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Zwei Papas für Tango – Edith Schreiber-Wicke

Zwei Papas für Tango ist die wahre Geschichte von Pinguin Tango, der mit zwei Pinguin-Vätern in einem Zoo in New York aufwächst. Wie es dazu kommen konnte, erzählt Edith Schreiber-Wicke in liebevollen Worten, die von den Illustrationen von Carola Holland ergänzt werden.

Roy und Silo waren immer schon befreundet. Von Ei an sozusagen. Sie spielten miteinander alle Pinguinspiele. Klippenklettern. Tieftauchen. Wettwatscheln. Schnellschwimmen. Sie waren die fröhlichsten Pinguine weit und breit. Und immer schliefen sie eng nebeneinander ein. 

Die Geschichte der beiden Pinguine Roy und Silo, hat sich – vermutlich – tatsächlich so zugetragen, wie sie im Buch erzählt wird. Beide Pinguine haben sich 1998 in einem Zoo in New York kennengelernt. Auch wenn die Pinguinpfleger keine sexuelle Beziehung beobachten konnten, wurde doch offensichtlich, dass sich beide sehr zueinander hingezogen fühlten. Beide bauten sich gemeinsam ein Nest und versuchten darin verzweifelt einen Stein auszubrüten, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es sich um ein Ei handeln könnte. Die Pfleger gaben ihnen daraufhin ein Ei, das zu einem Pinguinpaar gehörte, das damit überfordert war, mehrere Eier gleichzeitig auszubrüten.

Nach 34 Tagen schlüpfte das Pinguinmädchen Tango aus dem Ei – auch wenn es im Buch nicht vorkommt, finde ich es interessant, dass Tango später ebenfalls eine gleichgeschlechtliche Beziehung führt.

Seitdem sind Roy, Silo und Tango eine Familie wie jede andere. Na ja – nicht ganz wie jede andere. Aber auf jeden Fall eine glückliche Familie. Und eine Bilderbuchfamilie. Wie man sieht.

Was mir an diesem Bilderbuch gefällt, ist, dass es viele Gesprächsansätze bietet und sehr schön davon erzählt, wie sich zwei Pinguine zueinander hingezogen fühlen – doch von außen versucht wird, beide voneinander zu trennen, damit sie sich – wie alle anderen Pinguine auch – eine Pinguindame suchen. Roy und Silo leiden jedoch unter der Trennung und treten in den Hungerstreik. Sie sind erst glücklich, als die Pfleger nachgeben und beide wieder zusammenführen. Zwei Papas für Tango lädt dazu ein, mit Kindern ab vier Jahren über das Thema gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ins Gespräch zu kommen. Ich halte solche Bücher in zweierlei Hinsicht für unverzichtbar: zum einen werden Kinder damit konfrontiert, dass es eben nicht nur Partnerschaften gibt, die aus einer Mutter und einem Vater bestehen. Zum anderen finden sich Kinder, die mit zwei Vätern aufwachsen, in solchen Büchern repräsentiert – und das passiert leider noch viel zu selten. Wie häufig schlägt man ein Kinderbuch auf und ist mit der klassischen Familienkonstellation konfrontiert? Und wie wichtig ist es für Kinder, die in anderen Konstellationen aufwachsen, zu sehen: mich gibt es auch in Büchern, über mich werden ebenfalls Geschichten erzählt, mein Leben genauso alltäglich ist wie das Leben meiner Freunde und Freundinnen.

Unter dem Titel And Tango Makes Three erschien das Bilderbuch auch auf Englisch, herausgegeben von Justin Richardson. Es ist erschreckend und kaum zu glauben, dass das Buch fünf Jahre lang in Folge zu den Top 10 der verbotenen Büchern an amerikanischen Bibliotheken und Schulen gehörte. In einem Artikel las ich, dass Kritik daran geübt wurde, dass Kinder zu früh mit dem Thema Homosexualität konfrontiert werden und das klassische Familienmodell in Frage gestellt wird. In einer Bibliothek wurde sogar darum gebeten, das Buch aus der Auslage zu nehmen – wegen der schwulen Thematik. Wohlgemerkt: wir sprechen hier über eine Bilderbuchgeschichte über zwei Pinguine.

Solange es immer noch solche Vorurteile, Berührungsängste und Feindlichkeiten gibt, ist es umso wichtiger, dass es Bücher wie Zwei Papas für Tango gibt. Es geht hier nicht um Anderssein und Toleranz – denn es sind immer die scheinbar Normalen, die bestimmen, was anders ist und was toleriert werden muss. Es geht um Liebe, um Familie, um die Erfüllung eines Wunsches. All das wird von Edith Schreiber-Wicke wunderbar erzählt und ich wünsche diesem Buch ganz viele große und kleine Leser und Leserinnen.

Edith Schreiber-Wicke (Autorin), Carola Holland (Illustratorin): Zwei Papas für Tango. Ab 4 Jahren. 32 Seiten, 12€. 


Weitere Empfehlungen für Bücher über Regenbogenfamilien, findet ihr in diesem Beitrag von mir:

Ein unmögliches Leben – Andrew Sean Greer

Andrew Sean Greer wurde 1970 geboren. Er studierte Creative Writing und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Nebenjobs. Den Durchbruch als Schriftsteller feierte er mit dem Roman “Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli”, später folgte der internationale Bestseller “Geschichte einer Ehe”. Der Autor lebt heutzutage mit seinem Ehemann in San Francisco. “Ein unmögliches Leben” ist sein neuester Roman – er wurde von Uda Strätling ins Deutsche übertragen.

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“Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal.”

Greenwich Village, 1985: Greta Wells beklagt zwei schmerzhafte Verluste, sie verliert nicht nur ihren Zwillingsbruder Felix, der an AIDS stirbt, sondern auch ihren Liebhaber Nathan, von dem sie verlassen wird. Der Schmerz sitzt so tief, dass sie kaum Worte für ihn findet. Der Schmerz sitzt so tief, dass sie aus ihrem Leben gerissen wird, aus ihrem Alltag – gestrandet in einem Gefühl der überwältigenden Trauer, das ihr jede Möglichkeit raubt, befreit leben und atmen zu können. Greta hat durch den Verlust ihres Bruders all ihre Lebensfähigkeit verloren. Das plötzliche Verschwinden von Nathan, raubt ihr den letzten Funken Kraft. 1985 lebt sie ein Leben unter dem Fluch von Trauer und Tod – wie gerne nur hätte sie zu jeder anderen Zeit gelebt.

