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Machandel – Regina Scheer

Machandel ist das Romandebüt von Regina Scheer, in dem sie nicht nur einen Teil der ostdeutschen Geschichte wieder zum Leben erweckt, sondern gleichzeitig auch eine weitverzweigte Familiengeschichte erzählt. Eine Familiengeschichte voller Träume und Hoffnungen, voll von Freundschaft und Verrat.

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Man muss nicht in einer großen Stadt leben. Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen.

Regina Scheer macht einen verwunschenen Sommerkaten und ein kleines mecklenburgisches Dorf zum Zentrum ihres Romans. Das Dorf ist fiktiv, liegt nur zwei Stunden von Berlin entfernt in nördlicher Richtung und trägt den Namen Machandel. Ein Name, der nicht zufällig gewählt wurde, sondern auf die uralte Geschichte des Machandelbooms zurückgeht. In den unterschiedlichen Kulturkreisen wird diese Geschichte immer wieder anders erzählt: in dem Märchen der Brüder Grimm begräbt Marlene unter dem Machandelbaum die Knochen ihres Bruders, der anschließend in der Gestalt eines Vogels wieder aufersteht und davon singt, dass er ermordet wurde – durch die eigene Stiefmutter. Das Märchen bildet das Fundament des Romans – im übertragenen Sinne sagt es, dass man die Erinnerung zulassen muss, da in ihr das Geheimnis der Vergebung und Erlösung liegt. Nur wer sich erinnert, dem kann verziehen werden.

Früher. Ich bin schon wie die alten Frauen, die in dem Dorf wohnten, als wir hierherkamen; sie lebten mit Menschen, die nicht mehr da waren, das längst Vergangene gehörte zu ihrer Gegenwart. So geht es mir auch, wenn ich an meinen Katen denke, ein schönes Haus mit einem Badezimmer und großen grünen Kachelöfen, die geölten Fenster aus Lärchenholz, das Fachwerk innen und außen mit Lehm verputzt.

Doch worum geht es eigentlich? Machandel ist ein so weit verzweigter Familienroman und ein so umfassendes Zeitmosaik – Regina Scheers Erzählung umfasst mehr als neunzig Jahre -, dass es nicht ganz leicht fällt, die Handlung zusammenzufassen. 1985 begleitet Clara ihren Bruder Jan in das mecklenburgische Dorf Machandel. Der vierzehn Jahre ältere Jan steht kurz vor der Ausreise aus der DDR, er wurde im Schloss von Machandel geboren und ist in diesem märchenhaften Dorf aufgewachsen. Doch mittlerweile möchte er nur noch weg. Als Clara mit Jan und ihrem Mann damals nach Machandel reiste, entdeckte sie dort einen Sommerkaten. Einen verwunschenen Ort – scheinbar perfekt für die kleine Familie. Ihren Bruder verliert sie – er flüchtet aus der Republik, doch dafür erhält sie einen Platz im Ort seiner Kindheit. Der Sommerkaten wird von Clara zu einem Wochenendhaus hergerichtet, der ihr und ihrer Familie immer wieder Zuflucht gewährt. Schon ihr Vater, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, ist Jahrzehnte zuvor nach Machandel geflüchtet. Der flüchtende Vater, der damals Kommunist gewesen ist, wird nach dem Krieg zum Staatsdiener. Aus dem Kommunisten wird ein erfolgreicher Minister, doch seine eigenen Kinder wenden sich ab: Jan stellt einen Ausreiseantrag und Clara schließt sich Bürgerbewegungen an. Die Mutter verfällt dem Alkohol.

Aber jetzt ahnte ich, dass ich hier an diesem Ort etwas finden könnte, was wie ein verlorenes Verbindungsstück zu ihm wäre. Und vielleicht auch zu unseren Eltern. 

Regina Scheer lässt ihre Geschichte abwechselnd von fünf unterschiedlichen Stimmen erzählen: drei Männer und zwei Frauen kommen zu Wort und als Leser wird man Teil ihrer Lebensgeschichten. Machandel wird dabei zu einem Knotenpunkt. Eigentlich reist Clara in das Wochenendhäuschen, um an ihrer Dissertation zu arbeiten (über das Märchen Von dem Machandelbloom), doch stattdessen streift sie immer wieder durch das Dorf – es ist ein Streifzug durch die Vergangenheit, ein Streifzug auf der Suche nach Antworten. Ähnlich wie Marlene, die die Knochen ihres Bruders aufsammelt, um sich an ihn zu erinnern und ihn damit wieder zum Leben erweckt, sammelt auch Clara Erinnerungen auf: es sind Erinnerungssplitter, Erinnerungsbilder Erinnerungstrümmer, Erinnerungsbruchstücke. Sie erinnert an die Flüchtlinge aus dem Osten, die nach Machandel kamen – in der Hoffnung dort Unterschlupf zu finden. Sie erinnert an eine russische Zwangsarbeiterin, die im Dorf ein neues Zuhause fand. Sie erinnert an ein junges Mädchen, das in eine Anstalt eingeliefert wurde. Sie erinnert an ihren Vater, der schwerverletzt im Schloss von Machandel gesund gepflegt wurde und sich dabei verliebte.

