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st. peter am anger

5 Fragen an Vea Kaiser!

© http://www.pertramer.at

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Vea Kaiser wurde 1988 geboren und studiert Klassische und Deutsche Philologie in Wien. “Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam” ist ihr erster Roman. Gut gefallen hat mir ein kurzes Porträt von ihr, das ich bei www.datum.at gefunden habe:

“[Vea Kaiser] hält regelmäßig Vorlesungen über Literatur an Stammtischen und Bartresen, will bis zur Pension die gesamte altgriechische Literatur übersetzt haben, und beschäftigt sich sonst mit Fußball und Stöckelschuhen.”

Zumindest das Interesse an altgriechischer Literatur und am Fußball sticht auch in “Blasmusikpop” heraus.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Weil ich viel zu viel zu erzählen hab, und viel zu wenig Menschen in meinem Umfeld, die bereit sind, stundenlang still zu sitzen und mir zuzuhören.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Nicht nur einen, sondern drei (ich nenne sie immer meine „Säulenheiligen“, sie haben auch einen eigenen Schrein in meinem Bücherregal): Gabriel García Marquez, den ich für seine Fabulierkunst bewundere, Heimito von Doderer, von dem ich viel über das Konstruieren, Gestalten und Erzählen von Geschichten gelernt hab, und John Irving, dessen Hauptfiguren (die ja meist Schriftsteller sind) mir wahnsinnig viel über das Leben als schreibender Mensch, und dessen Höhen wie Tiefen, beigebracht haben.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

An einem kühlen aber sonnigen Tag am Schreibtisch meiner kleinen Wiener Wohnung zwischen 07:00 und 13:00 Uhr, mit drei Halb-Liter-Häferln Melange, zwei kleinen Frühstücks-Pausen, je nach Stimmung etwas Musik, Haare zu einem gordischen Knoten am Hinterkopf verwurstelt, ein bequemes Kleidchen an, Telefon und Internet ausgeschaltet.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ich hab aktuell mal wieder meine griechische Phase: Abends las ich Michael Frayn – Willkommen auf Skios (zum ersten Mal, war sehr begeistert) und nachmittags in kleinen Häppchen über längere Zeit hinweg Homers Ilias (zum fünften Mal, aber immer noch großartig).

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Don’t cry – work! (Das steht in großen Lettern über meinem Schreibtisch und hilft zumindest mir persönlich von Tag zu Tag ganz wunderbar.)

Herzlichen Dank an Vea Kaiser für die Beantwortung meiner Fragen!

Es gibt vom Verlag Kiepenheuer & Witsch eine umfangreiche Pressemappe an Material zu der jungen Autorin und ihrem Roman. Ich möchte gerne auf das folgende Video verweisen, das ich sehr sehenswert finde:

Bei www.zehnseiten.de kann man die Autorin auch aus ihrem Roman lesen hören und sehen:

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam – Vea Kaiser

Die erst dreiundzwanzigjährige Schriftstellerin Vea Kaiser studiert in Wien Klassische und Deutsche Philologie. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten sowie den Theodor-Körner-Preis gewonnen. Sie nahm 2010 an der Autorenwerkstatt Prosa in Berlin teil und war Finalistin beim 17. Open Mike.

Im Mittelpunkt von Vea Kaisers fulminantem Debütroman “Blasmusikpop” steht der junge Johannes A. Irrwein, der sich selbst als “Historiograph” und “Nachfolger des Herodot von Halikarnassos” bezeichnet. Johannes wächst im abgeschiedenen alpenländischen Bergdorf St. Peter am Anger auf.

“St. Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem von einer Einnahmequelle lebte – den weltweit einzigartigen Adlitzbeerenbaumbeständen.”

St. Peter am Anger ist darüber hinaus dafür bekannt, dass man nicht über Dinge spricht, die man nicht ändern kann, dass alles dreißig Jahre später als im Rest der Welt geschieht, keine Details erörtert werden und dass Dinge nun mal so sind, wie sie sind.