“Es ist fast unmöglich, wahre Trauer zu fassen; sie ist ein Tiefseegeschöpf, das nicht ans Licht geholt werden kann. Ich sage, ich erinnere mich, traurig gewesen zu sein, aber tatsächlich erinnere ich mich bloß an Morgen, an denen die Frau im Bett – die Frau, in der ich eingeschlossen war – nicht aufwachen, nicht zur Arbeit gehen konnte, nichts von dem tun konnte, von dem sie wusste, dass es die Rettung wäre, sondern sich an das hielt, was sie zerstören musste: Alkohol, verbotene Zigaretten und endlose verlorene schwarze Stunden der Einsamkeit.”

Greta entscheidet sich schließlich dazu, eine Elektrokonvulsionstherapie zu machen, doch als sie am nächsten Morgen nach dem ersten Behandlungstag aufwacht, fühlt sie sich ganz und gar nicht besser. Der Doktor hatte eine leichte Desorientierung prophezeit, doch das, was Greta erlebt, ist anders als alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Sie wacht in einem Leben auf, das ihr fremd ist, sie wacht als eine Greta auf, die ihr unbekannt ist. Sie ist immer noch Greta, doch sie wacht im Jahr 1918 auf. Das, was sie sich in einem Moment der Verzweiflung gewünscht hat – zu einer anderen Zeit zu leben – wird plötzlich Wirklichkeit.

1918 befindet sich die Welt im Krieg, aber immerhin lebt Felix noch, auch Nathan lebt – doch er musste in den Krieg ziehen. Während seiner Abwesenheit hat Greta eine heimliche Affäre mit ihrem Herzensfreund Leo. Die Zeiten damals sind noch anders, während Felix 1985 einen Lebenspartner hat, hat er 1918 eine Freundin, die er heiraten möchte und ein belastendes Geheimnis. Nach der nächsten Anwendung EKT, katapultiert es Greta in das Jahr 1941 – der nächste Krieg zeichnet sich bereits drohend am Horizont ab. Felix ist mittlerweile verheiratet und hat ein Kind, genauso wie Greta, die mit Nathan den Sohn Fee großzieht. Ein schwerer Autounfall hat das Leben dieser Greta durcheinander gebracht – ihre beste Freundin Ruth ist dabei verstorben.

“Du wünscht dir was, und es entsteht eine andere Welt, in der dieser Wunsch wahr wird, egal, ob du sie jemals zu sehen bekommst. In diesen anderen Welten sind alle deine geliebten orte da, deine geliebten Menschen. Und vielleicht wird in einer von diesen Welten alles Unrecht wiedergutgemacht und das Leben so, wie du es dir wünschst. Was also, wenn du die Tür fändest? Was, wenn du den Schlüssel hättest? Denn eins wissen wir: Dass das Unmögliche uns allen ein Mal passiert.”

Gemeinsam ist allen drei Gretas die Traurigkeit, gemeinsam in allen drei Leben ist das Personal – nur die Konstellationen unterscheiden sich. 1918 lebt Felix noch, doch Greta befürchtet, dass er sich durch die Hochzeit in ein unglückliches Leben drängen lässt. Sie fürchtet um ihren Bruder, der Deutscher ist und Repressalien der Amerikaner ausgesetzt ist. Sie vermisst Nathan, mit dem sie noch zusammen ist, der sich jedoch im Krieg befindet. Auch 1941 leidet Greta seit dem schweren Autounfall an einer depressiven Verstimmung.

Andrew Sean Greer erzählt in “Ein unmögliches Leben” über drei unterschiedliche Leben, die er in einer einzigen Figur vereint. Die Abschnitte – 1918, 1941 und 1985 – markieren wichtige historische Ereignisse, seien es die beiden Weltkriege, Pearl Harbor, die Spanische Grippe oder der Ausbruch der AIDS-Epidemie. Losgelöst von der großen Historie geht es darüber hinaus um Homosexualität und das Leben von schwulen Männern, 1918 und 1941 war es für Felix noch viel schwieriger, sich zu seiner Sexualität zu bekennen, die er nur unter dem Deckmantel einer bürgerlichen Identität ausüben kann. Es geht aber auch um Verlust und Trauer, um die Angst davor, Menschen, die einem wichtig sind, zu verlieren, Menschen loszulassen, die einem viel bedeuten. Es geht darum, wie man Beziehungen Bestand geben kann und wie zerbrechlich diese sind – ungeachtet wie gut man den Partner zu kennen glaubt.

“Ist es besser, von einem Tod zu hören oder dabei zu sein? Ich hatte beides erlebt, aber ich kann es euch auch nicht sagen. Einen Menschen in den eigenen Armen verschwinden zu sehen ist fast zu viel für das Leben, trifft ins Mark, aber davon zu hören ist wie erblinden: ins Leere greifen, taumeln, hoffen, die Wahrheit zu berühren. Unmöglich, unerträglich, was das Leben für jeden von uns bereithält.”

Zeitreiseromane sind kein neues Genre, Audrey Niffenger und zuletzt Kate Atinkson haben diesem Genre ihren Stempel aufgedrückt. Auch Andrew Sean Greer lässt seine Hauptfigur durch die Zeit reisen und ein unmögliches Leben führen: Greta Wells lebt ein dreigeteiltes Leben, dadurch erfahren wir von drei unterschiedlichen Leben, keines dieser drei konnte mir jedoch besonders nahe kommen. Sprachlich befindet sich der Roman auf einem hohen Niveau, sicherlich auch dank der wunderbaren Übersetzung von Uda Strätling. Vor allem die Beschreibungen New Yorks in unterschiedlichen Jahrzehnten konnte mich begeistern und verzaubern. Darüber hinaus muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass Andrew Sean Greer bei vielen Themen leider lediglich an der Oberfläche kratzt: die historischen Ereignisse, um die der Roman kreist, sind gewaltig, doch irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie dem Autor lediglich als eine Folie dienen, die nicht wirklich mit viel Inhalt gefüllt wird. Vieles bleibt unausgesprochen, vieles wird nur gestreift – die deutsche Herkunft des Zwillingspärchens, die AIDS-Epidemie, der Krieg.

