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Der Regen in deinem Zimmer – Paola Predicatori

Paola Predicatori wurde in Senigallia geboren und lebt und arbeitet heutzutage als Buchhändlerin in Mailand. “Der Regen in deinem Zimmer” ist ihr Debütroman und wurde von Verena von Koskull ins Deutsche übersetzt.

“Als meine Mutter erfuhr, sie habe Nierenkrebs, war die jähe Angst wieder da: Sie drückte mir die Luft ab, schoss mir ins Blut und zerriss mir das Herz. Meine Mutter war siebenunddreißig und hieß Anna. Zwei Jahre später war sie tot.”

“Der Regen in deinem Zimmer” erzählt die Geschichte von Alessandra, die sechzehn Jahre alt ist, als sie erfährt, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt ist. Alessandra wächst in einer Familie auf, die von Frauenfiguren geprägt ist: sie lebt zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Einen Vater gab es nie und der Großvater starb, als Alessandra noch klein gewesen ist. Zwei Jahre später stirbt Alessandras Mutter, die lange gekämpft hat, obwohl die Ärzte ihr kaum eine Überlebenschance gegeben haben. Zwei Jahre lang lebt Alessandra ein Leben an der Seite ihrer todkranken Mutter, das schon lange nichts mehr mit dem Leben eines normalen Jugendlichen zu tun hat.

“Die beiden folgenden Jahre verbrachte ich wie unter einem Schatten. Klausuren, Prüfungen, Samstagabende in der Disco, Schwimmbad, Stadtbummel, aber in allem, was ich tat, war meine sterbende Mutter. Ihr Tod war überall: im Rucksack zwischen den Schulbüchern, in den rosig klaren Frühlingsabenden, aber vor allem in ihrem mutlosen, wissenden Blick.”

Alessandra ist die Erzählerin des Romans, sie erzählt von der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, von ihrem neuen Leben, das sie nun mit der Großmutter alleine verbringen muss, immer mit der Angst verbunden, irgendwann nicht mehr zu zweit zu sein, sondern alleine zurückzubleiben. Das junge Mädchen erzählt aber auch von ihrer Rückkehr in den Alltag und in die Schule, in die sie als neuer Mensch zurückkehrt, denn der Verlust der Mutter hat sie geprägt.

“Der Tod meiner Mutter hat mich zu einem Riesen gemacht: Von hier oben erscheinen alle Menschen bedeutungslos und völlig gleich.”

All das, was ihr zuvor etwas bedeutet hat, erscheint nun fremd. Die ehemals besten Freundinnen wirken mittlerweile nur noch abgehoben, ihr Verhalten aufgesetzt und übertrieben. Oder ist es Alessandra, die sich verändert hat? Nichts ist mehr so, wie es vorher gewesen ist. Als sie nach dem Tod der Mutter in die Schule zurückkehrt, setzt sie sich nicht neben ihre beste Freudnin Sonia, sondern neben Gabriele, der von allen nur Zero genannt wird. “Der Regen in deinem Zimmer” ist nicht nur die Verarbeitung eines Todes, sondern beschreibt auch das sanfte und vorsichtige Erblühen einer neuen Liebe. Zero und Alessandra, beide brauchen lange, um ihre Zuneigung füreinander zu entdecken und als es endlich so weit ist, ist es schon fast zu spät.

Gabriele ist ein schwieriger Schüler, sehr viel älter als die anderen, aus komplizierten Verhältnissen. Er fehlt häufiger, als dass er da ist und wenn er da ist, dann zeichnet er. Worte hat er nur wenige übrig, weder für die Lehrer, noch für Alessandra, seine neue Banknachbarin. Der Schulalltag an ihrem neuen Platz erscheint dem Mädchen wie ein Aufenthalt in einem neuen Land, in Zerolandia.

“Deshalb liebe ich Zerolandia. Die einzige Regel, die es zu respektieren gilt, ist eisernes Schweigen. Will man sich verständlich machen, dann nur mit Zeichensprache oder dem Morsealphabet. Jede Nachricht, jeder Laut aus dem Rest der Welt bricht sich an den Landesgrenzen und erreicht einen wie ein Windstoß, der über Ödland geht.”

Die kurzen Kapitel tragen jeweils ein Datum als Überschrift: Alessandra erzählt von einem Zeitraum, der beinahe 10 Monate umfasst. Die Einträge reichen vom 27. September bis zum 27. Juni. Unterbrochen werden sie von Erinnerungen an die geliebte Mutter, die nun nicht mehr da ist, um Alessandra zu unterstützen, ihr zuzuhören oder einfach nur da zu sein.

“Jetzt, wo du nicht mehr da bist, erscheint alles, was ich früher gemacht habe, völlig sinnentleert, wie eine auswendig gelernte Rolle, die keine Improvisation mehr zulässt.”

Paola Predicatori gelingt es, sich mit sehr viel Sensibilität und Feingefühl in die Gedankenwelt ihrer Hauptfigur hineinzuversetzen. Die kurzen Kapitel erinnern an Tagebucheinträge oder auch an Briefe, die das junge Mädchen an ihre verstorbene Mutter geschrieben haben könnte . Eine Interpretation bleibt in diesem Fall dem Leser überlassen. Alessandra und Gabriele sind zwei Menschen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, die aber viel mehr verbindet, als sie eigentlich ahnen: beide sind einsam. Gabriele ist in der Schule schon lange ein Außenseiter und hat sich in dieser Rolle eingerichtet. Alessandra macht sich nach dem Tod ihrer Mutter selbst zur Außenseiterin und zieht sich zurück. Für das Mädchen ist dies die einzige Möglichkeit, mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen.