Ich spürte und wusste allmählich, dass an diesem Ort, in unserem eigenen Haus, etwas geschehen war, das nicht vergessen war, das sich jederzeit plötzlich zeigen konnte, als ein Schmerz in Nataljas Gesicht, als ein Verstummen im Gespräch der Frauen am Bus, in der Geste, mit der sie sich kaum merklich von Wilhelm abwandten. Dieses Ungesagte verwob sich für mich mit dem Märchen vom Machandelbloom, es machte mich traurig. Dennoch fuhren wir so oft wie möglich nach Machandel, als würden wir nur an diesem Ort festhalten können, was uns allmählich verloren ging.

Regina Scheer legt mit Machandel einen Roman vor, der einem Kaleidoskop gleicht – einem Mosaik. Es ist kaum möglich, dieses märchenhafte Panorama aus einzelnen Schicksalen, geschichtlichen Entwicklungen und sozialen Strömungen zusammenzufassen. Es ist erst recht nicht möglich, diesem Panorama auch noch gerecht zu werden. Dem Leser werden ganz viele unterschiedliche Stimmen und Töne geboten, die allesamt von Glaubwürdigkeit und Authentizität getragen werden. Auch von ganz unterschiedlichen Schicksalen wird erzählt: manche der Figuren überstehen alles unbeschadet, andere wiederum nehmen Schaden – manchmal sogar schweren Schaden. Kein Schicksal hat mich unberührt gelassen, denn Regina Scheer erzählt mit so viel Wärme und Zuneigung von ihren Figuren, dass ich mich als Leserin dem nicht entziehen konnte. Geschichte um Geschichte verbirgt sich in diesem großartigen Roman, der dennoch nie überladen wirkt: die Erinnerungsbilder fügen sich Seite für Seite zu einem Ganzen, bis deutlich wird, wie wichtig es ist, Erinnerungen zu bewahren, um weiterleben zu können. Machandel erzählt von der Kraft der Erinnerung und der Einsamkeit im Exil des Vergessens. Von geplatzten Träumen, zerstörten Hoffnungen, von politischen Gräueltaten und schweren Schicksalsschlägen. Der Roman erzählt aber auch von drei starken Frauen, von Liebe und von grenzenloser Hilfsbereitschaft.

Machandel ist ein großartiges und wichtiges Buch, dem ich so viele Leser und Leserinnen wie möglich wünsche.

5 Fragen an Katharina Hartwell!

Katharina HartwellKatharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren. Nach ihrem Abitur folgte ein Studium der Anglistik und Amerikanistik, das sie mit Auszeichnung abschloss. Im Anschluss ging sie an das Deutsche Literaturinstitut nach Leipzig, wo sie seit 2010 studiert. Bisher erschien von der jungen Autorin, die bereits mit Preis und Stipendium dekoriert ist, der Erzählungsband “Im Eisluftballon”. “Das fremde Meer”, dass in diesem Büchersommer im Berlin Verlag erschienen ist, ist ihr erster Roman.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Das Ziel, den Wunsch, das Vorhaben gibt es schon so lange, dass ich zu dem „Warum“ gar nicht mehr richtig vordringen kann. Ich kann mir den Wunsch nicht als etwas von mir Getrenntes ansehen und dann etwas darüber sagen. Also: ich will schreiben, weil ich ich bin. Oder. Ich bin ich, weil ich schreiben will.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Die angloamerikanischen Schriftsteller der Gegenwart: Siri Hustvedt, Jonathan Coe, Michael Cunningham, John Irving, Kate Atkinson, Margaret Atwood. Und Patricia Duncker, über die ich meine Magisterarbeit geschrieben habe.

Sicher auch Haruki Murakami.

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Überall, wo kein Internet ist. Am liebsten draußen. Im Park, auf dem Balkon, am See, am Fluss, am Meer. ICE ist aber auch o.k.