“Ein unmögliches Leben” von Andrew Sean Greer ist ein Roman, der mich zwiegespalten zurücklässt: die Geschichte und die Sprache haben mich begeistern und bezaubern können, doch dahinter – hinter dieser schönen Oberfläche – bleibt es leider seltsam hohl und leer. Gelesen habe ich einen magischen Roman, der auf charmante Art und Weise der Frage, was wäre wenn, nachgeht, der mich leider dennoch nicht ganz überzeugen konnte. Eine weitere lesenswerte Besprechung findet sich übrigens bei Literatur und Feuilleton.

Wir Tiere – Justin Torres

Das Autorenbild von Justin Torres erinnert entfernt an Clemens Meyer, zumindest die tätowierten Arme. Der 1980 geborene Autor gilt als einer der interessantesten Stimmen der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er hat einen kunterbunten Lebenslauf und nicht nur als Lehrer für kreatives Schreiben gearbeitet, sondern auch als Landarbeiter, Hundeausführer und Buchhändler. “Wir Tiere” ist ein schmaler, aber eindrücklicher Debütroman, der weltweit begeisterte Kritiken erhalten hat. Peter Torberg hat den Roman ins Deutsche übertragen.

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“Wir waren sechs schnappende Hände, sechs trampelnde Füße; wir waren Brüder, Jungs, drei kleine Könige im Kampf um mehr.”

“Wir Tiere” ist ein schmales Büchlein; auf gerade einmal 170 Seiten erzählt Justin Torres die Geschichte von drei Brüdern. Der namenlose Erzähler wächst gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Manny und Joel auf. Ihre Eltern – der Vater ist Puerto Ricaner, die Mutter weiß – sind selbst noch Kinder, als sie schon eigene Kinder bekommen. Niemand hatte ihnen gesagt, dass dies passieren könnte. Sie wurden ins Leben der Erwachsenen gestoßen, als sie selbst noch lange nicht erwachsen waren. Die drei Brüder bewegen sich durch eine Kindheit, die weit ab der Norm liegt – es ist eine ungewöhnliche Kindheit, die geprägt ist von Armut und Gewalt, doch die drei wissen sich zu helfen: aus Müllsacken basteln sie Drachen; mit einem Gummihammer hauen sie auf eine Tomate ein. Paps und Ma schreien sich manchmal an, dann verstecken die drei sich – manchmal lieben sich die Eltern auch, dann schauen die Kinder leicht befremdet weg.

“Aber es gab auch Zeiten, ruhige Augenblicke, wenn unsere Mutter schlief, nachdem sie zwei Tage lang nicht geschlafen hatte und jedes Geräusch, jede knarzende Treppenstufe, jedes Türklappern, jedes unterdrückte Lachen, jede Stimme sie vielleicht aufschreckte, kristallklare Vormittage, wenn wir sie, diesen verwirrten Vogel von einer Frau, beschützen wollten, diese stolpernde Schwärmerin mit ihren Rückenschmerzen, ihrem Kopfweh und ihrer ganzen müden, müden Art, dieses entwurzelte Geschöpf aus Brooklyn, sie, die Tacheles mit einem redete, immer voller Tränen, wenn sie uns sagte, sie würde uns lieben, ihre verworrene Liebe, ihre bedürftige Liebe, ihre Wärme […].”

Das Haus der Familie pulsiert, trotz der widrigen Umstände ist die gegenseitige Wärme und Liebe spürbar. Doch neben all der Liebe füreinander, existiert auch eine dunkle Seite: die Eltern enttäuschen und verletzen sich gegenseitig, aber auch ihre Kinder. Mal verschwindet der Vater für mehrere Wochen, mal flüchtet die Mutter gemeinsam mit ihren drei Söhnen. Und doch: die Familie bleibt miteinander verbunden, als gäbe es irgendwo zwischen ihnen ein unsichtbares Band, das alle immer wieder zusammenführt. Gegen alle Enttäuschungen, gegen alle erlittenen Verletzungen.

“Wir schauten zu; sie sahen einander in die Augen, neckten und lachten; ihre Worte waren warm und weich, und wir schmiegten uns an die Sanftheit ihrer Unterhaltung. Wir alle waren zusammen im Bad, in diesem Augenblick, und nichts war falsch. Meine Brüder und ich waren sauber und satt und hatten keine Angst vor dem Großwerden.”

Die schrecklichste Szene des Romans ist ein Moment, in dem der Vater seinem Sohn das Schwimmen beibringen will und ihn in schwärzester Nacht im tiefen Wasser zurücklässt. Er lässt den Erzähler los und schwimmt davon. Ich habe selten zuvor etwas gelesen, das mich so intensiv berührt hat, wie dieser grausame Moment. In Szenen wie dieser zeigt Justin Torres vor allem auch literarisch, warum er zu den interessantesten Stimmen der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur gehört.

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“Wir schlugen immer weiter; wir durften sein, was wir waren, verängstigt, rachsüchtig – kleine Tiere, die sich an das krallten, was brauchten.”

Die drei Brüder – Manny, Joel und der namenlose Erzähler – sind eine Einheit, die in all dem Ungewissen, in dem sie aufwachsen, zusammenhält. Doch irgendwann wird das, was vorher eng gewesen war, auseinander gerissen. Es ist der Erzähler, der aus dem Gespann ausbricht – während seine älteren Brüder Gefahr laufen, von der Schule geworfen zu werden, ist der Erzähler ein wissbegieriger Schüler, der gerne lernt und Interesse an vielem hat. Er bricht aus seiner Familie aus, weil er einen Hang zur Sprache entwickelt – er führt Tagebuch, etwas, worauf seine Brüder angewidert und neidisch reagieren, aber irgendwie sind sie auch ein bisschen stolz. Diese Entwicklung des Erzählers scheint den Roman zu spalten und förmlich in zwei Teile zu teilen. Zuvor las sich “Wir Tiere” wie ein Coming of Age Roman über drei Brüder, die unter widrigen Umständen aufwachsen. Später scheint der Roman immer mehr zu einer Aufarbeitung der eigenen Geschichte von Justin Torres zu werden.

