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Mein weißer Frieden – Marica Bodrožić

Mit Mein weißer Frieden legt Marica Bodrožić einen autobiographischen Reisebericht vor. Es ist ein Reisebericht, der einer Spurensuche gleicht, bei der es um die ganz großen Fragen des Lebens geht: nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um die Frage, wie wir unser eigenes Leben eigentlich gestalten wollen.

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Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert.

In all ihren vorangegangenen Romanen hat sich Marica Bodrožić immer wieder und auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt, mit dem Gefühl von Heimat, mit der Aneignung einer neuen Sprache. Es gibt einen Bruch in ihrem Leben, um den bisher alle ihre Texte kreisten: 1973 wurde die Autorin in Dalmatien geboren, 1983 zog es sie und ihre Familie nach Deutschland. Den Krieg, der in den neunziger Jahren in ihrer alten Heimat ausbrach, erlebte sie nur aus der Ferne mit – in der neuen Heimat lebend, in einer neuen Sprache beheimatet. Mein weißer Frieden ist die autobiographische Annäherung an diesen Krieg, aber auch an die Frage, wie man ihn damals hätte verhindern können und wie man Kriege in Zukunft verhindern kann.

Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin.

Den Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat Marica Bodrožić aus der Ferne miterleben müssen, doch sie ist anschließend immer wieder dorthin zurückgereist, wo sie aufgewachsen ist. In den europäischen Süden, dort wo man freien Blick auf all die glücksbringenden Sterne am Himmel hat. Sie reist zurück zu den Verwandten, die dort geblieben sind. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gibt es kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form vom Krieg betroffen ist. Es gibt kaum Eltern, die ihr Kind nicht in den Krieg schicken mussten, es gibt kaum Eltern, die ein unversehrtes Kind zurückerhalten haben. Der Krieg hat nicht nur die Dörfer und Städte zerstört, sondern auch Krater in die Familien gerissen.

Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unserer wertvollen Lebenszeit verschwenden wir darauf, Krieg zu führen? Krieg in Gedanken. Krieg in Sätzen. Krieg in Worten. Alle Kriege beginnen in Gedanken und münden in der Syntac, im reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma.

Marica Bodrožić reist auch zu ihrer Tante Anastazija, deren Sohn sich nach dem Krieg im Wald erhängt hat. Die zehn anderen Cousins haben den Krieg überlebt, sind scheinbar gesund daraus hervorgegangen. Doch wird man das, was man während eines Krieges erlebt, überhaupt jemals wieder los? Wer kann einen darauf vorbereiten, töten zu müssen, um nicht selbst getötet zu werden? Kann man auf so etwas überhaupt vorbereitet werden und kann man solche Erlebnisse unbeschadet überstehen? Es gibt kaum psychologische Unterstützung für die Kriegsheimkehrer. Über den Selbstmord von Filip wird ein Mantel des Schweigens gebreitet. Wenn man den Onkel fragt, sagt der, dass Filip mit seiner Tat Schande gebracht hat über die, die er zurückgelassen hat. 

Mir wird auf meinen Wanderungen durch das dalmatische Hinterland klar, dass ich seit Anfang der neunziger Jahre immerzu von Schicksalen und Literaturen jener Menschen umgeben bin, die alles verloren haben, die fortgehen mussten oder vertrieben wurden, im Krieg waren, später auf der Flucht, am Körper versehrt und im Geist unversehrt oder umgekehrt (und oft beides zusammen), sie lernten andere Sprachen, tauchten unter, blieben für immer Namenlose im Anderswo.

