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Die Bilder von Wolfgang Herrndorf

Seit dem 13. Juni diesen Jahres werden im Literaturhaus in Berlin die Bilder von Wolfgang Herrndorf gezeigt. Aufgrund der großen Resonanz wurde der Zeitraum der Ausstellung noch einmal verlängert – noch bis zum 6. September können interessierte Besucher und Besucherinnen einen Blick auf die Bilder in der Fasanenstraße werfen.

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Auch mich hat es am vergangenen Wochenende in das Literaturhaus verschlagen – als Schriftsteller ist mir Wolfgang Herrndorf natürlich schon da und dort begegnet, ab und an habe ich auch einen Blick auf seinen Blog geworfen. Wirklich kennengelernt habe ich ihn aber erst nach seinem Tod: Arbeit und Struktur habe ich – wie im Fieber – innerhalb weniger Tage verschlungen, später las ich dann noch Bilder deiner großen LiebeSand und Tschick liegen hier noch und warten darauf gelesen zu werden.

Bevor Wolfgang Herrndorf im Jahr 2010 mit Tschick ganz plötzlich den Durchbruch als Schriftsteller feierte, war er überwiegend Szenekennern ein Begriff: seine beiden Romane In Plüschgewittern und Diesseits des Van-Allen-Gürtels können als Achtungserfolge bezeichnet werden. Als Herrndorf mit Tschick durchstartete, war schon längst vergessen, dass der Schriftsteller, der 1965 geboren wurde, noch von 1987 bis 1993 Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert hatte. Anschließend hatte er viele Jahre als Illustrator gearbeitet – für die Titanic, den Haffmans Verlag und den Tagesspiegel.

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Das künstlerische Werk von Wolfgang Herrndorf zeichnet sich durch seine Vielfältigkeit aus: es gibt beeindruckende Selbstporträts und wunderbare Naturzeichnungen, es gibt aber auch Bilder, die sich mit Religion und Politik auseinandersetzen. Dazwischen finden sich zahlreiche bitterböse Karikaturen. In den zwei Ausstellungsräumen im Literaturhaus hängen nur 10 Prozent von dem, was erhalten werden konnte. Insgesamt hat Wolfgang Herrndorf ein künstlerisches Werk von über 600 Bildern hinterlassen. Einen Großteil der Bilder hat er vor seinem Tod zerstört – nachlesen kann man das in seinen Tagebüchern:

Während ich mit dem Teppichmesser auf die Leinwände losgehe, sitzt C. einfach da. Verzieht keine Miene, sagt nichts, vor allem nichts Beruhigendes, wartet, bis ihre Ruhe sich von selbst auf den Rasenden zurückübertragen hat. Dann bin ich ruhig und heule ihre Schulter voll.

Das, was erhalten geblieben ist, ist geprägt von einer Unvollständigkeit: viele der Bilder sind weder datiert noch betitelt. Doch diese Lücken trüben meinen Ausstellungsbesuch nicht

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Ich gehe an den Wänden entlang und fühle mich abwechselnd traurig, berührt und dann auch wieder gut unterhalten. Viele der Bilder lassen mich schmunzeln, der bitterböse und skurrile Humor Herrndorfs wird immer wieder deutlich und gefällt mir so gut. Über die Porträtreihe von Helmut Kohl muss ich sogar herzhaft lachen. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hatte schon lange aufgehört zu malen, als er damit begann, Bücher zu veröffentlichen und doch glaube ich, so viel aus seinen Büchern auch in seinen Bildern wiedererkannt zu haben.

Die Ausstellung von Wolfgang Herrndorf ist vieles zu gleich: sie ist so wunderbar vielschichtig, gleichsam berührend und gut unterhaltend. Wolfgang Herrndorf wirft in seinen Bildern einen Blick auf die Welt, der rückwärts gewandt erscheint. Er kopiert den Stil der Alten Meister, lässt auf seinen Bildern längst Vergangenes wieder aufleben. Auf einem kleinen Tischchen liegt ein Besucherbuch aus, in das ich noch schnell einen Blick werfe, bevor ich gehe: es ist erstaunlich, wie viele Menschen ein paar Zeilen zu dieser Ausstellung hinterlassen. Vielen geht es genauso wie mir: sie sind bewegt, aber auch seltsam glücklich.

Wer Lust bekommen hat, sich die Ausstellung anzuschauen, kann das im Literaturhaus Berlin tun. Dort gibt es auch einen Ausstellungskatalog mit Beiträgen von Oliver Maria Schmitt und Jens Kloppmann zu erwerben.

Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman – Wolfgang Herrndorf

Ein Jahr nach dem Tod von Wolfgang Herrndorf erscheint Bilder deiner großen Liebe, ein unvollendeter Roman und – wenn man so will – eine Fortsetzung von Tschick. Es ist eine Fortsetzung, die aus Bruchstücken besteht und die die Geschichte von Isa Schmidt erzählt. Wenn man an Tschick denkt, dann denkt man an Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, doch es gab da auch noch das seltsame Müllmädchen Isa. Bilder deiner großen Liebe erzählt ihre Geschichte.

DSC_1846Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.

In Tschick ist Isa Schmidt das Mädchen von der Müllkippe. Sie hilft Andrej und Maik dabei Benzin zu klauen und begleitet sie ein Stück auf ihrer gemeinsamen Reise, bevor sie die beiden wieder verlässt. In Bilder deiner großen Liebe bekommt Isa ihre eigene Geschichte, es ist eine Geschichte, die vor den Toren einer geschlossenen Irrenanstalt beginnt. Isa macht sich auf den Weg. Wohin genau, dass weiß sie selbst noch nicht. Hauptsache weg. Die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet, nutzt sie dazu, durch das riesige Tor aus riesigem Eisen abzuhauen – ohne Schuhe und mit nicht viel mehr als dem, was sie am Leib trägt.

Es macht einem nur wahnsinnig Angst, wenn man merkt, dass man gerade auf den Gehweg kackt und weiß, dass das nicht üblich ist und dass so was nur Leute machen, die verrückt sind, und diese Angst macht, dass es einem auch wieder ganz gleichgültig ist, was die anderen denken, ob die jetzt gucken oder nicht, weil man in dem Moment wirklich andere Probleme hat. Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde.

Isa begibt sich auf eine Reise, immer am Fluss entlang. Sie trifft auf Daniel, der in Afghanistan gekämpft hat. Wird von Max Hiller mitgenommen, der den Kanal mit einem Frachtschiff befährt. Trifft auf einen Juristen, der Schriftsteller geworden ist und über dessen Leben ein dunkler Schatten liegt. Der Lastwagenfahrer Teddybär nimmt sie mit und mit einem Bauarbeiter führt sie ein Gespräch über die erste große Liebe. Auch der Autor selbst schmuggelt sich, standesgemäß in grüner Trainingsjacke, in den Roman – Isa begegnet ihm zwischen lauter Gräbern auf dem Friedhof.

‘Wir sind beide gut und glücklich.’

‘Obgleich wir auch traurig sind.’

‘Aber da denken wir nicht dran.’

‘Da denken wir nicht dran.’

Isas Reise bleibt unvollendet, sie endet genauso plötzlich wie der Roman. Doch aus jeder Begegnung, die sie unterwegs macht, nimmt sie etwas mit. Aus jedem Gespräch behält sie etwas, hält sie etwas fest. Es ist eine Reise, die aus Bruchstücken und Fragmenten besteht, doch vereinzelt und zwischendurch gibt es so einige Sätze voller Klarheit, voller Schönheit und von erschlagender Erkenntnis. Einer dieser Momente ist die Feststellung von Isa, dass es keinen Unterschied macht, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden. Ein anderer Moment ist eine Stelle, an der steht, dass die Menschen mit schwierigem Schicksal glücklicher sind: Nicht die Normalen, das ist ein Naturgesetz.

Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin. Pappelsamen schneien um mich herum, und der süße Duft der Lichtnelken strömt durch die Nächte. Ich sehe einen Wald, aus dem vier hohe Masten aufragen über die Baumwipfel. Am Waldrand steht eine kleine Hütte, die Teil eines Wanderwegs ist, wie drei eingekastelte Zeichen verraten. Ein schwarzer Gedankenstrich, eine gelbe Schlange, ein rotes Dreieck. Mein Name. Unter dem Dachvorsprung lege ich mich hin.