“Wir Tiere” ist ein wilder Roman. Justin Torres erzählt die intensive Geschichte einer Familie in all ihren Facetten: er erzählt von Liebe, Enttäuschungen und Verletzungen und davon, was passieren kann, wenn einer aus dem familiären Gefüge ausbricht. Ich habe “Wir Tiere” als einen zutiefst autobiographischen Roman gelesen; je autobiographischer er wurde, desto wilder und ungezügelter las sich auch der Text. Ich habe das Gefühl, mit Justin Torres eine außergewöhnliche literarische Stimme entdeckt zu haben und bin gespannt darauf, was wir von ihm in den nächsten Jahren noch lesen werden.

Der Liehaber meines Mannes – Bethan Roberts

Bethan Roberts wurde in Oxford geboren und lebt und arbeitet heutzutage in Brighton. Die Autorin war bereits vielfältig aktiv und hat unter anderem als Produktionsassistentin beim Fernsehen gearbeitet und einen Kurs in Creative Writing an der Chichester University gegeben. Im Antje Kunstmann Verlag sind bereits zwei Romane von ihr erschienen, “Stille Wasser” im Jahr 2008 und im darauf folgenden Jahr “Köchin für einen Sommer”. “Der Liebhaber meines Mannes” ist ihre neueste Veröffentlichung und in diesem Bücherfrühjahr erschienen.

Die Geschichte, die Bethan Roberts erzählt, spielt im Jahr 1999, in der englischen Küstenstadt Peacehaven. Dort leben Marion und Tom, seit vielen Jahren sind sie zusammen, doch schon lange haben sie sich voneinander entfremdet; jeder geht seinen eigenen Wegen nach. Wirklich zusammengehört haben sie eigentlich nie, denn zu viel hat ein Leben lang zwischen ihnen gestanden. Marion, die sich im Alter dazu entscheidet, Patrick bei sich aufzunehmen, schreibt ihre Lebensgeschichte nieder. Marion, Tom und Patrick – die drei waren eine zeitlang enger miteinander verbunden, als es ihnen lieb gewesen ist. Marion erzählt nicht nur ihre Geschichte, sondern auch die Geschichte der beiden Männer. Marion erzählt, um sich von einer Schuld zu befreien.

“Denn ich will alles aufschreiben, damit ich es richtig verstehe. Dies ist eine Art Geständnis und es ist wichtig, bis in die Einzelheiten genau zu sein.”

Alles fing an im Jahr 1957, zu einer Zeit, als homosexuelle Paare ihre Liebe zueinander noch lange nicht so frei ausleben konnten, wie dies heutzutage möglich ist. Einige Jahre zuvor, als Marion Tom zum ersten Mal begegnet, gehen beide noch zur Schule – sie sind vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Der gut aussehende Tom ist der Bruder von Marions bester Freundin, später gibt er ihr Schwimmunterricht. Die naive und unschuldige Marion verliebt sich trotz aller Warnhinweise in Tom, der ihr gegenüber freundlich aber zurückhaltend ist, auch körperlich ist er eher distanziert. Dennoch macht Tom, der als Polizist arbeitet, ihr einen Heiratsantrag. Während die Ehe für Marion das schönste Glück der Welt ist, ist sie für Tom ein Versteck, eine Flucht, denn seine wahren Gefühle gelten nicht seiner Frau, sondern einem Mann. Mit Patrick, dem intellektuellen Künstler, hat Tom eine leidenschaftliche Affäre. Zwischen Tom, Patrick und Marion entwickelt sich eine unheilvolle und für alle drei unerfüllte Dreiecksbeziehung. Bis einer von ihnen dies nicht mehr aushält und zu einer drastischen Methode greift, um sich aus dieser Verbindung zu befreien …

Die Erzählung setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: zum einen wird aus der Sicht von Marion erzählt, die sich 1999 dazu entscheidet, ihre Lebensbeichte auf Papier zu bringen, zum anderen fließen die Aufzeichnungen von Patrick mit in die Erzählung ein, der sein Leben lang ein Tagebuch geführt hat. Es ist vor allem der Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven, der den Roman zu einer äußerst lesenswerten Lektüre macht. 1999 ist Patrick, nachdem er bereits mehrere Schlaganfälle erlitten hat, ein Pflegefall. Sprechen ist für ihn beinahe unmöglich, er kann aber noch gut hören. Für Marion, die Patrick gegen den Willen ihres Mannes zu sich nach Hause holt, ist es die erste Wiederbegegnung mit Patrick nach Jahrzehnten des Schweigens. Nun pflegt sie diesen Mann, der der ehemalige Liebhaber ihres eigenen Ehemannes gewesen ist.

“Ich kann das alles tun, ohne dass meine Hände zittern, ohne dass ich den Kiefer mit solchem Ingrimm zusammenpresse, dass ich befürchte, ihn vielleicht nie mehr öffnen zu können.”

Bethan Roberts schreibt über die Liebe zwischen zwei Männern, über Homosexualität, die in den fünfziger Jahren in England noch unter Strafe stand und als “widernatürliche Praktik” bezeichnet wurde. Die Liebe zwischen Patrick und Tom ist unmöglich; zu der damaligen Zeit unauslebbar. Tom ist Polizist, bleibt er unverheiratet werden ihm Möglichkeiten zum Aufstieg verwehrt gibt sein Vorgesetzter ihm zu verstehen. Die damalige Gesellschaft, hat diejenigen, die sich getraut haben, ihre Leidenschaft auszuleben, zu Isolation, Angst und Selbsthass verurteilt.

“Konventionen, die Meinung anderer Leute, das Gesetz, alles erschien lachhaft gegen den Wunsch, das Verlangen, zu dem Geliebten zu kommen.”