Mein weißer Frieden setzt sich zusammen aus Impressionen dieser zahlreichen Reisen, aus Eindrücken, Gesprächen, Begegnungen und Gedanken. Marica Bodrožić legt kein politisches Sachbuch vor, sondern einen autobiographischen Reisebericht, der gespeist ist aus einem ganz und gar persönlichen Zugang. Sie reist nach Split, nach Sarajewo, nach Mostar und auf die kroatischen Inseln. Dabei erzählt die Autorin nicht nur in ihrer ihr eigenen Poetik von einer Reise in ein Land, das vom Krieg zerstört wurde, sondern auch von einer Reise zu sich selbst. In Mein weißer Frieden geht es vordergründig nicht unbedingt um Daten und harte politische Fakten, sondern um einen persönlichen Blick auf die kaum zu begreifenden Folgen eines jahrelangen Krieges. Es ist nicht nur ein persönlicher Blick, sondern auch ein offener, ein unverstellter. Es ist ein fragender Blick: wie können scheinbar normale Menschen plötzlich in einen Krieg ziehen? Wie kann ein zivilisiertes Land in Barbarei versinken? Wie ist ein solcher Krieg zu begreifen? Wie ist so viel Grausamkeit überhaupt zu verstehen? Und wie kann ein solcher Krieg verhindert werden? Auf der Suche nach Antworten greift Marica Bodrožić immer wieder auf die Literatur zurück und zitiert Martin Buber, Erich Fromm, Imre Kertész, Ruth Klüger, Hans Keilson oder auch Stefan Zweig.

Auf meiner Reise durch Bosnien und Dalmatien sind mir unzählige Menschen begegnet. Einbeinige unter mediterranen grünen Palmen, Kriegsversehrte, denen man ein verrutschtes Gehirn nachsagte, Erinnerungstöter, die alles in sich auslöschen mussten, damit sie in den Krieg ziehen konnten. Die unterschiedlichsten Tonarten des Tötens klingen in meiner Reiseluft nach. Ich habe gelernt, dass man Gedächtnisse und Menschen gleichermaßen töten kann. Was ist die Aufgabe der Erinnerung hier? Sie ist das Gespräch mit meinem inneren Selbst. In seinem Kern lebt mein weißer Frieden, den es ohne Bewusstsein nicht geben kann. Denn kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen. Er hinterlässt ein Erbe, dunkle Gaben, die wie eine lauernde Krankheit in den Geschichtern, Geschichten, Körpern, Sätzen und der Vorstellungskraft der Menschen weiterleben.

Angesichts der momentanen Weltlage, die durch Kriege an ganz unterschiedlichen Orten geprägt ist, ist dieses Buch von Marica Bodrožić aktueller und wichtiger denn je. Eine politische Lösung für Kriege und Konflikte findet sich auch in Mein weißer Frieden nicht, es ist wohl auch kaum möglich, ein Rezept dagegen zu finden. Dafür legt Marica Bodrožić eine poetische und lesenswerte Auseinandersetzung mit der Frage vor, wie wir als Einzelner und als Gesellschaft friedlich miteinander leben können und zeigt auf, dass man sich auf der Suche nach Antworten auch immer wieder der Literatur zuwenden kann.

Marica Bodrožić: Mein weißer Frieden. Roman. Luchterhand Verlag, München 2014. 336 Seiten. €19,99. Auf diesem Blog gab es bereits ein Interview mit der Autorin und eine Besprechung ihres Romans kirschholz und alte gefühle.

Wiederlesen im Herbst …

Ich freue mich immer wieder darüber, neue Autoren und Autorinnen zu entdecken, spannende und ungewöhnliche Debüts auszugraben und mich an neuen Stimmen zu erfreuen. Ich freue mich aber genauso darüber, auf bereits bekannte Stimmen zu stoßen und Autoren und Autorinnen, die ich in der Vergangenheit zu schätzen gelernt habe, wieder zu begegnen.

Bei lausigem Wetter und einer schönen Tasse Tee habe ich mich aufgemacht auf eine Reise in die Herbstvorschauen, um euch all jene Titel vorzustellen, die in mir beim Blättern ein Gefühl der Bekanntheit und des Wiedererkennens geweckt haben. Diese alten Bekannten erwarte ich mit Spannung und in der Hoffnung, dass mich die Autoren und Autorinnen erneut packen, begeistern, unterhalten oder berühren können – so, wie es ihnen schon zuvor gelungen ist. Was ich schon jetzt wage zu prophezeien ist die Aussicht, dass wir uns auf diesen literarischen Herbst freuen können …


 