“Jetzt habe ich begriffen: es stimmt nicht, dass Tote nichts mehr brauchen. Das Schreckliche ist nicht, einen geliebten Menschen zu verlieren, sondern nicht mehr von ihm zu sprechen.”

“Der Regen in deinem Zimmer” ist ein einfühlsamer und ruhiger Roman, über den Tod, das Leben und die Liebe. Paola Predicatori gelingt es, trotz der traurigen Thematik, ihren Roman mit einem Hoffnungsschimmer abzuschließen. Mit der Hoffnung darauf, dass es möglich ist, einen schmerzlichen Verlust zu überwinden, auch wenn man den Menschen, den man verloren hat, nie vergessen wird. Ein wunderbarer Roman, der dazu anregt, über das Leben nachzudenken und über das, was einem wichtig ist. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen zugeklappt und mich zugleich getröstet gefühlt.

Meine erste Lüge – Marina Mander

Download (18)Marina Mander wurde in Triest geboren und arbeitet als Kommunikations-Coach. Sie lebt heutzutage in Mailand und hat bereits mehrere Erzählungen und Theaterstücke veröffentlicht. “Meine erste Lüge” ist ihr Romandebüt. Eine Verfilmung des Romans ist bereits in Planung. Übersetzt wurde das Buch aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.

“An manchen Tagen frage ich mich: Was heißt es, Halbwaise zu sein?”

Luca ist gerade einmal neun Jahre alt, als er das erlebt, was ihn Marina Mander in ihrem Debütroman “Meine erste Lüge” erzählen lässt. Luca wächst alleine mit seiner Mutter auf, einen Vater gibt es schon lange nicht mehr, “Mama sagt, dass Papa sich in Luft aufgelöst hat”, und die Ersatzväter bleiben meistens nur ein paar Wochen, bevor sie wieder verschwinden. Lucas Mutter hat keine einfache Zeit; das Zusammenleben mit ihr ist schwierig und kompliziert, so als würde man ständig auf dünnem Eis laufen und hoffen, nur nicht einzubrechen.

“Es ist nicht schön zu sehen, dass deine Mama weint, denn du weiß nicht, wie du ihr helfen kannst. […] Ich beneide meine Schulkameraden, die einfach losheulen können, wenn ihnen danach ist. Bei mir geht das nicht, denn Mama ist so traurig, dass ich nicht trauriger als sie sein kann. Sonst ertrinken wir noch.”

Die Situation zu Hause verschlimmert sich, als Lucas Mutter ihre Arbeit verliert und immer häufiger im Bett liegen bleibt. Es kommen keine Männer mehr zu Besuch, die potentielle Väter sein könnten und auch Guilia, die Freundin von Lucas Mutter, lässt sich immer seltener sehen. Luca beobachtet seine Mutter auch manchmal dabei, Tabletten zu schlucken, kleine Pillen, die die Traurigkeit verschwinden lassen. Verstehen tut er das, was er sieht mit seinen neun Jahren noch nicht, auch wenn er mehr versteht, als er in diesem jungen Alter verstehen sollte.

“[…] aber Waise, nein, das ist wirklich übel, es ist, als würde dir ein Stück fehlen, und alle sehen nur dies Stück, das nicht da ist. Du bist nicht das, was du bist, sondern das, was dir fehlt.”

Lucas Angst davor, nicht nur Halbwaise zu sein, sondern auch Waise zu werden, hat einen triftigen Grund: Luca weiß, was mit den Kindern geschieht, die ihre Eltern verlieren. Diese Kinder kommen in ein Heim, etwas, das Luca auf gar keinen Fall möchte. Als Lucas Mutter eines Morgens nicht mehr das Bett verlässt und der kleine Junge realisiert, dass seine Mutter gestorben sein muss, ist für ihn sofort klar, dass niemand sonst davon erfahren darf. Luca lügt, um nicht ins Heim gehen zu müssen. Luca lügt, um nicht Vollwaise zu werden.

“Und so schlage ich mich heute irgendwie durch. Mama ist nicht aufgestanden, da kann man nichts machen, aber ich stehe auf. Ich mache mich allein fertig.”

Luca lebt sein Leben so weiter, wie zuvor. Er geht zur Schule, auch wenn er sich nun morgens etwas mehr anstrengen muss, um es pünktlich zu schaffen, und er trifft seine Freunde. Nachfragen wimmelt er ab, Freundinnen die anrufen vertröstet er. Geld für den Einkauf nimmt er aus der Schublade, an die er eigentlich nicht gehen darf. So schlägt sich Luca, gemeinsam mit seiner Katze Blu durch den neuen und ungewohnten Alltag. Er scheint nicht wirklich realisiert zu haben, dass seine Mutter nicht wieder aufsteht, stattdessen klammert er sich an die Hoffnung, dass sie wieder geheilt werden könnte, dass sie wieder aufsteht und es ihr besser geht. Dass diese Hoffnung vergebens ist, wird ihm an kleinen Begebenheiten aber immer wieder klar, beispielsweise als der Gestank aus dem Schlafzimmer so stark wird, dass Luca die Tür schließen muss.