Die Ehe ist für Tom ein Deckmantel, unter dem er weiter seine Leidenschaft für Patrick ausleben kann. Während Patrick sich bereit erklärt hat, seinen Liebhaber mit einer Frau zu teilen und ein bisschen von ihm zu behalten, ahnt Marion nichts von dem, was Tom heimlich treibt. Marion möchte nicht wahrhaben, dass der Mann, in den sie sich verliebt hat, anders als andere Männer sein könnte. Trotz der körperlichen Distanz zwischen ihnen schöpft sie lange keinerlei Verdacht. Diese Naivität und Unschuld erweckt beim Lesen beinahe schon einen schmerzhaft unbedarften Eindruck.

Bethan Roerts legt mit “Der Liebhaber meines Mannes” einen lesenswerten Roman vor, der vor allem aufgrund seiner Komposition und den unterschiedlichen Erzählperspektiven zu überzeugen weiß. Die Autorin erzählt die Geschichte von Marion, Tom und Patrick mit sehr viel Ruhe, Souveränität und Unaufgeregtheit, lässt es dabei aber auch nicht an Gefühlen und Emotionen fehlen. “Der Liebhaber meines Mannes” ist ein Liebesroman, der jedoch ganz ohne Kitsch und Gefühlsduselei auskommt. Stattdessen erzählt Bethan Roberts eine Geschichte dreier Menschen, die von großen Gefühlen, Verletzlichkeit und der Unmöglichkeit der Liebe geprägt ist. Eine großartige und wichtige Lektüre, die auf Zustände hinweist, die es zum Glück schon lange nicht mehr gibt, die es aber auch hoffentlich nie mehr wieder geben wird.

Die Welt auf dem Kopf – Milena Agus

Milena Agus, die in Genau geboren wurde, lebt heutzutage auf Sardinien und arbeitet als Lehrerin. Ihren ersten großen Erfolg als Schriftstellerin hatte sie mit ihrem Roman “Die Frau im Mond”, der ein internationaler Bestseller gewesen ist. “Die Welt auf dem Kopf” ist der neueste Roman der Autorin und wurde von Monika Köpfer übersetzt.

“Bevor ich die Signora von unten und den Signore von oben kennenlernte, interessierte ich mich nicht für das Alter. Meine Eltern kamen erst gar nicht dazu, alt zu werden; mein Vater nahm sich viel zu früh das Leben, und Mama wurde wieder zum Kind. Zu meinen Großeltern habe ich keinen Kontakt mehr, und die Pflegerin meiner Mutter ist ein junges Mädchen.”

In einem heruntergekommenen Viertel der Hafenstadt Cagliari auf Sardinien befindet sich ein ehemaliger Palazzo, der beinahe unberührt und rein zwischen den schmuddeligen Häusern erscheint. Mittlerweile ist das große Haus in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden, die von ganz unterschiedlichen Menschen bewohnt werden. In der Mitte, eingerahmt vom oberen und unteren Geschoss, lebt die Ich-Erzählerin des Romans, eine namenlose Literaturstudentin, die nach einer bewegten Kindheit dort endlich eine Heimat gefunden hat. Unter ihr bewohnt die Signora Anna und ihre Tochter die ehemalige Dienstbotenwohnung, die klein und dunkel ist. Um ihre Wohnung finanzieren zu können, geht Anna, die nicht mehr so ganz jung und bereits herzkrank ist, drei Tätigkeiten nach – das Geld reicht trotzdem hinten und vorne nicht aus. Ihre Tochter hat zwar studiert, ist aber arbeitslos und hat ihre ganz eigenen Probleme, denn sie kämpft mit der erdrückenden und krankhaften Angst, ihren Verlobten an eine andere zu verlieren. Ganz oben lebt in Saus und Braus das Ehepaar Johnson, beide sind alt und unendlich unglücklich miteinander. Ihre Beziehung erinnert an ein altes Haus, das zugig und kalt ist, man ist sich gegenseitig längst fremd geworden. Ab und an werden  die beiden von ihrem Sohn und Enkelkind besucht.

Als Mr. Johnson eine Haushaltshilfe sucht, wird er bei der Signora von unten fündig. Nach und nach lernen die Bewohner des Hauses sich gegenseitig kennen, freunden sich an, bauen Beziehungen zueinander auf. Es ist vor allem die Erzählerin des Romans, der diese Beziehungen viel bedeuten – die Bewohner des Hauses sind für sie wie eine Ersatzfamilie; ein Ersatz für eine Familie, die sie nie gehabt hat. Ihr Vater hat sich das Leben genommen und die Mutter hat darüber den Verstand verloren, so dass das Mädchen schon früh auf sich allein gestellt gewesen ist. Die Bewohner verbindet jedoch nicht nur eine ungewöhnliche Freundschaft, sondern sie teilen auch noch ganz andere Gefühle, Sorgen und Nöte miteinander und die Erzählerin muss erleben, dass auch die selbst auserwählte Familie nicht immer Bestand haben muss.

“Morgens ging ich zum Strand, und abends las ich Bücher mit Kinderreimen, die ich auswendig lernte, weil ich diese Welt liebte, in der alles auf dem Kopf stand und trotzdem alle glücklich waren.”

Mit “Die Welt auf dem Kopf” ist Milena Agus ein schmales aber lesenswertes Buch gelungen, das sich zwar schnell durchlesen lässt, das aber nach dem Lesen noch lange nachwirkt, da es den Leser mit vielen offenen Fragen entlässt. Der Titel des Romans schlägt sich in der Geschichte wieder, in der vieles auf dem Kopf steht: der berühmte Violinist Mr. Johnson fürchtet den Ruhm und entscheidet sich stattdessen für ein Leben, abseits des Rampenlichts – als Musiker auf einem Kreuzfahrtschiff. Glück und Zufriedenheit statt Reichtum und Ruhm – nicht nur in diesem Punkt steht die Welt im Roman von Milena Agus Kopf. Der Titel schlägt sich aber auch im Text selbst wieder, in dem Milena Agus für überraschende Wendungen sorgt und ihre Geschichte dabei auf den Kopf stellt.