Wiederlesen alter Bekannter

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1. Rocko Schamoni, Fünf Löcher im Himmel (Piper Verlag) – 2. Marica Bodrožić, Mein weißer Frieden (Luchterhand Verlag) – 3. James Salter, Jäger (Berlin Verlag)

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1. Ulla Hahn, Spiel der Zeit (DVA) – 2. Stephan Thome, Gegenspiel (Suhrkamp) – 3. Roberto Bolaño, Mörderische Huren (Hanser Verlag)

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1. Bill Clegg, Neunzig Tage. Eine Rückkehr ins Leben (Fischer Verlag) – 2. Roman Ehrlich, Urwaldgäste (DuMont) – 3. Peter Stamm, Der Lauf der Dinge (Fischer Verlag)

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1. John Burnside, Haus der Stummen (Knaus Verlag) – 2. Richard Powers, ORFEO (Fischer Verlag) – 3. Charles Lewinsky, Kastelau (Nagel & Kimche)

Collage 51. Monika Held, Trümmergöre (Eichborn) – 2. Dave Eggers, Der Circle (Kiepenheuer & Witsch) – 3. Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden (Kiepenheuer & Witsch)

 

Marica Bodrožić im Gespräch!

© Peter von Felbert

© Peter von Felbert

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.

Erinnerungen und Gedächtnis – das sind zwei Themen, die in Ihrem neuen Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ besonders im Mittelpunkt stehen. Warum war es Ihnen wichtig, darüber zu schreiben?

Ohne Erinnerung gibt es keine Autonomie, kein selbständiges Leben und ohne die Arbeit des Gedächtnisses keine Möglichkeit, dem eigenen Selbst in Würde zu begegnen. Dazu gehört auch das Vergessen. Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen und die daraus entstehende Kontinuität fasziniert mich am meisten.

Was bedeutet für Sie persönlich Erinnerung?

Ich kann Erinnerung nicht unpersönlich denken. Aber sie ist mir nicht nur in meinem eigenen Leben und Schreiben wichtig, auch sonst, als Phänomen des menschlichen Geistes übt sie eine große Anziehungskraft auf mich aus. Manchmal träume ich von einem überplanetarischen Gedächtnis und wünsche mir, mit meinem Kopf das Licht der Plejaden zu verstehen oder mittels eines metaphysischen Tunnels ins Alte Griechenland mit meinen Synapsen zu reisen und dort alles von meinem Schreibtisch aus wahrzunehmen.

Aber ganz konkret und besonders findig sind die Überschreibungen, denen wir ausgesetzt sind, sie sind sehr aussagekräftig, die Lücken, die Bilder, die durch die Prozesse, die etwa Dauer und Zeit bewirken, dann neu entstehen. Jeder Mensch hat diese Lücken, diese Stolpersteine und es macht einen Unterschied, wann wir uns an etwas erinnern, ob wir das mit 20 oder 40 oder im hohen Alter tun. Keiner von uns teilt die Erinnerung mit einem anderen Wesen. Jeder erinnert sich für sich selbst. Das ist schon eine kleine Erzählung mit großer Wirkung, mit unabsehbaren Folgen – zum Beispiel in Beziehungen zwischen Geschwistern und Liebenden.

Wie bewahren Sie Erinnerungen auf? Tragen Sie die Erinnerungen an die Vergangenheit – sinnbildlich gesprochen – im Herzen, oder sammeln Sie gerne “Souvenirs”, um sich an Vergangenes zu erinnern?

Die Erinnerungen bewahren mich, sie beschriften und bebildern mich. Ich selbst sammle keine Souvenirs und habe auch nichts übrig für sentimentales Dingwerk. Was mich interessiert, ist der menschliche Geist. Dinge lenken von dieser Dimension des Inneren eher ab. Aber sie können selbstverständlich sehr viel auslösen. Nur sind sie für mich keine Wegmarken. Ich hebe sie nicht auf.  Im Gegenteil, vieles entsorge ich immer wieder ganz bewusst und verabschiede mich auch gerne. Ohnehin verlieren sie von selbst ihre Bedeutung und machen  auf Dauer melancholisch. Dies verschafft nicht unbedingt einen klaren Blick und ist im Schreiben hinderlich. Das hat damit zu tun, dass Dinge nur den äußeren Ring der Wirklichkeit darstellen. Die äußere Realität ist für mich aber nur von Bedeutung als Ergebnis einer inneren Entwicklung, als die Summe dessen, was ich das innere Sehen nennen würde – denn das Sehen kann man erlernen. Und dann kann ich ohnehin gleich auf das Innere zurückgreifen. Wir müssen begreifen, dass wir nur sehen, was wir sind und was wir wissen. Es gibt so vieles, das uns entgeht!

