Vor dem Sturm – Jesmyn Ward

Jesmyn Ward hat Literatur studiert, war Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Derzeit lehrt die Autorin Creative Writing an der University of South Alabama. Mit “Vor dem Sturm” gelang ihr ein Bestseller, der sowohl von der Kritik als auch von der Öffentlichkeit gefeiert wurde. Der Roman ist preisgekrönt und Jesmyn Ward erhielt dafür den National Book Award. Übersetzt wurde der Roman von Ulrike Becker.

Collage WardJesmyn Ward erzählt eine Geschichte in zwölf Kapiteln. Sie erzählt eine Geschichte, die einen Zeitraum von zwölf Tagen umfasst – jedes Kapitel steht für einen Tag und Kapitel für Kapitel arbeitet sich die Erzählung auf den unweigerlichen Höhepunkt zu. Es ist ein Höhepunkt des Schreckens, denn es ist der Tag, an dem das Land den Jahrhundertsturm “Katrina” erwartet. Der Hurrikan braut sich bedrohlich über dem Mississippi-Delta zusammen, einem Gebiet, das häufig von Wirbelstürmen betroffen ist. Dort lebt die fünfzehnjährige Esch mit ihrem Vater, ihren beiden älteren Brüdern Randall und Skeetah und dem Nesthäkchen Junior. Sie leben auf einer Lichtung im Wald, die von allen nur Pit genannt wird. Esch ist das einzige Mädchen und muss mit acht Jahren miterleben, wie ihre Mutter bei der Geburt von Junior stirbt.

“Und dann starb Mama, und ich hatte niemanden mehr, an den ich mich klammern konnte.”

Esch und ihre drei Brüder wachsen in Armut auf, zwischen Hühnern und Autowracks und mit einem Vater, der häufiger betrunken als nüchtern ist. Im Moment hat die Familie jedoch noch ganz andere Sorgen, denn durch den Wirbelsturm droht weiteres Ungemach. Das Haus muss sturmfest gemacht und Vorräte eingelagert werden. Und dann gibt es da noch China, die Pitbullhündin von Skeetah und ihre Welpen. Skeetah tut alles dafür, seine Hündin und ihre Welpen durch zu bringen, doch Liebe allein reicht nicht, denn die hungrigen Mäuler brauchen auch etwas zu essen. Skeetah träumt davon, die Welpen für viel Geld zu verkaufen, um seinem Bruder Randall den Traum zu ermöglichen, Basketballprofi zu werden. Alle wissen sich irgendwie zu helfen, doch allen von ihnen fehlt auch die Mutter. Besonders Esch, als einziges Mädchen in einer Welt, die von Männern dominiert wird, vermisst die liebevolle Zuwendung ihrer Mutter. Vor allem jetzt, wo sie erfahren hat, dass sie schwanger ist. Vater des Kindes ist Manny, der beste Freund von Randall, doch der will von dem Baby nichts wissen und Esch hat niemanden, dem sie sich anvertrauen kann.

“Ich versuche, nicht zu weinen. Ich will, dass er es weiß, aber ich kann es ihm nicht sagen, weil ich es nicht aussprechen kann. Ich habe es noch nicht mal zu mir selbst gesagt, nicht laut. Nur im Kopf hin und her gewälzt, seit ich die zwei Striche gesehen habe.”

Bei all dem, mit dem sich die Familie auseinandersetzen muss, gerät der Hurrikan, der wie eine drohende Todeswelle im Verborgenen lauert, immer wieder in Vergessenheit. Doch es ist der zwölfte Tag, der Tag, an dem der Rahmen der Erzählung an ein Ende geführt wird, an dem Esch und ihre Brüder das Schlimmste erleben …

Collage Ward 2

“Das Mädchenherz, das ich vor Manny den anderen Jungs geschenkt hatte, weil sie es haben wollten, nicht weil ich es ihnen geben wollte. Ich schenkte es ihnen, weil ich dann einen Moment lang Psyche sein konnte, oder Eurydike, oder Daphne. Ich wurde geliebt.”

Die Familie ist nicht zu Hause in der Welt der Sprache, statt liebevoller Worte herrscht häufig ein grober Umgang miteinander. Nichtsdestotrotz halten die Geschwister zusammen, immer wieder. Sie können es sich zwar nicht mit Worten sagen, aber kleine Gesten zeigen, wie große die Liebe füreinander ist. Der Vater ist Teil dieser Gemeinschaft, bleibt aber blass und mit der Trauer über den Tod seiner Frau beschäftigt. Es sind seine Kinder, die herausragen – die sich durch ein schmutziges Leben schlagen und dabei dennoch Liebe und Wärme füreinander haben. Besonders die Liebe zwischen Skeetha und China ist unheimlich berührend und intensiv geschildert, wobei auch diese unverbrüchliche und intensive Liebe einen Geschmack der Zwiespältigkeit erhält, denn Skeetha lässt seine Hündin an fürchterlichen Hundekämpfen teilnehmen.

“Ich bin schwanger. Ich richte mich auf und umschlinge meine Knie, reibe meine Augen an meinen Kniescheiben. Die schreckliche Wahrheit über das, was ich bin, flammt wie ein trockenes Herbstfeuer, da alle abgefallenen Kiefernnadeln verschlingt, in meinem Bauch auf. Da ist etwas.”