“Sie sagen dir immer, dass du nicht lügen sollst, doch ohne Lügen wäre ich schon im Waisenhaus.”

Trotz der bedrückenden Situation, schlägt sich Luca tapfer durch den Alltag, wird aber immer wieder auch überschwemmt von Angst, Traurigkeit und Verlustgefühlen.

“Vielleicht ist Mama an Herzschmerz gestorben. Vielleicht haben weder ich noch die anderen sie genug geliebt. Vielleicht habe ich es nicht geschafft, sie in meinem Leben zu halten, sie wenigstens für mich leben zu lassen. Vielleicht bin ich nicht so viel wert, weder für sie noch für sonst einen.”

“Meine erste Lüge” ist eine schmale Lektüre, es sind kaum 200 Seiten, die das Buch umfassen. Der Roman wird aus der Perspektive von Luca erzählt und der Autorin gelingt es, sich sensibel und feinfühlig in ihre neunjährige Hauptfigur hineinzuversetzen. Als Leser habe ich fasziniert und atemlos den mutigen und verstörten Jungen begleitet, stellenweise über seine Gedankenwelt geschmunzelt, aber auch immer wieder schwer geschluckt. Einen Roman aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, ist kein ungewöhnlicher literarischer Schachzug, aber immer mit dem Risiko verbunden, dass es nicht gelingt, eine realistische Erzählstimme  zu erschaffen. Hier hat sich das Risiko gelohnt.

Marina Mander legt einen tragischen Roman vor, der von einer Hauptfigur lebt, die klug, humorvoll und sensibel ist. Eine traurige, beklemmende aber auch humorvolle Reise in die Gedankenwelt eines neunjährigen Jungen. “Meine erste Lüge” ist ein starker und berührender Roman und die Autorin erweist sich mit ihrem Romandebüt als eine gekonnte Erzählerin.

Ich lebe ich schreibe

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In der gestrigen Ausgabe der Literarischen Welt gab es ein wunderbares und lesenswertes Interview der Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Das Gespräch führte Paul Jandl. Beide sprechen über die Lust am Schreiben; der Schreibprozess ist für Friederike Mayröcker beinahe schon ein Erlebnis mit einer einhergehenden physischen Ergriffenheit. Ihr atemloser Satz “Ich lebe ich schreibe” steht symbolisch für diesen Schreibprozess. Paul Jandl spricht mit der Schriftstellerin aber auch über den Tod, vor dem sich Mayröcker fürchtet.

“Der Tod ist ja wirklich ein Tyrann, Weil man doch nicht weg will, man muss aber, weil er es will. Man hat noch nicht alles gemacht, was man noch machen will. Und ich will ja noch so viel.”

Ein lesenswertes Interview mit der Autorin gab es auch bereits vor einigen Monaten im Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Das neue Buch von Friederike Mayröcker erscheint am 21.10.2013 im Suhrkamp Verlag.

An diesem Tag lasen wir nicht weiter – Will Schwalbe

Will Schwalbe hat als Journalist bei der New York Times und als Cheflektor bei mehreren Buchverlagen gearbeitet. Seit seinem Ausstieg aus der Verlagswelt kümmert er sich vor allem um seine Online-Kochrezeptsammlung. Der Autor lebt heutzutage in New York. “An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist Will Schwalbes Debüt als Schriftsteller, er verarbeitet darin die schwere Erkrankung und den anschließenden Tod seiner Mutter.

“Während wir die meisten Dinge erlebten, von denen hier die Rede ist, wusste ich noch nicht, dass ich dieses Buch schreiben würde. Daher musste ich mich auf mein Gedächtnis und ein paar eher zufällige Notizen verlassen. Auf Papiere, Listen und Briefe, die Mom mir gegeben hat, auf E-Mails, die wir uns geschrieben haben, auf unseren Blog und die Hilfe von Familie und Freunden.”

Mary Anne Schwalbe ist 73 Jahre alt, als sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Zum damaligen Zeitpunkt ist die Krankheit bereits weit fortgeschritten. Die Mutter von Will Schwalbe befand sich zwar schon länger in ärztlicher Behandlung, aber der Krebs wurde nicht richtig diagnostiziert, da die Ärzte zunächst von einer seltenen Form der Hepatitis ausgingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Krebs von der Bauchspeicheldrüse bereits auf die Leber übergegriffen. Nach der Diagnose gaben die Ärzte Mary Anne Schwalbe nur noch wenige Monate Lebenszeit. Die Tatsache, dass sie noch in der Lage gewesen ist, beinahe zwei Jahre später ihren 75. Geburtstag zu feiern, ist ein erster Hinweis auf den Durchhaltewillen, die Kraft und den Lebensmut dieser bewundernswerten Frau.

“Ich könnte sagen, dass der Leseclub unser Leben wurde. Noch zutreffender wäre es, zu behaupten, unser Leben wurde ein Leseclub.”

Im Herbst 2007 gründen Will Schwalbe und seine Mutter einen Leseclub. Es ist ein kleiner Club, denn sie beide sind die einzigen Mitglieder. Ihr Stammtreffpunkt ist das Wartezimmer in der Memorial-Sloan-Kettering-Ambulanz.

“Unser Leseclub nahm seinen offiziellen Angang mit dem erwähnten Mokka und einer der beiläufigsten Fragen, die zwei Leute einander stellen können: ‘Was liest du gerade?'”