Halten Sie die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für verführerisch oder glauben Sie, dass es auch gesund sein kann, bestimmte Ereignisse zu verdrängen?

Die Schriftstellerin Marisa Madieri hat einmal  Gott als das große Gedächtnis beschrieben. So ein Archiv gibt es garantiert, wie auch immer wir es nennen. Menschen aber müssen sich erinnern und wieder vergessen. Was die psychologische Dimension der Erinnerung angeht, etwa bei Traumata, das ist noch einmal ein anderer Prozess. Und ja, Menschen überleben seelisch gewisse Ereignisse, weil sie in eine Lücke geschoben, also verdrängt, verworfen werden. Aber irgendwo sind sie ja doch noch! Ich stelle mir das manchmal so vor wie am Himmel: die schwarzen Löcher gibt es. Das für die Phantasie Ansteckende ist aber nicht der Fakt an sich, es ist dieser ganze Möglichkeitsraum, der inspirierend ist, weit und offen, eine unbeschriftete mehrdimensionale Welt.

Ihre Hauptfigur verdrängt ihre Erinnerungen an den Krieg. Was passiert mit verdrängten Erinnerungen – wo bleiben sie?

Das Gedächtnis meiner Hauptfigur hat mehrere Schubladen, die, wie im Märchen, einmal ins Bewusstsein getreten, noch eine neue Ebene einleiten. Das Leben ist unendlichen Beatmungen ausgesetzt. Aber es ist in ihrem Kopf wie im Kino mit einer weißen Leinwand – es dauert, aber die Bilder kommen dann irgendwann, werden dann ein ablaufender Film. Klar ist aber auch, dass da eine Struktur ist, weil sie für Augenblicke in ihrem Denken von einer bestimmten Stelle aus beginnt, sich ihrem Leben zu nähern.  Deshalb gibt es so viele Versatzstücke des Mosaiks, das Arjetas Leben zu einem Ganzen werden lässt. Wenn sie das von einer anderen Stelle aus tut, also ihren Denkpunkt ändert, dann verändert sich auch der Film auf der Leinwand (und der Bewusstseinsstrom in ihrem Inneren).

Sie wurden 1973 in Dalmatien geboren und sind mit neun Jahren nach Deutschland gezogen. Ihre Bücher veröffentlichen Sie auf Deutsch, wie kam es zu dieser Entscheidung?

Das hat die Sprache entschieden, nicht mein Ich. Man wird von der Sprache gewählt, da kann der Kopf nicht wirklich etwas machen.

Was hat Sie an der deutschen Sprache besonders fasziniert?

Ich habe keine andere, es ist die einzige Musik, die mir im Schreiben zur Verfügung steht. Alle anderen Sprachen, die ich kenne und spreche, sind nicht gut genug in mir abgespeichert,  sie haben eine andere Verdichtung in mir. In der einen bin ich ein ungeschicktes Kind, in der anderen eine Suchende und wieder einer anderen bin ich vollkommen unsicher. Das sind also keine guten Voraussetzungen, dem Leben in Sprache gerecht zu werden.

Wer hat Sie literarisch beeinflusst?

Viele, unendlich viele, Kafka fällt mir ein, den ich als Sechzehnjährige geradezu zum Leben gebraucht habe, vor allem seine Aphorismen, die ich bis heute immer wieder lese; aber auch Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, Virginia Woolf, Francis Ponge, Edmond Jabés, Saint Pol Rox, Marina Zwetajewa, mein guter alter, weiser Rilke, Andrej Bely – die russische Avantgarde, die deutsche Romantik, der französische Surrealismus — es ist ein Fass ohne Boden und das ist schön und  gut und soll nie aufhören. Alles, was wir berühren und was uns berührt, beeinflusst uns. Und so hat mich auch die rote Erde und das Meer Dalmatiens beeinflusst, die Bäume dieser Welt, die ja auch Schriftsteller sind, jeder Baum schreibt etwas in die Luft, die wir dann atmen, die Flüsse, der Karst, das weite Blau des Himmels, die Wolken, die Winde, die sind meine großen Verbündeten und Zuarbeiter der Sprache.

