der DDR geflüchtet war, verschlägt es mal nach Japan, mal nach Amerika – ihren Studienwunsch ändert sie immer mal wieder, genauso wie die Vorstellungen ihrer Zukunft. Die Eltern hatten nach ihrer Flucht in den Westen, keine Zukunft dort für sich gesehen – die Rückkehr ist unvermeidlich. Diese Rastlosigkeit vererben sie an ihre Tochter weiter: Siri legt sich auf keine Heimat fest, stattdessen wagt sie immer wieder einen neuen Anfang, bricht immer wieder zu neuen Zielen auf, erfindet sich und ihre Geschichte in immer neuen Varianten.

“Welcher freie Mensch möchte sich diktieren lassen, wie es um ihn bestellt ist? Woran er denkt, vor dem Einschlafen, und was er macht, wenn die Angst einmal so groß ist, dass sie wirklich unüberwindbar scheint. Man ist umstellt, es ist doch nicht so, dass einem nur der eine Zugang zur Zukunft versperrt ist. Auch was war, gehört dir dann nicht. Deshalb, und das ist wichtig, muss ich mir meine eigene Geschichte erfinden.”

Angelika Reitzer hält sich mit Deutungen und Erklärungen zurück, als Leser wird man in diese beiden Leben eingeführt und es bleibt einem selbst überlassen, zu welchen Schlüssen man kommt. Siri und Marianne stehen sich beinahe wie ein Gegensatzpaar gegenüber – Siri beginnt immer wieder neue Leben, doch nie gelingt es ihr, etwas von den Anfängen auch zu beenden, stattdessen lässt sie sich treiben. Marianne dagegen ist festgelegt in einem Leben, das ihr zwar eine materielle Sicherheit bietet, dafür aber keinen Raum zur freien Entfaltung lässt. Beide Frauen sind Erbinnen, sie haben ein Leben geerbt, sie haben eine Tendenz zum Leben geerbt und beide versuchen Wege zu finden, mit diesem Erbe umzugehen.

“Wir Erben” ist ein Buch, das nachdenklich stimmt – ein Buch, das viele offene Fragen aufwirft und dabei dazu anregt, über Fragen nach Herkunft, Heimat und dem eigenen Leben nachzudenken. Die Erzählstimme ist monoton und nüchtern, auf der einen Seite habe ich das als sehr authentisch empfunden, auf der anderen Seite krankt das Buch manchmal an einem gewissen Gefühl der Langeweile. Es passiert eigentlich so viel, doch nichts scheint die Schutzschicht von Marianne wirklich durchbrechen zu können.

“Wut ist manchmal auch dabei. Immer will die eine von der anderen etwas, aber noch mehr will jede von sich selber. Es geht darum, wie man aus der Welt eine bessere machen kann. Eine Möglichkeit oder eigentlich viele, aber einmal anfangen.”

Angelika Reitzer legt mit “Wir Erben” einen wunderbaren Roman vor, den ich gerne gelesen habe. Es ist ein Roman über das Leben, über das Leben, das wir führen und über das, was wir gerne führen würden. Es ist ein Roman über Heimat und Wurzeln, über Freiheit und Träume und ein Roman über den Wunsch danach, einen Platz im Leben zu finden.

 

Sarah Stricker im Gespräch!

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Sarah Strickers Roman „Fünf Kopeken“ war einer der Überraschungserfolge in diesem Herbst. Ich hatte die Möglichkeit die Autorin auf der Buchmesse in Frankfurt zu treffen und mit ihr, nicht nur über ihren Debütroman, zu sprechen.

Du lebst seit 2009 in Israel – wie ist es dazugekommen?

Ursprünglich bin ich mit einem Journalisten-Stipendium nach Israel gekommen, um für die größte Nachrichtenseite dort zu arbeiten. Eigentlich sollte ich zwei Monate bleiben. Aber es hat genau zwei Wochen gedauert, bis ich wusste: hier will ich nicht mehr weg. Warum ich mich zum Bleiben entschieden habe? Natürlich gab es Gründe, und ich könnte jetzt lang und breit darüber erzählen, wie ich mich die Mentalität der Israelis verliebt habe, oder dass es einfach keinen Ort auf der Welt gibt, an dem ich so gut schreiben kann, wie auf meinem Balkon in Tel Aviv. Aber im Endeffekt ist es wie in jeder Liebesbeziehung: Genauso wie man es tunlichst unterlässt, den Partner zu fragen, ob er einen noch liebt, empfiehlt es sich auch nicht, zu fragen, „warum liebst du mich eigentlich?“. Was man da hört, ist entweder unglaublich banal. Oder so schmierig von all dem Pathos, dass es einem durch die Finger flutscht. Die Antwort liegt wahrscheinlich irgendwo im toten Winkel des Denkens. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich in Israel sehr glücklich bin.