Diese Frage ist Anstoß und Ausgangspunkt für die Gründung des Leseclubs und gemeinsam beginnen Mutter und Sohn damit Bücher zu lesen: Klassiker, Kinderbücher, Neuerscheinungen. Das, was sie lesen, nehmen sie häufig zum Anlass, schwierige Dinge an- und auszusprechen und dafür, miteinander ins Gespräch zu kommen.

“Bücher waren für meine Mutter und mich immer eine Möglichkeit, Themen anzuschneiden und zu besprechen, die uns beschäftigten, manchmal aber auch unangenehm waren; außerdem lieferten sie uns ein Gesprächsthema, wenn wir gestresst oder verunsichert waren.”

Die gemeinsamen Gespräche zwischen Mutter und Sohn, Gespräche über die gelesenen Bücher, aber auch Gespräche über die Erkrankung und darüber, wie das Leben weitergehen kann, geben beiden sehr viel Kraft.

“An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist jedoch nicht nur ein Buch über den Tod und die Literatur, sondern auch die Biographie einer bewundernswerten Frau. Mary Anne Schwalbe ist zu einer Zeit, als dies für viele Frauen noch nicht üblich gewesen ist, nicht nur Mutter, sondern auch in ihrer Arbeit sehr engagiert. Sie ist die erste Frau, die in Harvard als “Director of Administration” arbeitet. Nachdem sie in Rente gegangen ist, engagiert sie sich in Kirchengemeinden und Organisationen. Ihr Alltag ist immer ausgefüllt, ein freier Tag bedeutet für sie, ihre E-Mails zu lesen und den Schreibtisch aufzuräumen. Es ist vor allem die Arbeit und das ausgefüllte Leben mit einem Netz an Freunden und Bekannten, die Mary Anne Schwalbe die Kraft geben, nach der Diagnose noch so lange weiterleben zu können. Das Projekt, das ihr dabei am meisten am Herzen liegt, ist die Gründung von Bibliotheken in Afghanistan. Mary Anne Schwalbe war überzeugt davon, dass Bücher und Literatur Gutes bewirken können.

Gemeinsam entdecken Mutter und Sohn die Kraft der Literatur, die sie schon immer geahnt haben, denn Bücher haben ein Leben lang in der Familie eine wichtige Rolle gespielt, die jedoch noch nie so elementar wichtig gewesen ist, wie zu diesem Zeitpunkt.

“Diese beiden Romane zeigten uns, dass wir uns nicht zurückziehen oder verkriechen mussten. Sie erinnerten uns daran, dass – egal, wo Mom und ich uns auf unserem jeweiligen Lebensweg gerade befanden – wir immer noch Bücher miteinander teilen konnten. Und während dieser Lektüre waren wir nicht ein kranker und ein gesunder Mensch, sondern einfach eine Mutter und ein Sohn, die zusammen eine neue Welt entdeckten. Die Bücher gaben und Bodenhaftung, die wir beide im Chaos und Durcheinander von Moms Krankheit so dringend brauchten.”

“An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist kein Krebsratgeber und kein Sachbuch, sondern der Bericht eines Sohnes, über seinen ganz persönlichen Umgang mit der Erkrankung und dem Tod seiner Mutter. Will Schwalbe wählt einfache Worte, die aber gerade aufgrund ihrer Offenheit und Ehrlichkeit eine große Kraft entwickeln. Mich hat dieser Bericht gerührt, doch gleichzeitig auch begeistert, denn zwischen den Zeilen strahlt die Geschichte von Mary Anne Schwalbe unheimlich viel Mut und Kraft aus. “An diesem Tag lasen wir nicht weiter” ist ein Zeugnis der Kraft von Literatur, aber gleichzeitig auch das Porträt einer kämpferischen und mutigen Frau.

Will Schwalbe hat ein kluges und intelligentes Buch geschrieben, voller Weisheit und Trost, über die Kraft der Liebe, den Zusammenhalt einer Familie und den Trost, den einem die Literatur geben kann. All dieses wird bereits zu Beginn des Buches auf eine einfache, aber kraftvolle Formel gebracht, die dem Buch förmlich als Überschrift gilt: “Lesen ist nicht das Gegenteil von Handeln, sondern das Gegenteil von Sterben”.

Ein Mann von Welt – Antoine Wilson

Antoine Wilson wurde 1971 geboren und wuchs in Südkalifornien auf. Für die Literaturzeitschrift A Public Space arbeitet er als Redakteur. “Ein Mann von Welt” ist der erste Roman von ihm, der in die deutsche Sprache übersetzt wurde. Der Autor lebt heutzutage in Los Angeles und betreibt einen eigenen Blog.

In dem Roman “Ein Mann von Welt” erzählt Antoine Wilson die Geschichte des liebenswerten Sonderlings Oppen Porter. Oppen Porter glaubt sterben zu müssen. Er liegt im Krankenhaus und ist sich ganz sicher, dass er im Gespräch von zwei Schwestern gehört habe, dass er die kommende Nacht nicht überleben wird. Er beschließt mit einem Kassettenrekorder und den einzigen Kassetten die er besitzt, seine Lebensgeschichte für seinen noch ungeborenen Sohn Juan-George aufzunehmen, um seine Erfahrungen an sein Kind weitergeben zu können.

“Alles was du wissen musst, ist irgendwo in meinen Erfahrungen enthalten, das ist meine Philosophie, aber ich fürchte, du musst selbst die Lehren daraus ziehen.”

Oppen Porter ist achtundzwanzig Jahre alt.