In Ihrem Roman „kirschholz und alte gefühle“ erwähnen Sie die Bremerin Karin Magnusson. Was hat es mit dieser Frau auf sich?

Ich bin durch einen Spiegel-Artikel auf diese Biologin, die in der Zeit des Nationalsozialismus sehr ambitioniert (ein Synonym für menschenverachtend) war, aufmerksam geworden. Sie hat sich als Forscherin im 3. Reich Menschenaugen von Mengele in Auschwitz bestellt. Vorher hat sie über Schmetterlingsflügel gearbeitet. Und ich habe mich gefragt, wie ein Mensch vom Schmetterlingsflügel zu so jemand Abgründigen wie Mengele kommen kann, wie so etwas möglich ist, was das für ein Leben war. Ein erschütternder Fall, den ich mit einer anderen Figur in meinem Buch verbinde, mit Mischa Weisband, einem deutschen Juden, der in Frankreich lebt und der nach dem Fall der Mauer in den Neunziger Jahren endlich wieder in die Stadt seiner Kindheit fahren will, doch dann in der Zeitung von Karin Magnussen liest. Er packt seinen Koffer wieder aus und reist nicht nach Berlin. Und in der Zeitung steht, was auch wirklich geschehen ist, dass nach dem Umzug von Frau Magnussen in ein Altenheim, diese in Gläsern (Formaldehyd) eingelegten Augen noch immer aufbewahrt wurden… Mischa Weisband fährt erst viele Jahre später in die deutsche Hauptstadt und trifft sich dort mit meiner Erzählerin Arjeta, die in Paris seine Nachbarin ist und der er alle Bäume und Vögel der Stadt zeigt. Er ist ein Vogelkundler! Ich wollte in diesem Zusammenhang etwas über die Macht und Kraft der Freundschaft erzählen. An einer Stelle heißt es über den alten Herren: Er war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte. Das ist eine bewusste Hommage an den Schriftsteller  und Psychoanalytiker Hans Keillson, der das einmal über sich selbst gesagt hat.

Nach dem Lesen Ihres Romans habe ich sofort nach dem Namen Karin Magnusson recherchiert und war angesichts Ihrer Geschichte entsetzt. Warum war es Ihnen wichtig, ihre Geschichte im Roman anzusprechen?

Es hat mich selbst sehr erschüttert, dass ein Mensch wie sie noch nach dem Krieg lange an einem Mädchengymnasium in Bremen unterrichtet hat. Sie hat immer behauptet, dass es diese Augen nie gab. Aber es gab sie doch. In ihrem braven bundesrepublikanischen Wohnzimmer. Allein dieses  schockierende Bild lässt mich eine bessere Welt ersehnen, eine Welt, in der Menschen so etwas auch wissen und dafür Sorge tragen, dass es in dieser Form nie wieder geschehen kann. Denn nur über die Erinnerung, die Durchdringung des Schmerzes, der damit einhergeht, können wir etwas daraus lernen. Es muss uns schockieren. Und dann bleibt ein Lernen hoffentlich nicht aus. Da ich selbst in den Neunziger Jahren einiges mitbekommen habe, was der Krieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet hat, war ich sehr ergriffen davon, dass die Geschichte der Karin Magnussen so lange nachgewirkt hat. Kriege, wie dieser Fall es zeigt, dauern manchmal noch Jahrzehnte lang in den Frieden hinein. Und die Sprache transportiert  alles. Sie ist das Archiv, in dem sich alles von alleine abspeichert.

Haben Sie schon ein neues Projekt in Arbeit?

Es entstehen neue Gedichte. Ein neuer Roman, der 3. Band meiner Trilogie, in dem wieder eine Nebenfigur zur Hauptfigur wird.