Kannst du denn sagen, was dir an deinem Leben in Tel Aviv besonders gefällt? Was du vielleicht am meisten schätzt?

Wahrscheinlich, dass es schier unmöglich ist, zu vereinsamen. Als ich noch in Berlin gelebt habe, hatte ich manchmal das Gefühl, völlig von meiner Umgebung abgeschlossen zu sein, gerade in intensiven Schreib-Phasen, wo man ja doch schnell zum Einsiedler wird. In Deutschland kann man einen ganzen Tag durch die Welt gehen, ohne mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Selbst in Geschäften schiebt man einfach das Geld über den Tresen, bekommt die Ware und geht wieder, ohne dass man ein Wort miteinander gewechselt hätte. In Tel Aviv redet jeder mit jedem und das pausenlos. Man schafft es gar nicht durch den Supermarkt, ohne sofort in ein Gespräch verwickelt zu werden – was natürlich manchmal auch sehr nervtötend sein kann. Aber wenn ich auf meinem Balkon sitze und die lachenden und streitenden und, wie gesagt, pausenlos redenden Menschen höre, hab ich eher das Gefühl, Teil der Welt zu sein, in der ich lebe. Unabhängig davon habe ich in Tel Aviv aber auch einfach tolle Freunde gefunden. Das ist ja eigentlich immer der ausschlaggebende Grund dafür, dass man sich an einem Ort wohl fühlt: weil da Menschen sind, mit denen es irgendwie passt. Die hätte ich theoretisch natürlich auch woanders finden können, aber sie waren nun mal in Tel Aviv.

Was sind für dich die größten Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und dem Leben in Israel?

Israelis sind viel direkter, machen sich weniger Gedanken darum, was Leute über sie denken könnten und halten nicht besonders viel von Regeln. Vor allem aber nehmen sie sich selbst nicht so ernst – was auf mich wahrscheinlich einen ganz guten Einfluss hat. Israel ist einfach ein Land, das größere Probleme hat, als Schreibkrisen. Rumgejammer, weil man mal einen Tag lang keinen gescheiten Satz hinbringt, wird einem dort ganz schnell abtrainiert. Wahrscheinlich hat es genau deshalb mit dem Roman in Tel Aviv so gut funktioniert. Ich habe das Gefühl, die Spitzen meiner Persönlichkeit wurden ein bisschen abgestumpft: sich wegen Kleinigkeiten verrückt machen, das Gefühl, immer irgendetwas müssen zu müssen, die Unfähigkeit, einfach mal nichts zu tun, ohne von schlechtem Gewissen zerfressen zu werden… all diese ja doch sehr deutschen Verhaltensweisen vertragen sich nicht besonders gut mit Kreativsein. Israel hat mich da bestimmt ein bisschen lockrer gemacht – was nicht heißt, dass ich mir nicht noch immer ca. einmal die Woche die Haare raufe, weil die Worte mal wieder nicht so wollen wie ich.

Wie hat dein Umfeld auf deine Entscheidung reagiert in Israel zu bleiben? Gab es unter den Reaktionen auch Sorge oder Angst?

Als ich angefangen habe, mich für Israel zu interessieren, war meine Mutter alles andere als begeistert. Für sie war Israel einfach eine einzige Kriegszone, und als letztes Jahr dann wirklich die Sirenen über Tel Aviv geheult haben, hat sie schon sehr gelitten. Ich glaube, sie hat es mir richtig übel genommen, dass ich nicht einfach zurück nach Deutschland geflogen bin und ihr schlaflose Nächte bereitet habe. Aber allmählich steckt meine Familie die Sorgen ganz gut weg, sie merken einfach, wie gut es mir geht, seitdem ich in Israel lebe. Natürlich wäre es ihnen lieber, wenn ich in ihrer Nähe wäre. Aber bevor ich nach Israel gezogen bin, habe ich in Berlin gewohnt. Das war auch sieben Stunden von meinem Heimatort entfernt. Länger dauert es jetzt auch nicht.