“In den ersten siebenundzwanzig Jahren meines Lebens passierte nichts. Ich bin jeden Tag mit dem Rad von unserem Fleckchen Wildnis in die Stadt gefahren, ich bin nach Madera gefahren und habe meine Freunde gefragt, ob sie Arbeit für mich hatten. Alle nannten mich Mayor […].”

Nach siebenundzwanzig ereignislosen Jahren nimmt sein Leben dann jedoch plötzlich rasant Fahrt auf. Es beginnt damit, dass sein Vater stirbt und Oppen seinem Wunsch folgt und ihn bei den beiden Hunden Ajax und Atlas im Garten vergräbt. Plötzlich steht die Polizei bei Oppen im Vorgarten und möchte den Vater wieder ausgraben. Oppen verlässt fluchtartig sein Heimatdorf in Kalifornien und zieht zu seiner Tante Liz nach Panorama City. Er geht dort mit dem Wunsch hin, “ein Mann von Welt” zu werden. In Panorama City arbeitet er in einem Fastfoodrestaurant, besucht eine religiöse Gemeinde und lernt Paul Renfro kennen. Oppen glaubt, in Paul einen guten Freund gefunden zu haben, einen Mann, der ähnlich denkt wie er – einen Intellektuellen. Doch dem Leser wird schnell klar, dass Paul Renfro nichts anderes ist, als ein Betrüger und Hochstapler.

“Und so endete mein erster ganzer Tag in Panorama City, der ereignisreichste Tag meines bisherigen Lebens, der Tag mit mehr Ereignissen darin als jeder andere Tag in siebenundzwanzig Jahren.”

Doch wie konnte es so weit kommen, dass Oppen Porter eingegipst und in dem Glauben sterben zu müssen in einem kalifornischen Krankenhaus liegt? Genau das und noch viel mehr wird von Antoine Wilson auf über 300 Seiten humorvoll und unterhaltsam erzählt. Trotz des leichten Erzähltons liegt über der Geschichte von Oppen Porter eine traurige Schwere. Oppen ist ein Sonderling, der von den Menschen, von denen er glaubt, dass es sich um seine Freunde handelt, zu einem Dorftrottel gemacht wird. Er hat eigentlich keine Freunde, er hat lediglich Menschen um sich, die sich über ihn lustig machen und Oppen ist zu lieb und zu naiv, um dies zu durchschauen. Es ist gerade diese Naivität, die ich immer wieder als herzzerreißend empfunden habe. Sein Umzug nach Panorama City ist für ihn eine Möglichkeit, nicht mehr der Dorftrottel zu sein, sondern noch einmal ganz von vorne zu beginnen.

“[…] ich dachte darüber nach, wie es wäre, Oppen Porter statt Mayor zu sein, ich dachte darüber nach, an einen Ort zu gehen, wo niemand je von meinem sogenannten Fehler gehört hatte, als ich im Wunschbrunnen nach Münzen gesucht hatte, wo niemand sich daran erinnerte, wie ich über den Lenker von einem Roller geflogen bin, als ich schauen wollte, ob das Licht funktioniert.”

Zwischendurch gibt es  auch ernsthafte und berührende Passagen, auch wenn der Roman überwiegend in einem leichten und humorvollen Ton gehalten ist. Berührend sind vor allem die Abschnitte, aus denen die Liebe spricht, die Oppen Porter für Carmen, die Mutter seines Sohnes, empfindet.

“Dein Unglück, dass du nie deinen Vater kennenlernen wirst, wird dadurch aufgewogen, dass du sie zur Mutter hast.”

“C: Wirklich. Mir wurde ganz eng um die Brust, ich hab mir mein ganzes Leben ohne dich vorgestellt, und mir wurde eng um die Brust. Ich habe Gott gesagt, wenn er dich leben lässt, würde ich dich nie wieder aus den Augen lassen.

O: Und was hat Gott gesagt?

C: Du bist hier, oder?” 

“Ein Mann von Welt” erzählt die Geschichte von Oppen Porter, der auszieht, um ein Mann von Welt zu werden, doch in Panorama City sein Glück einfach nicht finden kann. Seine Tante Liz hat ganz bestimmte Vorstellungen davon, wohin es in seinem Leben gehen soll, doch Oppen will eigentlich nur glücklich sein. Es ist ausgerechnet Paul Renfro, der betrügerische Hochstapler, der Oppen dabei hilft, einen Weg zu sich selbst zu finden und eine wichtige Entscheidung zu treffen.

Antoine Wilson ist mit “Ein Mann von Welt” ein herzzerreißender Roman gelungen, ein Roman voller Tragik und Humor. Oppen Porter ist ein liebenswerter Sonderling und vielleicht wäre unsere Welt eine bessere Welt, wenn es mehr Oppen Porters geben würde. Aber vielleicht können wir auch einfach damit anfangen, uns seine Philosophie einer idealen Welt zu Herzen zu nehmen:

“In meiner idealen Welt kennt jeder jeden, Fahrräder und Ferngläser bekommen den Respekt, den sie verdienen, so etwas wie Geld gibt es nicht, Denker haben Zeit zum Denken, jeder hat so viel Glück wie ich, und Leute werden da begraben, wo sie wollen.” 