Vielen Dank an die Autorin für die Antworten auf meine Fragen!

Marica Bodrožić – kirschholz und alte gefühle

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.

In “kirschholz und alte gefühle” erzählt Marica Bodrožić die Geschichte von Arjeta Filipo. Arjeta ist gerade in eine neue Wohnung gezogen. Es ist die dritte Wohnung, die sie in Berlin bezieht. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Tag in ihrem neuen Zuhause.

“Ich wünsche mir plötzlich, dass alles immer so leer bleibt und alles Überflüssige verschwindet, sich nie bei mir einnistet. Was brauche ich wirklich? Welche Farben machen mich glücklich? Und warum? Den Dingen auf den Grund gehen, das will ich tun, nicht einfach immer nur alles sammeln und ablegen.”

In ihrer neuen Wohnung sitzt sie am Tisch ihrer Großmutter, einem Tisch aus Kirschholz, von dem sie sich nicht trennen kann. Sie sortiert Fotos, die ihr während ihres Umzugs von ihrer Mutter in Plastiktüten vor die Tür gestellt wurden. Fotos aus Kindertagen. Fotos aus Istrien, vom Meer. Die Fotos zwingen Arjeta in eine “Verlangsamung”. Sie erinnert sich. Erinnert sich zurück an ihre Kindheit und an die Vergangenheit.

“Ich gehe in die Küche und setze mich an Großmutters alten Kirschholztisch. Ich betrachte ihn. Er macht mich glücklich. Wenn er ein Gedächtnis hat und meine Theorie aus der Kindheit stimmt, muss ich ihn nur an einer Stelle mit dem Messer anritzen. Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, wird mit allem herausrücken, mit allem, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat.”

Sieben Tage umfasst das Zurückblicken und Erinnern von Arjeta. Sieben Tage lang taucht sie ab in die Vergangenheit. Plötzlich befindet sie sich wieder am Meer, wo sie als Kind ihre Urlaube verbracht hat. Sie erlebt die Augusttage in Istrien. Sie ist wieder in Paris, wo sie zum Studium an der Philosophischen Fakultät hinzieht und auf ihre erste große Liebe Arik trifft. Sie erinnert sich, wie sie dort einen Freund fürs Leben findet, den Vogelkundler Mischa Weisband, der ihr die Maulbeerbäume und Blauglockenbäume zeigt. Sie sitzt wieder in der kleinen Wohnung ihrer Freundin Nadeshda, die ihr das Handwerk des Nähens beibringt. Im Zentrum der Erinnerung steht immer wieder die belagerte Stadt, die im Roman namenlos bleibt, bei der es sich aber wohl um Sarajewo handelt – die Stadt, in der Arjeta ihre beiden Brüder durch eine Mine verliert und in der sie ihre Eltern zurücklässt, als sie zum Studium nach Paris geht.

Erinnerungen und  das Gedächtnis spielen in dem Roman von Marica Bodrožić eine zentrale Rolle. Arjeta hat “kleine Risse im Bewusstsein”, “Lücken” in ihrer Erinnerung, “Pausen” im Gedächtnis.

“Es geschah zum ersten Mal, als ich sechs Jahre alt war. 1978. Onkel Milan und Tante Sofija verschwanden mitten im Sommer aus unserem Leben. […] Ich erlebte zum ersten Mal die beunruhigenden Absencen, die mich später mehr als alles andere zu mir selbst führten. Aber damals gab es mich nicht in den Lücken, und alles, was ich mit meinen Gedanken berührte, war ein schwarzes Nichts. Ich hatte immer gedacht, dass ich über die Lücken einfach hinweggehen könnte, langsamen Schrittes, wie über einen zugefrorenen See. Aber ich habe nicht gewusst, dass die Lücken irgendwann schmelzen, dass man einbrechen kann.”