Israel wird in Deutschland vor allem als Krisenregion wahrgenommen. Bekommst du in deinem alltäglichen Leben in Tel Aviv überhaupt etwas davon mit?

Klar, ich bin ja ursprünglich Journalistin und auch so ein sehr politischer Mensch, ich lese Nachrichten, ein paar meiner Freunde sind in der Politik, es gibt keine Woche, in der ich nicht mit irgendjemandem in einen Streit gerate. Aber natürlich blendet man das im Alltag ein Stück weit aus. Ich habe keine Angst. Vorhin wurde ich gefragt, ob ich denn auch Bus fahre: klar, klar fahre ich Bus! Da denke ich auch nicht zweimal drüber nach.

Wie sieht deine weitere Lebensplanung aus, möchtest du irgendwann in deine Heimat zurückkehren?

Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, aus Israel weg zu gehen. Ich vermisse es auch ganz schnell. So spannend die Buchmesse und der ganze Presserummel rund um die „Fünf Kopeken“ sind – nach ein, zwei Wochen in Deutschland zieht es mich schon wieder nach Tel Aviv. Aber wenn du mich fragst, was meine Zuhause ist, muss ich ganz ehrlich sagen: Für mich ist mein Zuhause am ehesten die Sprache. Ich fühle mich da daheim, wo ich schreiben kann. Und das klappt in Tel Aviv nun mal am besten. Versteh mich nicht falsch, ich hab einen riesen Spaß hier, aber ich freu mich einfach darauf, wieder an meinen Schreibtisch zu kommen und mich an den zweiten Roman zu machen. Die Ideen kommen allmählich zusammen. Aber leider ist es gerade ziemlich schwer, Zeit zu finden, um konzentriert zu arbeiten. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich mir einen Tag freischaufle, kommt eine neue Interviewanfrage. Das ist natürlich toll! Ich jammere hier auf hohem Niveau. Aber ich merke auch, dass es mir nicht gut tut, wenn ich länger nicht schreibe – ich werde dann einfach ein grantig.

Inwiefern hat Israel dein Schreiben verändert?

Es hat mir gut getan, weit weg zu sein. Auch weit weg von aller Konkurrenz oder allen Stimmen, die einem sagen könnten, ob das, was man da fabriziert, eigentlich gut ist oder nicht. Ich war nie Teil einer „Szene“, weder habe ich im Literaturinstitut studiert, noch war ich in irgendwelchen Schreibworkshops. In Israel hatte ich ganz automatisch die Distanz, die ich brauchte, weil ich abgeschnitten von der deutschen Sprache im Hebräischen eingeschlossen war, sodass ich mich ganz auf mein Eigenes konzentrieren konnte. In Deutschland kamen mir immer wieder Stimmen von außen in die Quere. Aber natürlich ist es auch einfach so, dass Sonnenschein am Morgen sehr hilft, den eigenen Schweinehund zu bekämpfen.

Im Herbst dieses Jahres ist dein Debütroman „Fünf Kopeken“ erschienen – was hat es mit dem ungewöhnlichen Titel auf sich?

Vor ein paar Jahren hab ich mal ein Weilchen Russisch gelernt, und da hat mir jemand erzählt, dass in der Sowjetunion die fünf die beste Note war und es offenbar den Brauch gab, Kindern vor wichtigen Prüfungen ein Fünf-Kopekenstück unters Kopfkissen zu legen. Die Geschichte hatte ich längst wieder vergessen, als ich eines Sonntagmorgens in Berlin eine fürchterliche Schreibkrise hatte. Um mich abzulenken bin ich auf einen Flohmarkt gegangen, und da ist mir die Münze sprichwörtlich in die Hände gefallen. Als ich sie gesehen habe, ist mir nicht nur diese Anekdote wieder eingefallen – plötzlich haben sich auch die ganzen Ideen, die mir bis dahin so im Kopf rumgespukt sind, zu einer Geschichte zusammengefügt, die ich unbedingt aufschreiben wollte.

Eines der zentralen Themen ist Schönheit und Hässlichkeit – wie bist du auf diese Themen gekommen und warum war es dir wichtig darüber zu schreiben?