199 Seiten schmal ist der Roman und doch bringt die Autorin eine Vielzahl an Themen in ihrem Text unter. Stellenweise hätte ich mir gewünscht, dass diese Themen – Homosexualität, Ehebruch, Eifersucht – mehr Raum erhalten hätten, statt nur kurz angerissen zu werden. Der Erzählton und Schreibstil des Romans sorgt für ein flottes und flüssiges Leseerlebnis, sorgt aber auch dafür, dass Milena Agus mit ihrem Text häufig lediglich an der Oberfläche kratzt, aber nicht den Blick dahinter wagt. Dieser Kritik gegenüber steht ein wunderbar flüssiger Erzählton, der mich beim Lesen verzaubert hat – ich habe den Text nicht nur gelesen, sondern hatte das Gefühl, selbst eine Bewohnerin und ein Teil des beschriebenen Haus zu sein.

Milena Agus ist mit “Die Welt auf dem Kopf” ein ambivalenter Roman gelungen – eine leichte Lektüre, die schnell gelesen ist, bei der vieles leider jedoch zu sehr an der Oberfläche bleibt. Die wunderschönen Worte und das gewagte literarische Experiment werden konterkariert mit seichten und stellenweise schwierigen Botschaften. Wenn man darüber hinwegsehen kann, dann lässt sich “Die Welt auf dem Kopf” wunderbar als wahres Wohlfühlbuch lesen, als kleines Abtauchen aus dem Alltag, als Seelenurlaub vom täglichen Stress, denn es entlässt den Leser mit einem Gefühl der Leichtigkeit und des Optimismus. Und all das, braucht man doch auch manchmal.

Warum glücklich statt einfach nur normal? – Jeanette Winterson

Jeanette Winterson wurde 1959 in Manchester geboren. Für ihre literarischen Veröffentlichungen wurde sie bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Whitbread Prize und dem John Llewellyn Prize. Heutzutage lebt sie als freie Schriftstellerin in London.

“Ich war sehr oft voller Wut und Verzweiflung. Ich war immer einsam. Trotz alledem bin ich und war ich verliebt in das Leben.”

“Warum glücklich statt einfach nur normal?” ist die Lebensgeschichte der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson, die bereits mit ihrem Debütroman “Orangen sind nicht die einzige Frucht”, der auch verfilmt wurde, einen großen Erfolg feierte. Ihre ungewöhnliche Kindheit war die Grundlage ihres literarischen Schaffens und in dem vorliegenden Werk kehrt Jeanette Winterson genau dahin zurück und erzählt  schonungslos und eindringlich davon.

“Wenn meine Mutter böse auf mich war, was häufig vorkam, sagte sie: ‘Der Teufel hat uns ans falsche Bettchen geführt.'” 

Bereits die Widmung des Buches weist auf die Ungewöhnlichkeit von Jeanette Wintersons Leben hin, denn sie widmet ihr Buch ihren drei Müttern: Constance Winterson, Ruth Rendell und Ann. Jeanette Winterson wurde als Baby adoptiert. Ihre Adoptivmutter nennt sie über das Buch hinweg an den meisten Stellen Mrs. Winterson oder Mrs. W, ein erster Hinweis auf die Distanz zwischen der Adoptivmutter und ihrer Tochter, die sich so lange Mrs. Winterson lebte, nicht auflösen sollte.

“Sie war ein überzogen depressiver Mensch; eine Frau, die einen Revolver in der Schublade mit den Putzlappen liegen hatte, und die dazugehörigen Kugeln in einer Dose Möbelpolitur. Eine Frau, die die ganze Nacht zum Kuchenbacken aufblieb, um nicht mit meinem Vater in einem Bett schlafen zu müssen. Eine Frau mit Prolaps, Schilddrüsenleiden, vergrößertem Herzen, offenem Bein und zwei Paar Zahnprothesen – matt für Werktage, glänzend für Sonn- und Feiertage.”

Jeanette Winterson wächst in komplizierten Familienverhältnissen auf, bei einer Familie, die so in ihren Mustern gefangen ist, dass da eigentlich gar kein Platz mehr für ein Kind ist. Sie wächst in einem Haushalt ohne Bücher auf, “Bücher waren in unserem Haus verboten” – das einzige Buch, das erlaubt war, war die Bibel, denn Mrs. Winterson war eine streng gläubige  Frau.

“Prosa und Gedichte sind wie Medikamente. Sie heilen den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet.”

Während Mrs. Winterson als scheinbar übermächtige Frau geschildert wird, wirkt der Adoptivvater daneben beinahe schon blass. Er leidet unter seiner Frau und flüchtet sich in die Arbeit, macht Überstunde um Überstunde, um bloß nicht zu Hause sein müssen. Erst spät im Leben, als Mrs. Winterson längst gestorben und der Vater ein zweites Mal verheiratet ist, nähern er und seine Tochter sich an, so nah, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

“Ich brauchte Wörter, denn unglückliche Familien sind Verschwörungen des Schweigens. Wer das Schweigen bricht, dem wird niemals vergeben. Er oder sie muss lernen, sich selbst zu vergeben.”

Es ist vor allem die Literatur, die Jeanette Winterson rettet: “Ich hatte niemanden, der mir half, aber dann half mir T.S. Eliot.” Sprache und Literatur wird für Jeanette Winterson zu einer Fundgrube und hilft ihr dabei, eine eigene Stimme zu finden und eine Idee davon zu entwickeln, dass es auch noch andere Lebenswelten gibt.

“Adoptierte Kinder erfinden sich selbst, es geht nicht anders; gleich zu Beginn unseres Lebens herrscht ein Mangel, eine Leere, ein Fragezeichen. Ein entscheidender Teil unserer Geschichte ist einfach ausgelöscht worden, und zwar gewaltsam wie eine Bombe, die in der Gebärmutter platzt.”

Das Gefühl, dass etwas fehlt, begleitete Jeanette Winterson ihr Leben lang und verlässt sie auch nicht, als sie schon lange eine erfolgreiche Schriftstellerin ist. Auch da noch scheitert sie daran, zu lieben und geliebt zu werden. Die Beziehungen von ihr gehen in die Brüche, wenn es zu nah wird und jedes Mal ereilt sie wieder das Gefühl, verlassen worden zu sein – nicht gewollt worden zu sein.