Die belagerte Stadt, die in Arjetas Erinnerungen immer wieder eine zentrale Rolle spielt, ist ein Ort des Schreckens, der Bomben, der Gefahr. Eine der beeindruckendsten und berührendsten Passagen des Romans beschäftigt sich mit der belagerten Stadt und mit den Eltern, die Arjeta dort zurückgelassen hat. Sie musste sich selbst retten, aber das Leben, was sie nun in Paris führt, trennt sie von den Zurückgebliebenen, da es ihr Erfahrungen bietet, die sie mit ihren Angehörigen nicht mehr teilen kann. Es war vor allem die folgende Passage, die sich mir ins Hirn eingebrannt und ins Gedächtnis geschrieben hat, da dort ein Prozess angeklingt, den wahrscheinlich jedes Kind an einem Punkt in seinem Leben durchleben muss: irgendwann muss man loslassen, irgendwann ist das Leben, das die Kinder leben nicht mehr mit den Eltern teilbar.

“Meine Mutter und mein Vater sind in der Stadt geblieben. Keller. Ängste. Granaten. Hunger. Feuer. Flammen. Überall Flammen. Fensterlose Häuser. Ich hingegen darf in Paris spazieren gehen, kann auf das Konto bei der Crédit Lyonnais zurückgreifen. Ich habe mein Leben. Ich habe ein Stipendium. Ich bekomme, Geld, weil die Kommission offensichtlich jemanden retten wollte, aber ich wäre ohnehin nach Paris gekommen, um das zu tun, was ich tat: zu studieren, Bücher zu lesen. Kurz, ich habe überlebt. Während die zu Hause Gebliebenen hungern. Und leiden. Und um ihr Leben bangen. Sie zählen hauptsächlich Granaten und sind mit dem Auflisten von Toten beschäftigt. Ich esse Crossaints. Sie schmecken gut. Ich kann sie nicht mit Mutter und Vater teilen. Noch lebt mein Vater. Noch könnte ich ihn sehen und wenigstens zum Abschied umarmen. Aber das wird mir, das wird uns beiden nicht gewährt. Nicht kann ich mehr mit meinem Vater, nichts mit meine Mutter teilen.”

In “kirschholz und alte gefühle” erzählt Marica Bodrožić vom Erinnern und Bewahren. Vom Gedächtnis und der Vergangenheit. Sie erzählt aber auch vom Vergessen und davon, warum es manchmal besser sein kann, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, denn “alle Bilder sind überholt”.

“Ich werde die Fotos nicht behalten. Weiter, ins Jetzt. Ich packe sie in eine große Kiste wie in ein Grab. Ich bestatte sie. Für immer. Sie sind die Oberfläche, die Rinde, unter der unser wahres Leben wohnt, die Summer unserer Tage.”

Marica Bodrožić ist mit “kirchholz und alte gefühle” ein beeindruckender Roman gelungen. Sie entfaltet in ihrem Text eine Sprachmelodie, die mich beim Lesen verzaubert hat. Ich habe mich wie auf sanften Wellen gefühlt, schaukelnd auf dem Fluss der Erinnerung. Jedes Wort stimmt. Jeder Satz passt. Alles fühlt sich unheimlich stimmig an. Manche Passagen sind so schön, das ich sie mir laut vorlesen musste, um sie noch besser genießen zu können und um die Worte in mich aufzunehmen, sie einzusaugen, für immer bewahren zu können. Ich glaube, dass Marica Bodrožić eine der wichtigsten Stimmen deutscher Literatur werden kann, wenn sie es nicht schon ist, denn neben der sprachlichen Schönheit des Textes widmet sie sich auch einem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema. Sie schreibt über den Bürgerkrieg in Jugoslawien. Sie schreibt über einen Krieg, der Arjeta ihrer Heimat und ihrer Familie beraubt. Ihr traumatisches Schicksal ist kein Einzelschicksal, sondern das Schicksal vieler Kriegsflüchtlinge. Umso wichtiger empfinde ich es, dass Marica Bodrožić diesen Opfern des Krieges eine Stimme gibt und damit den literarischen Blick auf einen Krieg richtet, der ganz in unserer Nähe existierte und von dem man dennoch kaum etwas wahrgenommen hat.  