„Meine Mutter war sehr hässlich“, der erste Satz des Romans, ist bereits ein Tabu. Ich habe das Gefühl, dass Leser diesen Satz nie einfach stehen lassen können. Entweder sie denken, das Buch sei autobiographisch und ich würde einfach auf hundsgemeinem Weg versuchen, meiner Mutter eins auszuwischen. Oder sie wittern eine Finte und gehen davon aus, dass die Mutter doch in irgendeiner Weise attraktiv sein könnte. Das fand ich sehr spannend! Warum ist das so? Warum kann das niemand akzeptieren? Die ersten Ideen zu dem Thema kamen mir bereits während der Schulzeit: einer meiner besten Freunde hatte seine Mutter verloren und nur ganz selten darüber geredet. Wenn er doch mal über sie sprach, sagte er: „Sie war wunderschön.“ So bewegend ich das damals auch fand, so empfand ich es doch immer auch als seltsam, dass er ausgerechnet dieses Klischee wählte. In Memoiren oder Erinnerungen sind Mütter ja immer schön, auch die hässlichen. Das muss einfach so sein. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die meisten von uns ihre Eltern nur sehr oberflächlich betrachten. Würde man seine Eltern als richtige Personen wahrnehmen, aus Fleisch und Blut, mit eigenen Bedürfnissen, die nichts mit unseren eigenen zu tun haben, würden sie auch zur Konkurrenz. Wer will schon riskieren, herauszufinden, dass die eigenen Eltern vielleicht viel krasser unterwegs waren, als man selbst. Den meisten ist es deshalb lieber, wenn ihre Mutter und ihr Vater einfach nur „die Mama“ und „der Papa“ bleiben. Die Fahrstuhlmusik für das eigene Auf und Ab. Eigentlich wissen wir überhaupt nicht, wer unsere Eltern sind. Deshalb war es mir auch wichtig, dass die Mutter den ganzen Roman über keinen Namen bekommt.

Dein Roman wurde in der Presse sehr euphorisch besprochen, hattest du mit diesem Erfolg gerechnet oder zwischendurch auch gezweifelt?

Ich hatte Zweifel, habe nach wie vor Zweifel und glaube, wenn man nicht immer am Zweifeln ist, sollte man es mit dem Schreiben lieber lassen. Als ich mit dem Roman angefangen habe, hatte ich weder eine Agentur, noch einen Verlag. Ich habe geschrieben, weil ich den Roman schreiben wollte.

Café Saratoga – Malin Schwerdtfeger

Malin Schwerdtfeger, die 1972 geboren wurde, ist in Bremen aufgewachsen. Sie studierte Judaistik und Islamwissenschaft und arbeitete in einer Berliner Buchhandlung – heutzutage lebt sie als Schriftstellerin in eben dieser Stadt. Mit “Café Saratoga” debütierte die Autorin 2001 und wurde von der Kritik begeistert gefeiert. Erschienen ist das Buch nun erneut und zwar in der edition fünf, einem ganz besondern Buchverlag, der sich vergessenen und zu wenig beachteten Autorinnen widmet und den ich in mein literarisches Herz geschlossen habe. In der Flut der Neuerscheinungen, die uns heutzutage jedes Jahr wieder erschlägt, ist es so erfrischend, Bücher, die man auf den ersten Blick nicht entdecken konnte, auf den zweiten Blick entdecken zu können.

“Jeden Tag im Café Saratoga erklärte uns unser Vater die zwei Deutschlands. Er erklärte sie uns, wie er den Tod erklärte und die nächsthöhere Dimension: Nur durch das eine war das andere zu erreichen, das andere aber war gut. Sein Name war Bundes.”

In “Café Saratoga” erzählt Malin Schwerdtfeger eine Geschichte vom Erwachsenwerden und von zwei Mädchen, die zwischen zwei Welten aufwachsen: Sonja und Majka sind Schwestern, gemeinsam verbringen sie ihre Sommerferien auf der polnischen Halbinsel Hel. Es sind unbeschwerte Zeiten, in denen man Sonne und Sommerluft atmen kann. Das Café Saratoga befindet sich auf Hel, Tata, der Vater der beiden Mädchen hat es übernommen. Doch was Sonja und Majka nicht ahnen, ist, dass dies nur eine Zwischenstation sein soll: das endgültige Ziel der Familie ist Deutschland. Oder wie Tata sagt: “Bundes”. Was für die Mädchen eine idyllische Heimat ist, ist für den Vater nur Mittel zum Zweck: mit dem Café möchte er endlich genug Geld verdienen, um den Sprung nach Deutschland zu schaffen.