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„In one Person“ von John Irving

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Ich bin ja selbst noch eine junge Schriftstellerin … Vielleicht ein etwas für das Schreiben umfangreicher Romane: Routine und Arbeitsstrategien. Am besten eine Zeitlang jeden Tag in die Bibliothek gehen und den Text nach bestimmten Mustern immer wieder durcharbeiten. Etwa: Ausdrucken, handschriftliche Korrektur, abtippen, ausdrucken, handschriftliche Korrektur, abtippen … ein, zwei Monate ruhen lassen und wieder von vorn.

Herzlichen Dank an die Autorin für das Beantworten meiner 5 Fragen

Das fremde Meer – Katharina Hartwell

Katharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren. Nach ihrem Abitur folgte ein Studium der Anglistik und Amerikanistik, das sie mit Auszeichnung abschloss. Im Anschluss ging sie an das Deutsche Literaturinstitut nach Leipzig, wo sie seit 2010 studiert. Bisher erschien von der jungen Autorin, die bereits mit Preis und Stipendium dekoriert ist, der Erzählungsband “Im Eisluftballon”. “Das fremde Meer”, dass in diesem Büchersommer im Berlin Verlag erschienen ist, ist ihr erster Roman.

“Unsere Geschichten sind auch die Geschichten unserer Eltern, die Geschichten unserer Großeltern. Selbst wenn wir keine Väter haben oder keine Großeltern, keine Schwestern und keine Brüder, sind die Geschichten dieser Abwesenden auch und vor allem unsere Geschichten.”

Marie und Jan. Jan und Marie. Die Geschichte der beiden bildet die Rahmenerzählung des Romans. Marie ist ein ängstlicher Mensch und gehört zu denjenigen, “die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen”. Sie hat Angst vor Katastrophen, doch glaubt, sich auf sie vorbereiten zu können. Unter ihrem Bett liegt nicht nur Pfefferspray, sondern auch ein Brotmesser und doch ist es die Furcht vor Einbrechern, die Marie nachts wach liegen lässt. Marie ist eine Außenseiterin, nach dem Umzug vom Dorf in die Stadt findet sie keinen Anschluss und keine Freunde. Sie studiert, schreibt ihre Magisterarbeit, beginnt eine Promotion – und doch bleibt sie bei allem, was sie tut, alleine.  Marie erwartet nicht mehr viel vom Leben, doch statt des großen Zusammenbruchs, der im Dunkeln darauf lauert, Marie endlich in die Finger zu kriegen, kommt Jan. Es ist ein Zufall, es ist der Sturz aus einem Paternoster in der Bibliothek, der beide zusammenführen sollte. Doch was zusammengeführt wird, kann auch wieder getrennt werden, denn Marie weiß: “Man kann alles trennen, teilen und spalten, sogar ein Atom.” Die Angst vor Einbrechern wird abgelöst von der Angst, Jan wieder verlieren zu können.

“Ich wünschte, du wärest so klein und leicht, dass ich dich zusammenfalten und bei mir tragen könnte. Ich wüsste sicher, dass du gut verwahrt bist und geschützt vor der Welt. Den Schlag deines stecknadelgroßen Herzens, ich hätte ihn immer im Ohr. Wir wären nie getrennt.”

Marie und Jan. Jan und Marie. Jan, der so anders ist als Marie, so still, so schweigsam und unscheinbar, so, als könnte er jeden Moment verschwinden und sich in Luft auflösen.

“Ich will nicht mit jemandem zusammen sein, den ich nicht kenne, sage ich einmal und halte vor Schreck den Atem an, denn ich möchte ja mit niemandem anderen als dir zusammen sein.”

Von Jan und von der Beziehung zu ihm, kann Marie jedoch nur stückchenweise erzählen, es sind kleine Bröckchen und Häppchen, die dem Leser entgegenstolpern.  Erst am Ende des Buches findet sie Worte für ihre gemeinsame Geschichte.

“Heute Nacht nehme ich dich mit auf eine Reise, auf hundert Reisen nehme ich dich mit, und vielleicht sind wir dorthin unterwegs, wo du noch nie hinwolltest, wo keiner zu Hause sein möchte.”

