Mit Mein weißer Frieden legt Marica Bodrožić einen autobiographischen Reisebericht vor. Es ist ein Reisebericht, der einer Spurensuche gleicht, bei der es um die ganz großen Fragen des Lebens geht: nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um die Frage, wie wir unser eigenes Leben eigentlich gestalten wollen.
Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert.
In all ihren vorangegangenen Romanen hat sich Marica Bodrožić immer wieder und auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt, mit dem Gefühl von Heimat, mit der Aneignung einer neuen Sprache. Es gibt einen Bruch in ihrem Leben, um den bisher alle ihre Texte kreisten: 1973 wurde die Autorin in Dalmatien geboren, 1983 zog es sie und ihre Familie nach Deutschland. Den Krieg, der in den neunziger Jahren in ihrer alten Heimat ausbrach, erlebte sie nur aus der Ferne mit – in der neuen Heimat lebend, in einer neuen Sprache beheimatet. Mein weißer Frieden ist die autobiographische Annäherung an diesen Krieg, aber auch an die Frage, wie man ihn damals hätte verhindern können und wie man Kriege in Zukunft verhindern kann.
Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin.
Den Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat Marica Bodrožić aus der Ferne miterleben müssen, doch sie ist anschließend immer wieder dorthin zurückgereist, wo sie aufgewachsen ist. In den europäischen Süden, dort wo man freien Blick auf all die glücksbringenden Sterne am Himmel hat. Sie reist zurück zu den Verwandten, die dort geblieben sind. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gibt es kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form vom Krieg betroffen ist. Es gibt kaum Eltern, die ihr Kind nicht in den Krieg schicken mussten, es gibt kaum Eltern, die ein unversehrtes Kind zurückerhalten haben. Der Krieg hat nicht nur die Dörfer und Städte zerstört, sondern auch Krater in die Familien gerissen.
Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unserer wertvollen Lebenszeit verschwenden wir darauf, Krieg zu führen? Krieg in Gedanken. Krieg in Sätzen. Krieg in Worten. Alle Kriege beginnen in Gedanken und münden in der Syntac, im reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma.
Marica Bodrožić reist auch zu ihrer Tante Anastazija, deren Sohn sich nach dem Krieg im Wald erhängt hat. Die zehn anderen Cousins haben den Krieg überlebt, sind scheinbar gesund daraus hervorgegangen. Doch wird man das, was man während eines Krieges erlebt, überhaupt jemals wieder los? Wer kann einen darauf vorbereiten, töten zu müssen, um nicht selbst getötet zu werden? Kann man auf so etwas überhaupt vorbereitet werden und kann man solche Erlebnisse unbeschadet überstehen? Es gibt kaum psychologische Unterstützung für die Kriegsheimkehrer. Über den Selbstmord von Filip wird ein Mantel des Schweigens gebreitet. Wenn man den Onkel fragt, sagt der, dass Filip mit seiner Tat Schande gebracht hat über die, die er zurückgelassen hat.
Mir wird auf meinen Wanderungen durch das dalmatische Hinterland klar, dass ich seit Anfang der neunziger Jahre immerzu von Schicksalen und Literaturen jener Menschen umgeben bin, die alles verloren haben, die fortgehen mussten oder vertrieben wurden, im Krieg waren, später auf der Flucht, am Körper versehrt und im Geist unversehrt oder umgekehrt (und oft beides zusammen), sie lernten andere Sprachen, tauchten unter, blieben für immer Namenlose im Anderswo.
Mein weißer Frieden setzt sich zusammen aus Impressionen dieser zahlreichen Reisen, aus Eindrücken, Gesprächen, Begegnungen und Gedanken. Marica Bodrožić legt kein politisches Sachbuch vor, sondern einen autobiographischen Reisebericht, der gespeist ist aus einem ganz und gar persönlichen Zugang. Sie reist nach Split, nach Sarajewo, nach Mostar und auf die kroatischen Inseln. Dabei erzählt die Autorin nicht nur in ihrer ihr eigenen Poetik von einer Reise in ein Land, das vom Krieg zerstört wurde, sondern auch von einer Reise zu sich selbst. In Mein weißer Frieden geht es vordergründig nicht unbedingt um Daten und harte politische Fakten, sondern um einen persönlichen Blick auf die kaum zu begreifenden Folgen eines jahrelangen Krieges. Es ist nicht nur ein persönlicher Blick, sondern auch ein offener, ein unverstellter. Es ist ein fragender Blick: wie können scheinbar normale Menschen plötzlich in einen Krieg ziehen? Wie kann ein zivilisiertes Land in Barbarei versinken? Wie ist ein solcher Krieg zu begreifen? Wie ist so viel Grausamkeit überhaupt zu verstehen? Und wie kann ein solcher Krieg verhindert werden? Auf der Suche nach Antworten greift Marica Bodrožić immer wieder auf die Literatur zurück und zitiert Martin Buber, Erich Fromm, Imre Kertész, Ruth Klüger, Hans Keilson oder auch Stefan Zweig.
Auf meiner Reise durch Bosnien und Dalmatien sind mir unzählige Menschen begegnet. Einbeinige unter mediterranen grünen Palmen, Kriegsversehrte, denen man ein verrutschtes Gehirn nachsagte, Erinnerungstöter, die alles in sich auslöschen mussten, damit sie in den Krieg ziehen konnten. Die unterschiedlichsten Tonarten des Tötens klingen in meiner Reiseluft nach. Ich habe gelernt, dass man Gedächtnisse und Menschen gleichermaßen töten kann. Was ist die Aufgabe der Erinnerung hier? Sie ist das Gespräch mit meinem inneren Selbst. In seinem Kern lebt mein weißer Frieden, den es ohne Bewusstsein nicht geben kann. Denn kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen. Er hinterlässt ein Erbe, dunkle Gaben, die wie eine lauernde Krankheit in den Geschichtern, Geschichten, Körpern, Sätzen und der Vorstellungskraft der Menschen weiterleben.
Angesichts der momentanen Weltlage, die durch Kriege an ganz unterschiedlichen Orten geprägt ist, ist dieses Buch von Marica Bodrožić aktueller und wichtiger denn je. Eine politische Lösung für Kriege und Konflikte findet sich auch in Mein weißer Frieden nicht, es ist wohl auch kaum möglich, ein Rezept dagegen zu finden. Dafür legt Marica Bodrožić eine poetische und lesenswerte Auseinandersetzung mit der Frage vor, wie wir als Einzelner und als Gesellschaft friedlich miteinander leben können und zeigt auf, dass man sich auf der Suche nach Antworten auch immer wieder der Literatur zuwenden kann.
Marica Bodrožić: Mein weißer Frieden. Roman. Luchterhand Verlag, München 2014. 336 Seiten. €19,99. Auf diesem Blog gab es bereits ein Interview mit der Autorin und eine Besprechung ihres Romans kirschholz und alte gefühle.