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Manchmal ist der Sinn entstellt, manchmal stehen nur einzelne Wörter am Ende der Kapitel, ohne Zusammenhang. Auch Lücken gibt es, zahlreiche Leerstellen. Einmal berichtet Isa, ihr Vater sei von einem Meteoriten erschlagen worden, alle Zeitungen hätten darüber berichtet. An anderer Stelle erzählt sie, dass sich ihr Vater sicherlich um sie sorgt. Die Topographie des Romans ist genauso unstimmig wie die Jahreszeiten. Doch auf der anderen Seite spiegeln diese Unzuverlässigkeiten auch die Erzählerin wider, die vor lauter Verrücktheiten die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive wahrnimmt. Da überrascht es auch nicht, dass sie sich mit einem taubstummen Jungen unterhält. Die zweiunddreißig Kapitel des Romans erzählen weniger eine zusammenhängende Geschichte, als eine Reise in Fragmenten. Jedes Kapitel katapultiert den Leser in eine neue Situation, an einen anderen Ort. Die Entstehung des Romans, der nur 128 Seiten schmal ist, wird in einem erhellenden Nachwort von Kathrin Passig und Marcus Gärtner beleuchtet. Bilder deiner großen Liebe fußt auf einem neunzig Seiten langen Manuskript, das Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod fertiggestellt hatte. Ihm fehlte jedoch die Kraft, den Roman zu beenden, die Ungereimtheiten zu beseitigen, die Lücken zu schließen. Er wünschte sich jemanden, der das Buch für ihn zu Ende schreiben sollte, doch das ist nicht geschehen, stattdessen wurde dieser kaputte Roman veröffentlicht. Das ist sicherlich auch sinnvoll, denn neben all dem, das keinen Sinn ergibt, findet sich dann doch die Stimme des Autors wieder, die mal humorvoll ist und mal tieftraurig, geprägt von einer erschreckenden Kraft.

Und wenn mir einmal jemand begegnet wäre und hätte mir erzählt, dass dieser Tag und dieser Weg und wie ich Tag für Tag an immer genau der gleichen Stelle mit der flachen Hand über die Farnbläter streiche, während immer und immer die Sonne scheint, dass in meiner Erinnerung nur das zurückbleiben würde und dass ich nie glücklicher sein würde als in diesem Moment, dann hätte ich ihn angeguckt, wie du mich jetzt anguckst. Weil du nicht weißt, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde. Und darum erzähle ich dir das. Weil ich vielleicht der bin, der dir sagt, dass du mit der Hand über die Farne streichst, ohne es zu wissen. Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es längert dauert, das Unglück. Es ist einfach so.

Mit Bilder deiner großen Liebe setzte Wolfgang Herrndorf seinen Romanerfolg Tschick fort. Isa ist auch on the road, aber ihr Weg ist vor allen Dingen düster und von vielen Gedanken über die Zeit, den Sinn des Lebens und den Tod geprägt. Es ist eine Reise ohne Ende, denn es ist dem Autor nicht gelungen, den Roman noch vor seinem Tod fertigzustellen. Dennoch ist es eine außergewöhnliche Reise und eine wertvolle, eine lesenswerte, eine berührende Lektüre. Ein letzter Gruß eines großartigen Autors.

Ein Kampf aus der Perspektive des Lebens …

Collage MankellHenning Mankell hat gestern auf seiner eigenen Homepage bekannt gegeben, dass er an Krebs erkrankt ist: “Ich hatte einen Tumor im Nacken und außerdem einen Tumor in der linken Luge. Außerdem war zu erahnen, dass der Krebs bereits auf andere Körperteile gestreut haben könnte.” Diese niederschmetternde Diagnose erhielt der erfolgreiche Schriftsteller vor nicht gerade einmal zwei Wochen, dennoch ist er bereits jetzt dazu bereit, über seine Krebserkrankung in einer Kolumne zu schreiben. Die Perspektive möchte er dabei nicht auf den drohenden Tod legen, sondern auf das Leben und darauf, weiterzuleben. Diese Kolumnen werden in der FAZ in loser Folge veröffentlicht, aus dem Schwedischen übersetzt von Matthias Hannemann.

Hennig Mankell ist nicht der erste Schriftsteller, der seine Erkrankung öffentlich thematisiert: vor ihm taten dies bereits Christoph Schlingensief, Wolfgang Herrndorf und Jeff Jarvis, neben einigen anderen. Dabei taucht immer wieder die Frage auf, warum treten diese Menschen überhaupt mit ihrer Krankheit in die Öffentlichkeit? In der FAZ wird diese immer wiederkehrende Frage als “K-Frage” bezeichnet. Manche fordern sogar rigoros, dass über diese Krankheiten geschwiegen werden sollte. Henning Mankell beschreibt die Motivation zu seiner Kolumne mit dem Anliegen, dass es sich um Schmerzen handelt, “die auch viele andere Menschen beträfen”.