Ergänzend zum Buch lohnt sich ein Blick in einen Artikel auf Necessary Fiction in dem Antoine Wilson über die Recherche zu seinem Roman berichtet. Auf der Seite Largehearted Boy gibt es zusätzlich eine Playlist zum Buch. Eine schöne Besprechung dieses Romans findet ihr auch bei Sophie von Literaturen.

Aus der Zeit fallen – David Grossman

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört heutzutage zu den wichtigsten israelischen Schriftstellern. 2010 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen von ihm 2009 der Roman “Eine Frau flieht vor einer Nachricht” und im vergangenen Jahr “Die Umarmung”. “Aus der Zeit fallen” ist sein neuester Roman.

“Wir sind hier und er ist dort, grenzewig zwischen hier und dort.”

“Aus der Zeit fallen” ist ein ungewöhnliches Buch. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nichts Vergleichbares gelesen. Bereits das Buchcover hat mich in seinen Bann gezogen. Wenn ich das Cover betrachte, blicke ich auf ein scheinbar ruhiges Bild, als würde ich in der Sonne sitzen und den Schatten der Bäume betrachten. Doch nach kurzer Zeit fällt ein kleiner Fleck ins Auge: vielleicht ein Loch, eine Lücke, eine Leerstelle, die die Harmonie durchbricht.  Als ich dann das Buch aufklappe, habe ich das Gefühl, mich in einer antiken Tragödie zu befinden: der Text ist nicht in herkömmlicher Prosa verfasst, sondern in Versen. Es gibt sogar einen Chor. In seinem Aufbau erinnert der Text an ein Klagelied, an eine Totenklage.

Der Tod ist das zentrale Thema von David Grossmans Roman “Aus der Zeit fallen”. Es geht um den Tod von Kindern und die Trauer der zurückbleibenden Eltern. Es geht darum, was der Tod eines Kindes mit einer Mutter oder einem Vater anstellen kann, wie er von einer Minute auf die andere die Beziehung der Eltern zueinander, aber auch zu ihrer Umwelt verändert. Die Geschichte wird von zwei Erzählstimmen getragen, dem Zentaur und dem Chronisten der Stadt, die beide fast durchgängig in Prosa sprechen. Alle anderen Rollen sprechen in Versen, in abgehackten Sätzen, die jedoch nach mehrmaligen – auch lauten – Lesen eine wunderschöne Sprachmelodie entfalten können.

Gemeinsam haben die unterschiedlichen Figuren im Roman, dass sie alle ihr Kind verloren haben. Ihre “Hölle” dokumentiert der Chronist der Stadt, der jedoch nicht nur Beobachter ist, sondern auch selbst betroffen, denn auch er betrauert den Verlust eines Kindes. Zunächst lernen wir einen Mann und eine Frau kennen. Beide bleiben namenlos, unterhalten sich in der Küche, sprechen jedoch eigentlich aneinander vorbei und nicht mehr miteinander. Sie wirken verbindungslos, als hätte jemand den Faden zwischen ihnen zerschnitten. Doch es gibt da etwas, das sie immer noch zusammenhält: ihr gemeinsames Kind, dessen Tod sie seit fünf Jahren betrauern.

“- Vielleicht wartet er, dass wir zu ihm kommen.

– Er nicht. Schon fünf Jahre lang immer nur: er nicht, er nicht.

– Vielleicht versteht er nicht, dass wir so leicht auf ihn verzichtet haben, so schnell, in dem Moment, als sie zu uns kamen und uns sagen …

– Schau mich an. Schau in meine Augen. Was soll das? Was tust du uns hier an? Das bin ich, siehst du? Das sind wir. Wir beide. Das ist unser Haus. Unsre Küche. Komm, setz dich. Ich tu dir Suppe auf.”

Doch es gibt nicht nur den Mann und seine Frau, es gibt auch noch den Herzog, die Fischnetzflickerin, die Hebamme, den Schuster. Sie alle haben ein Kind verloren, sie alle erheben in “Aus der Zeit fallen” ihre Stimme, um ihren Verlust zu betrauern. “Aus der Zeit fallen” ist nur 120 Seiten schmal, doch diese Stimmen entfalten auf den wenigen Seiten eine so unheimlich intensive und berührende Klage der Trauer und des Schmerzes, dass man sich dem als Leser kaum entziehen kann.

Auf dem Buchrücken erfahre ich, dass David Grossman seinen eigenen Sohn verloren hat. Uri Grossman fiel 2006 im Krieg im Südlibanon, getroffen von einer Panzerabwehrrakete. David Grossman beschreibt die Zeit nach dem Tod seines Sohnes als Exil. Der Trauernde geht ins Exil und lebt dort in einem “Land der Verdammung”. In seinem Roman wollte David Grossman dieses Land sprachlich erfassen, Worte finden für ein Leid, für das es eigentlich keine Wort gibt.

Eine der Stimmen in “Aus der Zeit fallen” setzt das “Land der Verdammung” mit dem Verlust des “einfach so gleich. Nach dem Verlust deines Kindes, ist es kaum mehr möglich, Dinge einfach so zu tun. Einfach so zu leben. Alles wird durchtränkt mit Schmerz, Trauer, Wut und Erinnerungen.

“Nicht ihn beweinen wir in diesem Augenblick – die Melodie des früheren Lebens beweinen wir, das ‘einfach so’, die Leichtigkeit, die Gesichter, noch glatt, ohne Falten.’