Die Stimme versagt – Marica Bodrožić in Bremen

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© Peter von Felbert

Im Rahmen der LiteraTour Nord las Marica Bodrožić am gestrigen Sonntag im Café Ambiente aus ihrem neusten Roman “kirschholz und alte gefühle”.  Marica Bodrožić wurde 1973 in Kroatien, in der Nähe der Stadt Split, geboren. 1983 zog sie nach Deutschland, machte ihr Abitur in Hessen und studierte anschließend Kulturanthropologie und Slawistik. Heutzutage arbeitet sie als freie Schriftstellerin, darüber hinaus hat sie in das Filmgeschäft hineingeschnuppert und war als Gastdozentin für Creative Writing in den USA.

Zentrales Thema ihres neuen Romans “kirschholz und alte gefühle”, ist die Erinnerung und das Gedächtnis. Marica Bodrožić stellt in ihrem Roman die Erinnerung als etwas Flüchtiges dar, das bei jedem Rückblick eine andere Färbung erhält.

In seiner Einführung kündigt der Moderator Gert Sautermeister an, dass besondere Umstände es erfordern, dass die Lesung in verteilten Rollen stattfinden müsste. Marica Bodrožić erklärt krächzend, dass dies ein ganz schwerer Moment für sie sei, da sie ihre Stimme verloren hat, aber zur Lesung gekommen ist, um zu zeigen, dass sie willens ist. Morgens habe sie noch in Oldenburg gelesen, aber am Nachmittag sei ihre Stimme weggebrochen, trotz des Ingwertees, den sie getrunken hat. So sind wir Zuschauer in den Genuss einer ganz ungewöhnlichen Lesung gekommen, da zwei Stellvertreter gelesen haben, um die Autorin nicht weiter zu belasten: Gert Sautermeister und ein Zuschauer, der sich spontan bereit erklärt hat, haben jeweils einen Teil aus dem Roman übernommen.

Im anschließenden Gespräch, das aufgrund der krankheitsbedingten Umstände kurz gehalten wurde, konnte Marica Bodrožić einige kurze aber überaus interessante Antworten auf Fragen aus dem Publikum geben. Die belagerte Stadt, die im Buch namenlos bleibt, ist natürlich Sarajewo. Der Name wird nicht genannt, um deutlich zu machen, dass es auch anderswo Terror, Belagerung und Barbarei gibt, dass überall Menschen, die Shakespeare lesen, auch andere Menschen umbringen können. Marica Bodrožić macht in ihrem Buch deutlich, dass Kriege in Europa immer noch stattfinden, denn viele Menschen in Deutschland denken bei Krieg als erstes an den 2. Weltkrieg. Sie weist auf ihr Erstaunen über die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hin, der sagte, dass es seit 60 Jahren keinen Krieg mehr in Europa gegeben habe. Und was ist mit Jugoslawien, fragt Marica Bodrožić?

Die Figur aus ihrem Buch, die ihr am stärksten ans Herz gewachsen ist, ist der Jude Mischa, denn Mischa sei ein Mensch, der die Sprache seiner Kindheit nicht hassen kann. Stattdessen versucht er über die Liebe und Freude einen Weg zurückzufinden in ein besseres Leben. Im realen Leben ist ihr Hannah Arendt ein leuchtendes Vorbild, weil sie unbestechlich geblieben ist. Dies hat Hannah Arendt nicht immer sympathisch gemacht, aber genau das bewundert Marica Bodrožić,  dass man bereit ist, alles zu verlieren und nicht weiß, was man dafür bekommt. Eine ähnliche Figur, die sich aller Eindeutigkeit verweigert, ist Arik, die männliche Hauptfigur ihres Romans. Arik ist rätselhaft und nicht unbedingt sympathisch, aber die Erzählerin des Romans lernt so viel durch ihn: “Der Stein, über den ich stolpere ist der, von dem ich etwas lernen kann.”

Ich glaube, dass Marica Bodrožić selbst gestern Abend am stärksten unter ihrer Sprachlosigkeit gelitten hat: “Ich bin Löwin und rede sehr gerne. Ich leide, weil ich das heute nicht tun kann.” Dennoch habe ich gestern eine sympathische und überaus interessante Autorin kennengelernt, von der ich gerne noch mehr entdecken möchte.

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