“In St. Peter am Anger war bei den meisten ab dem Kindergarten ausgemacht, wer wen heiraten würde, die Söhne bekamen die Namen der Väter, die Töchter die Namen der Großmütter, der Bauernhof wurde an den erstgeborenen Sohn weitergegeben, und die größte Neuerung war, dass der Gemeinderat beschlossen hatte, die Straßen asphaltieren zu lassen.”

Alles bleibt in St. Peter am Anger, wie es immer gewesen ist und dem einzelnen bleibt häufig nur übrig, sich zu fügen. Doch Johannes fügt sich nicht. Er wird in seinem Aufwachsen und seiner Erziehung von seinem Großvater Johannes Gerlitzen – einem Wurmforscher und einem der wenigen, der es geschafft hat, das Dorf Richtung Hauptstadt zu verlassen – geprägt. Johannes Gerlitzen bemüht sich darum, seinen Enkel zu einem Nachwuchsforscher auszubilden, damit es ihm erspart bleibt, mit den anderen “doofen St.-Petri-Kindern” zu spielen. Auch Johannes hat sich zum Ziel gesetzt, sein Heimatdorf zu verlassen und aus den starren Ritualen und Mustern auszubrechen, sie hinter sich zu lassen. Sein Umzug in die Stadt zum Studium ist schon fest eingeplant. Doch dann fällt Johannes – der Musterschüler und einer der wenigen in St. Peter am Anger, der Hochsprache spricht und eine Klosterschule außerhalb des Dorfes besucht – durch die Abitursprüfung.

Dieses überraschende Scheitern ist für Johannes ein tiefer Einschnitt, eine Wende im Leben. Statt zum Studium in die Stadt zu ziehen, bleibt er den Sommer über in seinem Kinderzimmer in St. Peter am Anger. Lange hat sich Johannes geweigert, am Dorfleben teilzunehmen, jetzt muss er sich gezwungenermaßen mit seinem Heimatdorf und dessen Bevölkerung auseinandersetzen. In Anlehnung an seinen Lieblingsschriftsteller Herodot, beginnt er damit, die Chronik seines Dorfes zu verfassen. Schnell merkt Johannes, dass man so eine Chronik nicht schreiben kann, wenn man lediglich beobachtet – Johannes beginnt damit, am Dorfleben zu partizipieren, ein Teil von dem zu werden, über das er schreiben möchte.

“[…] schließlich musste er verstehen, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, die nicht beschrieben werden wollen. Dinge, die man miteinander erlebt und erinnert, die passieren und etwas verändern.”

Mit dem Entschluss, eine Dorfchronik zu schreiben, ist Johannes der Auslöser eines der größten Ereignisse in der Geschichte von St. Peter am Anger …

Doch das ist längst nicht alles in diesem sprudelnden Debüt, daneben spielt auch ein 14,8 Meter langer Fischbandwurm eine wichtige Rolle, genauso wie der griechischliebende Diagamma-Klub, eine selbstgebaute Seifenkiste, ein talentierter Dorffußballer und seine schwangere Angebetete und der Ältestenrat, der darum bemüht ist, jegliche Innovationen zu boykottieren.

Der Roman setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: er besteht zum einen aus den Aufzeichnungen von Johannes, die – immer in kursiver Schrift gesetzt – in Form von vier Notizbüchern eine Dorfchronik über das Volk der “Bergbarbaren” in St. Peter am Anger darstellen und damit parallel zum Hauptstrang fast eine kleine Nebengeschichte erzählen. Zum anderen wird die Geschichte der Familie Gerlitzen erzählt. Beginnend im Jahr 1959 wird die Ehe zwischen Johannes und Elisabeth Gerlitzen geschildert, die Geburt der gemeinsamen Tochter Ilse, Johannes Wunsch aus St. Peter am Anger wegzugehen, um Arzt zu werden und wie Ilse schließlich Alois Irrwein heiratet und den gemeinsamen Sohn Johannes zur Welt bringt. Die Geschichte reicht – mit Johannes misslungener Abitursprüfung – bis in die aktuelle Zeit hinein – “bei der Geschichte beginnend bis zur Gegenwart”.