Die Frau fragt sich, ob sie je noch einmal ihren Mann erleben wird, wie er ohne das Nichtsein des Sohnes gewesen ist. Die einstmalige Identität und Existenz scheint nach dem Tod des Sohnes wie zugemauert, ein fremdes Land, in den es keinen Weg zurück gibt. Der Tod des Kindes ist eingebrannt, förmlich eingegrämt. Die Frau des Chronisten beschreibt sich selbst als entlebter Mensch, der weiterlebt, doch entseelt ist.

“Wie mit einer spitzen Schere wurde ich ausgeschnitten aus dem Bild meines Lebens. Eis der Einsamkeit, Mutterseeleneinsamkeit, Eis des Nichts brennt sich in meine Glieder […].”

Hilflos stehe ich manchen Sätzen gegenüber, unfähig das Leid eines Vaters begreifen zu können, der nach dem Tod seines Sohnes weniger ich, weniger Mensch ist. Mein Hals schnürt sich zu, als die verwaisten Väter und Mütter wie ein klagender Chor beginnen Fragen zu stellen. Fragen, wie sie Kinder stellen würden. Fragen, die in unserer heutigen hektischen Gesellschaft kaum mehr ihren Platz haben und die doch wahrscheinlich jeden bedrücken und umtreiben: “Im Grunde wollt ich dich fragen: Wie ist das, meine Kleine, wenn man stirbt. Wie geht’s dir dort? Wer bist du dort?” Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich Sätze lese, wie diesen: “Wenn sie – dort, wo du heute bist – wenn sie dir erlauben würden, wenn sie dich wählen ließen: Kämst du zurück? Hierher zurück? Zu mir?”

“Aus der Zeit fallen” besticht durch eine Sprachmacht, eine Sprachgewalt, die gewaltige Bilder und Metaphern formt. Am stärksten berühren mich die Stimmen der Trauernden jedoch in Momenten, die so simpel und gleichzeitig so unendlich bedrückend erscheinen: “Er starb im August, und als das Ende dieses Monats kam, dacht ich die ganze Zeit, wie kann ich weitergehn in den September, und er bleibt im August zurück?”

An dieser Stelle muss ich auch endlich die herausragende Arbeit der Übersetzerin Anne Birkenhauer erwähnen, die den Roman mit einem lesenswerten Nachwort abschließt. Ihre Arbeit an diesem Text ist bewundernswert. Sie hat wunderschöne Sätze geschaffen, verwebt die Satzbruchstücke der Trauernden in ein endloses Klagelied. Ihre Übersetzung ist poetisch und lyrisch und immer wieder stoße ich auf Wörter, die mich stolpern lassen, die ich in den Mund nehme und hin und her schiebe, immer wieder ausspreche und mich schließlich an ihnen erfreue, weil sie sich so passend anfühlen: grenzewig, ausgewurzelt, erinnerungsamputiert.

“Aus der Zeit fallen” umfasst lediglich 120 Seiten und doch hat es mich unfassbar tief berührt und tief im Inneren getroffen. David Grossman nimmt seinen Leser an die Hand und geht mit ihm zusammen in das Land der Verdammung, in ein Exil der Traurigkeit. Er lässt viele unterschiedliche Stimmen sprechen, die doch alle etwas ähnliches sagen: sie sprechen von der unendlichen Traurigkeit über den Verlust des eigenen Kindes.  Für mich ist dieses schmale und ungewöhnliche Buch, das sich jeder Einordnung und Kategorisierung verweigert, ein ganz besonderes Leseerlebnis gewesen. Schrecklich schmerzhaft und doch so lesenswert.

Abschied für Anfänger – Anne Tyler

419EcCyo6uL._SX311_BO1,204,203,200_Anne Tyler wurde 1941 in Minneapolis geboren und lebt heutzutage in Baltimore. Sie gewann für ihr Werk bereits den Pulitzerpreis und den Sunday Times Award for Literary Execellence 2012. Ich habe schon mehrere Romane der Autorin mit viel Begeisterung verschlungen. Auf sie aufmerksam geworden bin ich vor allem durch Jonathan Franzen, der über Anne Tyler sagt, dass sie “eine der besten Schriftstellerinnen englischer Sprache” sei.

“In gewisser Hinsicht […] ist der Kummer überdeckt, als wär eine Decke drauf. Er ist noch da, aber die schärfsten Kanten sind irgendwie eingemummt. Doch dann und wann lüfte ich eine Ecke der Decke, nur um mal nachzuschauen, und … Zack! Wie ein Messer! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das je ändern wird.”

In “Abschied für Anfänger” erzählt Anne Tyler die Geschichte von Aaron Wolcott. Aaron hat einen Schlag bei den Frauen, besonders bei seiner älteren Schwester Nandina, der sich jedoch vor allem darin äußert, dass sie ihn gerne bemuttern und bedauern, denn Aaron hat ein paar Behinderungen. Er hat ein gelähmtes Bein und einen gelähmten Arm:  “Nicht, dass es mich wirklich beeinträchtigen würde, aber man weiß ja, wie ältere Schwestern manchmal sind.” Aaron hat darüber hinaus auch eine Sprachbehinderung, er stottert. Nicht immer, aber häufig dann, wenn er aufgeregt ist. Doch dann lernt Aaron Dorothy Rosales kennen, Dr. Rosales, eine schlagfertige und selbstständige Frau, die ihr ganzes Leben ihrer Arbeit unterordnet. Doch eines Tages stürzt die Eiche aus dem Vorgarten auf ihr gemeinsames Haus und Dorothy stirbt mit dreiundvierzig Jahren.