“‘Sehr euch euren Vater an!’, sagte sie, und immer wollte Mama, dass wir uns etwas ansähen, denn in Mamas Augen bestand die Welt aus guten und schlechten Beispielen und das schlechteste Beispiel war Tata.”

Als die Familie Hel endlich hinter sich lassen kann und nach Deutschland übersiedelt, ist dies für Sonja und Majka ein schmerzlicher Verlust der Heimat. Die beiden Mädchen befinden sich an der Schwelle zur Pubertät und sind diesen Irrungen und Wirrungen nun in einem für sie gänzlich fremden Land ausgeliefert. Einem Land, das für sie kein Zuhause ist und dessen Sprache sie nur langsam und mühsam erlernen. Befanden sie sich eben noch auf der idyllischen Halbinsel, werden die beiden schüchternen und zurückhaltenden Mädchen plötzlich in eine leuchtende und grelle Großstadtwelt gestoßen. Im Jahr 1987 beginnt für Sonja und Majka plötzlich und unfreiwillig eine neue Zeitrechnung.

“Im Jahr drei meiner Zeitrechnung war es geschehen: Eine ewig Linie löste sich auf. Sie hatte zwei Deutschlands getrennt, die zwei Deutschlands, die uns Tata und Bocian erklärt hatten, jeden Tag im Café Saratoga.”

Ähnlich wie Alice Pung in ihrem Roman “Ungeschliffener Diamant”, den ich vor einigen Wochen hier vorgestellt habe, beschäftigt sich auch Malin Schwerdtfeger mit dem Themenkomplex Heimat und Fremde. Die Bemühungen ihrer beiden stillen Heldinnen, sich in ihrem neuen Heimatland zurechtzufinden, werden von der Autorin frei von jeglichem Kitsch und Pathos geschildert: ihre Beobachtungen sind unprätentiös und durchzogen von einem feinen Humor. Sonja und Majka erleben nicht nur einen Bruch ihrer Biographien, ein Wegziehen und Ankommen, sondern werden davon mitten in ihrer beginnenden Pubertät konfrontiert. Die Kindheit endet mit den Sommerferien auf Hel und die Jugend beginnt mit dem Umzug nach “Bundes”. Viele von Malin Schwerdtfegers Beschreibungen muten auf den ersten Blick unterhaltsam und humorvoll an, dazu tragen besonders die exzentrisch gezeichneten Eltern von Sonja und Majka bei, doch hinter dieser humorvollen Oberfläche steckt eine bittere Wahrheit: für Tata ist Deutschland das Paradies und damit ein Ort, den er um jeden Preis erreichen möchte. Doch wo liegt für die beiden Mädchen das Paradies? Wo möchte man leben? Wo gehört man hin? Für die Mutter der beiden ist die erzwungene Auswanderung und die dadurch entstehende Lebensveränderung zu viel, um es noch ertragen zu können – statt ihren Kindern beizustehen, flüchtet sie in eine Depression.

“Café Saratoga” ist trotz allem Humor ein rauer und schonungsloser Roman, der sich auf eine manchmal schwer zu ertragende Art und Weise mit den Übeln und Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens beschäftigt. Malin Schwerdtfeger erzählt vom Auseinanderbrechen einer Familie und vom viel zu frühen Erwachsenwerden zweier junger Mädchen, doch tut sie dies auf so lakonische Art und Weise, dass dennoch und trotz allem Hoffnung erhalten bleibt. Es ist die Hoffnung, auch in diesen Verhältnissen überleben zu können. Malin Schwerdtfeger gelingt es, wunderbare und eindringliche Bilder für die Kindheit und Jugend ihrer Heldinnen zu erschaffen und dabei eine berührende Geschichte zweier Schwestern zu erzählen. “Café Saratoga” ist großartige und sehr empfehlenswerte Literatur, die alles enthält, was ein gutes Buch ausmacht: Melancholie und Tiefe, gepaart mit ganz viel Humor.

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