“Wie liebt man einen anderen Menschen? Wie traut man einem anderen Menschen zu, einen selbst zu lieben? Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, Liebe ist gleich Verlust. Warum ist das Maß der Liebe Verlust?”

Der erste Teil des Buches wird förmlich atemlos erzählt, in aneinander gereihten Fetzen und Fragmenten blickt Jeanette Winterson zurück auf ihre Kindheit und ihr Leben bei Mrs. Winterson. Mit sechzehn Jahren verlässt sie ihre Adoptiveltern, die sie vor die Wahl stellen, sich von ihrer Freundin zu trennen oder das Haus zu verlassen. Die Autorin entdeckt früh, dass sie lesbisch ist und Frauen liebt. 25 Jahre später setzt der Bericht wieder ein, das, was dazwischen liegt, bleibt eine weiße Leerstelle, eine Lücke, die nur mit Andeutungen gefüllt wird. 25 Jahre später wird die Autorin von ihrer damaligen Freundin verlassen, was sie in einen psychotischen Zustand führt, aus dem heraus sie beschließt, endlich ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen. In dem zweiten Teil des Buches beschreibt Jeanette Winterson einige ihrer dunkelsten Stunden, die sie beinahe in den Selbstmord geführt haben und das erste Aufeinandertreffen mit Ann, ihrer leiblichen Mutter.

In “Warum glücklich statt einfach nur normal?” erzählt Jeanette Winterson nicht nur die Geschichte ihrer Kindheit, sondern legt mit ihren Lebenserinnerungen ein Werk vor, in dem viele Themen angesprochen werden: es geht um Mutterliebe, um Schwierigkeiten von adoptierten Kindern, um eine Orientierungslosigkeit im Leben, wenn gleich zu Beginn die Liebe fehlt. Später geht es darum, zu sich selbst und seiner eigenen sexuellen Orientierung zu stehen, es geht um den Feminismus, um die Angst vor dem Verlassen werden. Aber in unsichtbaren Buchstaben, über dem Roman schwebend, steht für mein Empfinden vor allem die zentrale Aussage der Lebensbejahung. Jeanette Winterson wird mit Lebensbedingungen konfrontiert, die nicht einfach sind. Statt in einer liebevollen Familie aufzuwachsen, wird sie in den Kohlenkeller gesperrt. Ihr fehlt Wärme, Liebe, Geborgenheit und ihr fehlen Bücher. Doch diese Notlage macht sie auch erfinderisch und letztendlich zu einer erfolgreichen Schriftstellerin.

“Das einzig Gute daran, in einen Kohlenkeller gesperrt zu werden, ist, dass man zum Nachdenken kommt. Für sich gelesen ist das ein absurder Satz. Aber während ich zu verstehen versuche, wie das Leben funktioniert – und warum manche Leute mit den Widrigkeiten besser zurechtkommen als andere -, kehre ich immer wieder zu etwas zurück, das damit zu tun hat, das Leben zu bejahen, und das heißt Liebe zum Leben, egal wie unangemessen, und Liebe zu sich selbst, egal, wie man dieses Ziel erreicht. Nicht auf diese Ich-ich-ich-Art, die das Gegenteil von Leben und Liebe darstellt, sondern mit der Entschlossenheit, stromaufwärts zu schwimmen wie ein Lachs, egal, wie bewegt das Wasser ist, denn immerhin ist es der eigene Fluss …”

Es ist genau diese Einstellung, diese Bejahung des Lebens, die mein Herz beim Lesen schneller schlagen ließ und dazu führte, dass ich das Buch ähnlich atemlos las, wie es geschrieben wurde. “Warum glücklich statt einfach nur normal?” ist vieles, zu viel, um alles hier aufzählen und thematisieren zu können, aber es ist vor allem eines: ein Plädoyer für das Leben. Ein Plädoyer für die Liebe. Ein Plädoyer dafür, sich mit den Gegebenheiten anzufreunden und das Beste daraus zu machen. Und es ist ein Plädoyer für die Literatur, die Menschen manchmal retten und neu zusammenfügen kann. Ich glaube, dass das Buch für jeden, der es liest, etwas anderes sein und bedeuten kann, aber es wird für alle wohl ein großartiges und sehr persönliches Stück Literatur sein.

Wer sich einen Eindruck von dem Buch und der Autorin machen möchte, dem ist dieses Video empfohlen:

Des Fremden Kind – Alan Hollinghurst

Download (36)Alan Hollinghurst wurde 1954 in Stroud geboren, studierte in Oxford und arbeitete als Literaturkritiker für das “Times Literary Supplement”. Hollinghurst hat zahlreiche Preise erhalten, bekannt geworden ist er vor allem durch den Gewinn des Booker Prize für seinen Roman “Die Schönheitslinie”. Alan Hollinghurst lebt mittlerweile in England; “Des Fremden Kind” ist sein fünfter Roman.

“Er wollte Erinnerungen von ihr, aber er war noch zu jung, um zu wissen, dass Erinnerungen nur Erinnerungen von Erinnerungen waren. Frische Erinnerungen waren so selten wie Diamanten.”

In “Des Fremden Kind” erzählt Alan Hollinghurst eine Geschichte, die beinahe 100 Jahre umfasst und im Sommer 1913 beginnt. Die damals sechzehnjährige Daphne Sawle wartet aufgeregt darauf, dass in ihrem eintönigen Alltag endlich einmal etwas passiert. Ihr Bruder George bringt zum ersten Mal einen Freund und Kommilitonen aus Cambridge mit nach Hause: Cecil Valance, in Cambridge ein heimlicher Star und aufstrebender Dichter. Daphnes einziges Ziel für das Wochenende ist, Cecil zu beeindrucken und seine Aufmerksamkeit zu gewinnen – das gelingt ihr so gut, dass der junge Autor nicht nur ein Gedicht für sie schreibt, sondern dass sich ihr Leben nach diesem Wochenende für immer nachhaltig verändern wird.