Bei der Fülle an Neuerscheinungen heutzutage ist es immer schwieriger geworden, Literaturperlen zu entdecken, denn das Feuilleton schmeißt mittlerweile immer schneller mit Superlativen um sich und die Halbwertszeit wird gleichzeitig immer kürzer. Mit “Blasmusikpop” habe ich das Gefühl, dass mir jedoch genau das passiert ist: ich habe einen großartigen Roman, eine Literaturperle, entdeckt und ich würde diese Entdeckung gerne jedem entgegenschreien. Das Außergewöhnliche an “Blasmusikpop” ist sicherlich, dass es konträr zu vielen Modeerscheinungen  heutzutage geschrieben ist: Johannes kommuniziert nicht über Facebook, sondern beschäftigt sich lieber mit den alten Griechen. Die Sprache des Romans habe ich als sprudelnd empfunden, an vielen Stellen auch als humorvoll und unterhaltsam, doch gleichzeitig auch wieder berührend. So wie die Geschichte, hat auch die Sprache viele Ebenen und Facetten. Vea Kaiser gelingt es einen außergewöhnlichen, doch sehr eingängigen Ton zu treffen.

“Blasmusikpop” ist vieles: eine Familiengeschichte, eine Historie der Gegenwart, ein Coming-To-Age-Roman, aber eben auch ein Dorfroman. Die Hinwendung zum Dörflichen ist nichts Neues in der deutschen Literatur: Jan Brandt hat es in seinem großartigen Roman “Gegen die Welt” bereits vorgemacht, auch bei Stephanie Gleißners “Einen solchen Himmel im Kopf” steht ein Dorf im Zentrum. In allen genannten Romanen geht es gleichzeitig auch immer um eingefahrene Rituale, um eine Gemeinschaft, die als starr empfunden wird, um jemanden, der nicht dazu gehört, sich nicht eingliedern kann oder möchte. Bei “Blasmusikpop” steht der Gegensatz zwischen Dorf und Stadt im Mittelpunkt: Johannes entwickelt schon sehr früh den Wunsch, sein Heimatdorf zu verlassen. Er grenzt sich ab, indem er sich weigert, den heimischen Dialekt zu sprechen, er schämt sich für die anderen Bewohner seines Dorfes.

“Seit er an der Klosterschule angenommen worden war, hatte er jeden Kontakt zu den Dorfbewohnern abgebrochen. Er hielt sich von den Festen fern, hörte seinen Eltern nicht zu, wenn diese über das Dorf sprachen, und verbrachte so viel Zeit wie möglich in Lenk. Anders als in St. Peter fühlte er sich dort akzeptiert und nicht mit Stielaugen beobachtet, wenn er in der Öffentlichkeit ein Buch las oder beim Spazieren Vokabeln lernte. Johannes wollte sich so weit wie möglich vom Dorf distanzieren, denn er hatte Angst, dass er es sonst nie schaffen würde, seine Träume zu verwirklichen, Forscher zu werden und hinaus in die große Welt zu gehen […].”

Versuche seiner Eltern, Johannes in die Dorfgemeinschaft einzugliedern – durch die Teilnahme am örtlichen Fußballtraining oder einem gemeinsamen Ausflug mit den anderen Kindern – enden immer wieder schon beinahe traumatisch für ihn. Johannes grenzt sich ab von der Engstirnigkeit und Starrigkeit seines Dorfes und seiner Bewohner und die Bewertung seines Verhaltens ist auch immer wieder eine Gratwanderung zwischen Individualismus und Arroganz oder auch Überheblichkeit.

Vea Kaiser ist mit “Blasmusikpop” ein fantastischer Debütroman gelungen. “Blasmusikpop” sprudelt über vor Ideen und absurden Einfällen und Vea Kaiser gelingt es, all dies in eine erstaunlich lesbare Form zu bringen. Ein großartiger Roman, dem ich viele Leser wünsche!

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