Natürlich gibt es mittlerweile eine ganze Industrie der Krebsliteratur und die Frage, warum es diese gibt, ist berechtigt. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, dass es Menschen gibt, die ihre Sorgen und Nöte in Bezug auf ihre Krebserkrankung thematisieren. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass es Menschen gibt, wie Wolfgang Herrndorf, die zeigen, dass es auch andere Wege geben kann. Die Erkrankung Krebs ist da, überall ist jemand betroffen und doch bleibt diese Erkrankung seltsam fremd. Für Christoph Schlingensief oder Wolfgang Herrndorf ist das Schreiben die nächstliegendste Ausdrucksform, denn sie sind beide Autoren gewesen und ich finde es gut, dass sie geschrieben haben. Genauso gut finde ich es, dass Henning Mankell sich entschieden hat, darüber zu schreiben ….

Arbeit und Struktur – Wolfgang Herrndorf

“Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. […] immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.”

Als ich die Schutzfolie des Buches entfernte, wusste ich, dass ich etwas Besonderes in den Händen halte. Etwas, für das sich nur schwer Worte finden lassen. Der Blog von Wolfgang Herrndorf, der mit “Arbeit und Struktur” denselben Titel trägt, wie das vorliegende Buch, war in der literarischen Netzwelt und auch darüber hinaus bekannt. Der Schriftsteller, der zunächst nur für sich und seine Freunde Tagebuch führte, die ihn drängten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, richtete seinen Blog mithilfe von Sascha und Meike Lobo im September 2010 ein. Sieben Monate zuvor, im Februar 2010, wurde bei dem 1965 in Hamburg geborenen Autor Krebs diagnostiziert: es handelte sich um ein Glioblastom, einen bösartigen Hirntumor. Es ist ein absolut tödlicher Tumor, von Anfang an geht es lediglich um die Frage, wie viel Zeit Wolfgang Herrndorf noch bleibt. Die Statistik, die er bemüht, spricht von “17,1” Monaten.

“Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)”

Nach der ersten Operation am Gehirn, es sollten noch weitere Folgen, verfällt Wolfgang Herrndorf in einen unbändigen Produktionstrieb. Er arbeitet wie wahnsinnig, um nicht wahnsinnig zu werden. Arbeiten bedeutet in seinem Fall schreiben. Mit seinen ersten beiden Veröffentlichungen, “In Plüschgewittern” und “Diesseits des Van-Allen-Gürtels”, feiert der Autor Achtungserfolge: es gibt gute Kritiken, aber kaum jemand kauft die Bücher. Nun führt der Autor innerhalb kürzester Zeit zwei Werke zu Ende, die schon lange unvollendet in der Schreibtischschublade lagen: das Jugendbuch “Tschick” und der Agententhriller “Sand” feiern 2010 und 2011 große Erfolge, diesmal nicht nur bei der Kritik, sondern auch beim Publikum.

“Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, ‘ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden’, usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?”

Das Schreiben hält den zerbrechlichen und fragilen Autor zusammen, das Schreiben hält die zermürbenden Gedanken an die Krankheit und den Tod fern. In einer Situation, in der andere sich entscheiden würden, aufzugeben, entscheidet sich Wolfgang Herrndorf dazu, sein Leben unter das Motto “Arbeit und Struktur” zu stellen. Wie sehr die Krankheit dennoch an ihm frisst, wird in seinem Tagebuch, vor allen in den Rückblenden, deutlich: Verzweiflung, Wahnsinn, Manie, Panikattacken und Todesangst bestimmen seinen Alltag, das einzige Gegengewicht, das Herrndorf setzen kann, ist die Arbeit und sein Umfeld, das aus einer Vielzahl an hilfsbereiten Freunden besteht.

“Nacheinander drei Teile vom Backenzahn ausgespuckt. Ja, mach dich vom Acker, Körper, hau ab, nimmt mit, was du tragen kannst.”

Wolfgang Herrndorfs Tagebuch ist ein berührendes Zeugnis eines schwerkranken Mannes, der sich trotz aller Verzweiflung darum bemüht, ein autonomes Leben zu führen und dieses zu genießen. Die Einschränkungen unter denen er leidet, nehmen im Laufe der Monate zu und doch lässt er sich das fast tägliche Bad im Plötzensee nicht nehmen, genauso wie das Fußballspiel mit Freunden. Wolfgang Herrndorf ist niemand, der aufgibt – beinahe hätte er mit “Isa” noch einen dritten Roman fertiggestellt, doch ein unverschuldeter Fahrradunfall raubt ihm Zeit und Kraft. Schultereckgelenkssprengung. Fürchterliche Schmerzen; eine OP wird zunächst als sinnlos eingestuft. Wolfgang Herrndorf erscheint wie eine tragische Figur, als wäre er noch nicht genug geschlagen mit dem Unglück dieser Welt.

“Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst.”

Trotz allem bewahrt sich der Autor ein gewisses Maß an Humor und eine ganz eigene, manchmal seltsam anmutende und immer wieder charmante, Perspektive auf die Welt. Der Angst vor dem Tod setzt er die Erleichterung dagegen, nie wieder zum Zahnarzt und keine Steuererklärungen mehr abgeben zu müssen. Sein Schicksal scheint er mit Fassung zu tragen, soweit dies überhaupt sagbar ist. Im Angesicht des drohenden Todes empfindet Herrndorf zunehmend Traurigkeit, doch nur selten Wut. Nur ab und an setzt er zu Hasstiraden an, zu deren Opfern Uwe Tellkamp (“Schwanzvergleich”), Martin Walser (“seniler Sack”) und Volker Weidermann gehören, genauso wie jegliche Anhänger von Theorien der möglichen Krebsheilung. Eine weitere wichtige Rolle im Tagebuch spielt auch die Literatur, zum einen Wolfgang Herrndorfs eigene Literatur, da der Leser beinahe teilnehmen kann am Entstehungsprozess von “Tschick” und “Sand”, zum anderen aber auch die Bücher von anderen Autoren und Autorinnen. Die Diagnose der tödlichen Erkrankung raubt Herrndorf jegliche Vorstellung von Zukunft und von allem, was neu ist – statt neue Bücher zu lesen, wendet er sich zurück und wirft einen Blick in die Vergangenheit und auf die Bücher, die er an bestimmten Punkten seines Lebens gerne gelesen hat, um sie erneut zu lesen und sein Urteil zu überprüfen. “Imperium”, von Christian Kracht, ist eine der wenigen Neuerscheinungen, die er liest; “Syntaxmassaker” ist das drastische Urteil, zu dem er kommt.

“Niemand kommt an mich heran / bis an die Stunde meines Todes. / Und auch dann wird niemand kommen. /Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.”

Neben allem anderen wirft das Buch aber auch eine ganz wichtige Frage auf, die Wolfgang Herrndorf an mehreren Stellen eindringlich thematisiert: es ist die Frage nach Sterbehilfe und der Wunsch des Autors, diese zu legalisieren. Für den Autor ist es das Wichtigste, selbst über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen. Der Zeitpunkt, an dem er spürt, dass er die Möglichkeit verliert, zu kommunizieren, ist der Moment, wo er entscheidet, sich das Leben zu nehmen. Es ist ihm ein Anliegen, dass die Art und Weise, wie er sein Leben beendet hat, offen kommuniziert wird “für Leute in vergleichbarer Situation”. Die Frage danach, wie man sterben darf, ist nicht leicht zu beantworten und doch ist es wichtig, dass sie von Wolfgang Herrndorf thematisiert wird.

“Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene.”

Kathrin Passig und Marcus Gärtner erklären im Nachwort, dass es der Wunsch von Wolfgang Herrndorf gewesen ist, seinen Blog als Buch zu veröffentlichen. Über die Gründe können wir nur rätseln. Nichts, von dem, was im Buch steht, würde man nicht auch frei zugänglich im Blog finden und doch ist für mich dieses Buch etwas Alternativloses. Es ist wichtig und richtig, dass es dieses Buch gibt. Krebsliteratur scheint beinahe schon ein eigenes Genre der Literatur zu sein, doch für mich ist “Arbeit und Struktur” keine Form des Weihnachtsmarketings oder der Vermarktung eines Gestorbenen (und ich befürchte, dass es nicht lange dauern wird, bis die ersten genau dies kritisieren werden), sondern ein Stück großer Literatur. Es ist ein Buch darüber, wie man leben kann, wenn man täglich damit rechnen muss, zu sterben. Es ist ein Buch darüber, wie jemand das restliche Leben, das ihm noch bleibt, nicht nur mit Arbeit füllt, sondern auch mit Glück. Die letzten Einträge des Tagebuchs, die immer kürzer werden, gehören zu den stärksten Passagen, die ich jemals gelesen habe.

“Jeden Abend der gleiche Kampf. Lass mich gehen, nein, lass mich gehen, nein. Lass mich.”

“Arbeit und Struktur” ist ein Buch über die großen Themen der Menschheit: über den Tod und das Leben. Kaufen. Lesen. Wohldosiert und vorsichtig. Und dann immer wieder: Immer wieder lesen.

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