“Abschied für Anfänger” wird aus der Perspektive von Aaron erzählt. Eine erstaunliche Entscheidung, dass Anne Tyler als Frau ihren Roman aus der Perspektive eines Mannes erzählt. Anne Tyler erzählt von Aarons Schwierigkeiten mit dem Tod seiner Frau umzugehen. Er wirkt förmlich wie in Trauer erstarrt. Noch einige Tage nach ihrem Tod bewohnt er weiter das gemeinsame – nun  fast völlig zerstörte – Haus. Erst als es beginnt durch das Dach zu regnen, löst er sich aus seiner Schockstarre und zieht zurück in sein Elternhaus, das nach dem Tod der Eltern von seiner Schwester Nandina bewohnt wird.

“Doch dann wachte ich richtig auf, und ich dachte: Oh, sie ist tot. Und es war kein bisschen leichter als ganz am Anfang. Ich schaffe es einfach nicht, dachte ich. Ich weiß einfach nicht, wie. Niemand bietet dazu Kurse an. Ich habe keinerlei Übung darin.”

Aaron ist als Lektor im Verlag seiner Familie tätig und beginnt bereits kurz nach Dororthys Tod wieder damit zu arbeiten. Er arbeitet in einem kleinen Zuschussverlag, der überwiegend mit einer ganzen Reihe von absurden Handbüchern für Anfänger Erfolg hat. Kochbuch für Anfänger, Mitbringsel für Anfänger, Suppen für Anfänger, Baby-Koliken für Anfänger … Auf diese Handbücher bezieht sich auch der Titel des Romans, denn Aaron ist Anfänger im Abschiednehmen und muss erst Schritt für Schritt lernen, Dorothy loszulassen und von ihr Abschied zu nehmen.

“Oder sie hatte anfangs versucht, ohne mich auszukommen, so wie ich anfangs versucht hatte, ohne sie auszukommen – über meinen Verlust ‘hinwegzukommen’, ‘einen Strich unter die Sache zu ziehen’, sie ‘hinter mir zu lassen’, all die albernen Phrasen der Leute, die einem in den Ohren liegen, dass man das Unerträgliche ertragen soll.”

“Abschied für Anfänger” beginnt mit dem Moment, in dem die verstorbene Dorothy ihrem Mann auf der Straße erscheint: ein Trugbild, eine tröstliche Halluzination, an die sich Aaron jedoch lange Zeit klammert.

“Es würde mich umbringen, wenn sie wegginge. Das hatte ich schließlich gerade erst durchgemacht. Ich glaubte nicht, dass ich es noch einmal überstehen könnte.”

Minutiös erzählt Aaron von dem Tag, an dem er Dorothy verlor. Von den Kleinigkeiten, die im Rückblick eine unfassbare Tragweite und Bedeutung erhalten. Aaron und Dorothy haben sich vor ihrem Tod gestritten. Es war ein sinnloser Streit, es ging um eine Kleinigkeit. Sie sind im Streit auseinander gegangen, jeder schmollend in sein Zimmer – kurze Zeit später war Dorothy tot. Wie soll man so etwas verarbeiten? Wie soll man so etwas ertragen? Wie soll man aufhören sich zu wünschen, die Zeit zurückdrehen zu können und Dinge ungeschehen zu machen? Diese Abschnitte haben mir teilweise die Luft beim Atmen abgeschürt und sich wie ein schwerer Brocken auf meine Brust gelegt – wie oft hat man selbst ähnlich dumme und sinnlose Auseinandersetzungen, nur ohne diese Konsequenzen.

“Dorothy, wenn ich die Zeit zurückspulen und uns wieder in unser kleines Haus versetzen könnte, würde ich mich nie wieder allein in ein Zimmer zurückziehen. Ich würde dir in die Veranda nachlaufen. Ich würde mich hinter dich stellen – du säßest an deinem Schreibtisch – und meine Wange auf deinen warmen Kopf legen, bis du dich umdrehst.”

Aaron fühlt sich wie “ausgelöscht, wie entzweigerissen”. Der Leser begleitet ihn durch diese schwere Zeit der Trauer, die sich wie ein dicker Mantel anfühlt, der alles andere überdeckt. Wie eine undurchdringliche Schicht, ohne Aussicht darauf, dass sich diese je wieder auflösen wird. Anne Tyler läuft in ihrem Roman jedoch nie Gefahr, in Sentimentalitäten abzugleiten – die Erzählstimme von Aaron ist erstaunlich humorvoll und seine Erfahrungen nach Dorothys Tod werden mit einem häufig lakonischen Unterton beschrieben. Stück für Stück begleitet der Leser Aaron zurück ins Leben und darf miterleben, wie es gelingen kann, irgendwann doch das Unerträglich ertragbarer zu machen. Aushaltbarer.

Anne Tyler ist ein großartiger Roman gelungen, der mich vor allem aufgrund seines unverwechselbaren Tons und einer unheimlich sympathischen Hauptfigur überzeugen konnte. Trotz des traurigen Themas, habe ich mich mit der Geschichte, die an keiner Stelle Gefahr läuft zu seicht zu werden, sehr wohlgefühlt. Ein Roman, der wie geschaffen ist für die kalte Winterzeit: kocht euch eine heiße Schokolade, kuschelt euch unter eine warme Decke und genießt dieses Buch. Jetzt! Sofort!  

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