Es ist die Geschichte ihrer Beziehung, für die Marie nur schwer Worte findet, deshalb erzählt sie sie in neun Varianten. Neunmal von vorne, neunmal wieder auf null, neunmal Neuanfang und Wiederbeginn, neunmal Marie und Jan, – bevor sie in der zehnten Geschichte Worte findet für das, was passiert ist. Es sind neun Märchen, in denen die Motive ihrer Beziehung aufgegriffen, verwandelt, weitererzählt werden. Es sind neun Märchen, die die Geschichte von Jan und Marie erzählen, auch wenn die Figuren Moira und Jonas heißen, Miranda und Julian, Yann und Milan, Mare und Jasper, Jonathan und Muriel.

“Das alles, verstehe ich, wächst aus dieser unerzählten Geschichte, diesem mir unbekannten Verlust, der dich fern von mir hält und mich dir nah sein lässt.”

Die Geschichten führen den Leser in die Wechselstadt, in der ganze Gebäude an andere Plätze gebeamt werden können, doch niemand weiß, was mit den Menschen in diesen Gebäuden geschieht. In die Salpêterie und in den Winterwald, in dem das ganze Jahr über Winter ist. Zum fremden Meer, das Menschen verschluckt und nie wieder hergibt.

“In dem fremden Meer gibt es bloß das Fremde. Das, was keinen Namen hat und nur des Nachts und nur im Dunkeln aus den Fluten steigt.”

Der Leser wird an Bord eines Luftschiffts geführt und auf das Deck der Evicon 23, einem Schiff, auf dem es keine Menschen gibt, sondern nur noch körperlose Hüllen. Und in einen Zirkus, in dem der Ghostboy auftritt und Abend für Abend zum Vergnügen der Zuschauer stirbt. Die Geschichten sind fantastisch, doch in all ihrer Fantastik greifen sie Bilder und Motive der Rahmengeschichte auf, der Geschichte von Jan und Marie, um die herum sich das ganze Buch spinnt. Es ist eine Liebesgeschichte, doch fast jede Liebesgeschichte hat auch ihre Schattenseiten.

“Und dann, die Liebe. […] Nichts daran ist nett, daran ist nichts Pralinen und Rosen und zuversichtliches Händchenhalten. Falls rote Herzen, dann nur solche, die zu schnell schlagen und zu laut, solche, die uns von innen her zu sprengen drohen, über deren Klopfen und Pochen wir uns selbst nicht mehr denken hören können.”

Ich könnte immer so weiter schreiben und schreiben über diese wunderbare Geschichte, über diese wunderschön erzählten neun Geschichten, zu denen zwangsläufig noch eine zehnte gehören muss. Katharina Hartwell erzählt ihren Roman mit ganz leisen und zarten Tönen und schreibt sich mit ihren Worten direkt hinein in das Herz des Lesers.

“Das Fremde Meer” ist einer der ungewöhnlichsten Romane, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Ein Stück weit verweigert er sich jeglicher Kategorisierung. Die Geschichten sind fantastisch, die Liebe zwischen Jan und Marie ist es jedoch nicht – es gibt sie wirklich. So gehört das Buch zu einem der großartigsten und ungewöhnlichsten Liebesromanen, den ich seit langem gelesen habe. Bei all seiner Ungewöhnlichkeit ist der Roman vor allen Dingen auch mutig, denn die Konstruktion des Buches ist sicherlich ein Exemperiment, ein Wagnis, das auch scheitern kann. In diesem Fall kann man von einem Scheitern jedoch nicht sprechen, denn dieser Roman ist herrlich erfrischend, weil so anders, als vieles andere, was man heutzutage in den Buchhandlungen ausliegen sieht.  Katharina Hartwell ist mit ihrem Debütroman ein tragischer Roman gelungen, den ich mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augenwinkeln zuklappe, in dem ich mich jedoch auch warm und geborgen gefühlt habe.

Das Buch liegt immer noch hier auf meinem Nachttisch, die zahllosen Post-its werfen einen bunten Schatten. Ich nehme es immer noch gerne in die Hand, blättere hindurch und versinke in der Welt der Worte. Es sind wunderschöne, zarte und hochpoetische Worte. Es sind Worte, die ich am liebsten einstecken und unter meiner Jacke verschwinden lassen würde, um sie bei mir tragen zu können, so wie es an einer Stelle im Buch, einer der Figuren von Katharina Hartwell formuliert:

“[…] und möchte jedes einzelne der acht Wörter einstecken, möchte es unter seiner Jacke verschwinden lassen und dicht bei sich tragen, um es jederzeit wieder hervorholen zu können, um es an sein Ohr zu halten und sich die Worte durch den Schädel rauschen zu lassen, so lange und so oft, bis er ihren Klang immer in sich trägt.”

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