Im Ersten Weltkrieg stirbt Cecil Valance, er hinterlässt das Gedicht, das er ursprünglich für Daphne geschrieben hat, das nach seinem Tod aber zu einem Symbol einer ganzen Generation wird. In den folgenden Jahrzehnten ranken sich Mythen und Gerüchte um das Leben und Werk des zurückgezogenen Dichters und ganz unterschiedliche Menschen begeben sich auf eine literarische Spurensuche.

“Manchmal überkam ihn wellenartig das Gefühl, das riesige unerforschte Terrain von Cecils Leben liege zum Greifen nahe und bleibe dennoch hartnäckig verborgen, wie eine einmalige Gelegenheit, die sofort vereitelt wurde.”

Im Vordergrund dieser Suche steht jedoch nicht nur das Werk von Cecil Valance, sondern vor allem auch sein Privatleben, seine Beziehungen und seine sexuelle Orientierung, denn Cecil Valance soll homosexuell gewesen sein. Homosexualität ist ein Thema, dem sich Alan Holinghurst in all seinen Romanen bisher gewidmet hat.

“Er selbst hatte das Gedicht gründlich satt, spürte dennoch gedämpfte Freude, dass es mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Er war angeödet und peinlich berührt von der Popularität der Verse; dass sie ein Geheimnis bargen, amüsierte ihn eher, und dass man dies niemals preisgeben durfte, beruhigte ihn auf traurige Weise. Manche Passagen, die Cecil ihm vorgelesen hatte, waren nicht veröffentlicht, nicht zur Veröffentlichung bestimmt und jetzt vermutlich für immer verloren. Das englische Idyll hatte seine geheimen Abschnitte, unzüchtige Figuren in Bäumen und Büschen …”

Als erster wagt sich sein ehemaliger Verleger an die Aufgabe, ein Porträt des Dichters zu veröffentlichen. Bei seiner Arbeit stößt er bei der Familie von Cecil Valance jedoch auf ein eisiges Schweigen. Erst als Paul Bryant, der Banker mit Leidenschaft für Literatur, sich für eine Biographie auf die Spuren des Dichters begibt, kommen Dinge ans Licht, über die jahrelang der Mantel des Vergessens gebreitet wurde.

“Ihr fiel wieder ein, was sie schon immer gewusst hatte, nämlich, dass diese Briefe niemals herausgegeben werden durften, auch wenn dieses Bewusstsein durch die kurzlebige Vorstellung, sich ihrer zu erleichtern, etwas abgeschwächt wurde.”

Alan Hollinghurst ist mit “Des Fremden Kind” eine großartige Geschichte einer fiktiven literarischen Biographie gelungen. Damit verknüpft werden spannende Fragen danach, wie sich Erinnerung konstruiert, wie Menschen über Jahrzehnte hinweg von anderen und in der Öffentlichkeit in Erinnerung behalten werden und wie sich das Ansehen und die Wahrnehmung von öffentlichen Personen im Laufe der Zeit wandeln und verändern kann. Der zeitliche Rahmen des Romans reicht von 1916 bis 2008. Diese breite Zeitspanne sorgt für ein umfangreiches Panorama, das mehrere historische Wendepunkt abdeckt. Neben der Historie war für mich aber besonders die Personengestaltung faszinierend: einige der beschriebenen Personen werden vom Leser über mehrere Jahrzehnte begleitet. Personen, die zu Beginn des Romans im Mittelpunkt stehen, verschwinden im Laufe der Geschichte immer stärker aus dem Fokus, andere rücken dafür plötzlich aus einer Nebenrolle in den Mittelpunkt. Auch wenn Cecil Valance im Ersten Weltkrieg im Kampfeinsatz fällt, steht der Krieg nicht unbedingt im Vordergrund der Geschichte, auch wenn es genau dieser Krieg ist, der für die aufkommende Popularität des Gedichts von Valance sorgt.

“Würde die Ära der Gerüchte bald von einem Zeitalter der Dokumentation abgelöst werden?”

Das ist die zentrale Frage des Romans, die förmlich über dem 700 Seiten starken Buch schwebt. Ist es überhaupt möglich das Leben eines Menschen für eine Biographie auf Papier zu bannen? Und kann es gelingen, dabei ein vollständiges Bild zu vermitteln? Wie kann man unterscheiden zwischen Erinnerung und Gerüchten, zwischen Wahrheit und Fiktion und welche Macht kann eine Biographie haben? Kann sie das Bild eines Menschen verändern? Neben diesen Fragen steht aber auch der Umgang mit Homosexualität im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt des Romans: wie frei konnten die Menschen damals mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen?

Alan Hollinghurst widmet seinen Roman dem Dichter Mick Imlah, der 2009 an einer schweren Erkrankung verstarb. In einem Interview erklärt Hollinghurst, wie es zu dieser Widmung kam und wie erschreckend sich in seinem Roman plötzlich Realität und Fiktion verbunden haben.

“It was very extraordinary because I designed the book long before he got ill,” he says, “and then the book was sort of about a poet dying – woven through with themes of shared interest, Tennyson and so forth.”

Der Titel des Romans – “Des Fremden Kind” – entstammt einem Gedicht von Alfred Lord Tennyson: “Bis Garten, Mondlicht, Teich und Wind / Sanft in Verwandlung gehen ein / Und Jahr um Jahr der ganze Hain / Vertrauter wird des Fremden Kind”.

Dem britischen Schriftsteller Alan Hollinghurst ist mit “Des Fremden Kind” ein faszinierender und großartiger Roman gelungen, der auf knapp 700 Seiten ein breites thematisches Spektrum abdeckt. Es geht um die Biographie und die Erinnerung, aber auch um Homosexualität und das Leben mit Geheimnissen. Alan Hollinghurst erweist sich dabei nicht nur als herausragender Erzähler, sondern vor allem auch als großartiger Komponist, der alle einzelnen Erzählfäden souverän in den Händen hält. Die literarische Spurensuche auf den Fersen des Dichters Cecil Valance ist voller Spannung, wodurch der Roman, trotz seiner Dicke, flüssig und gut zu lesen ist.

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