Jesmyn Ward hat sich mit Katrina und dem Sommer 2005 einem realen Themenkomplex zugewandt und die Umsetzung ist ihr hervorragend gelungen. “Vor dem Sturm” ist ein lesenswerter Debütroman über familiären Zusammenhalt, die Liebe und das Hereinbrechen einer unaufhaltsamen Naturkatastrophe. In der trostlosen Hoffnungslosigkeit, in der Jesmyn Ward ihre Figuren aufwachsen lässt, werden Erinnerungen an Daniel Woodrell geweckt. Doch bei Jesmyn Ward gibt es neben all dem Dunklen, Trostlosen und Hoffnungslosen auch ganz viel gegenseitige Liebe und Wärme. Es gibt nicht nur Dunkelheit, sondern es gibt auch Licht – das Licht ist manchmal ganz schön schwach und zittrig, aber irgendwie ist es dennoch immer da. Es ist vor allem die Figur von Esch, dem fünfzehnjährigen Mädchen, die die Lektüre besonders macht. Selten zuvor ist mir eine Figur aus einem Buch so ans Herz gewachsen, doch auch ihre Brüder, China und die Welpen sind mir ganz eng und dicht ans Herz gewachsen, so dass sich dieses in manchen Szenen ganz schmerzhaft verzogen hat.

Ich weiß nicht, ob das ein Qualitätskriterium für einen Roman ist, aber ich muss es jetzt und hier gestehen: ich habe beim Lesen stellenweise geweint und geweint und die Tränen machten die Seiten feucht und schwer. Jesmyn Ward ist mit “Vor dem Sturm” ein intensiver und berührender Roman gelungen, der eine bewegende Geschichte einer Familie erzählt, die im Abseits der Gesellschaft aufwächst. Ebenso berührend wie die Geschichte, ist die Tatsache erschreckend, dass es dieses andere Amerika überhaupt gibt. “Vor dem Sturm” ist ein guter und wichtiger Roman.

15 Comments

  • Reply
    saetzeundschaetze1
    January 11, 2014 at 1:56 pm

    Scheint genau mein Fall zu sein – danke für diesen Literaturhinweis! Das “andere Amerika” – man lernt es in zuwenigen Romanen der bekannten amerikanischen Autoren, seien es Cheevers, Yates, Roth oder Updike, kennen, einiges davon jedoch in den Büchern der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, wobei diese einen anderen, nicht so realen Stil pflegt. Also, dieses Buch besorge ich mir, auf dass der Bücherstapel niemals geringer wird…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2014 at 1:01 pm

      Toni Morrison habe ich schon lange auf dem Zettel, gelesen habe ich noch nie etwas von ihr, aber ich habe bereits gesehen, dass im Frühjahr ein neuere Roman von ihr erscheinen wird – vielleicht schlage ich dann ja zu. Ich lese amerikanische Autoren sehr gerne, aber das, was Jesmyn Ward beschreibt und einfängt, das fehlt sicherlich in den Texten von den von dir genannten Autoren. Um so mehr freue ich mich, dass die junge Autorin den Mut hatte, sich diesem Thema anzunehmen und es so berührend umgesetzt hat.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    masuko13
    January 11, 2014 at 3:38 pm

    Esch und ihre Brüder (einschließlich Pitbullhündin Skeetah) wachsen einem ans Herz, das stimmt! Ich hatte beim Lesen manchmal fast das Gefühl, Tom Sawyer würde mal eben durch die Geschichte spazieren. Man kann diese feuchtwarme Atmosphäre im Delta des Mississippi richtig fühlen. Und die Spannung, die sich aufbaut, wenn “Katrina” naht. Für dich war bestimmt auch die Rettungsaktion in den Fluten des Sturms die emotionalste Szene. Ich mochte das Buch wirklich gern, durch deine Rezension habe ich es aber nochmal ganz neu gesehen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2014 at 12:58 pm

      Liebe Masuko,

      ja, für mich waren vor allem die Szenen mit den Hunden und da ganz besonders die Rettungsaktion in den Fluten, sehr berührend und bewegend – ich weine selten bei Büchern, aber da flossen die Tränen unaufhaltsam (ähnlich wie bei Daniel Galeras Roman “Flut”).
      Schön, dass dir der Roman von Jesmyn Ward auch so gut gefallen hat, wie mir – das freut mich sehr. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    buechermaniac
    January 11, 2014 at 4:01 pm

    Jesmyn Ward hat sicher zu Recht den National Book Award gewonnen. Ich hatte das Buch bereits in einer Buchhandlung in Händen, weil es mich interessiert hat. Doch ich halte mich zurzeit etwas mit dem Bücherkauf zurück. Das andere Amerika gibt es schon ewig. In den 1980er-Jahren habe ich ein Buch eines Reporters gelesen, der über das schwarze, das arme, das verstörende Amerika berichtet hat, mit schaurigen Bildern. Es hat mich schon damals sehr aufgewühlt und die beschriebenen Menschen waren so weit weg vom “American dream”.

    Grossartig, dass eine Autorin sich diesem Thema auch heute noch annimmt.

    LG buechermaniac

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2014 at 12:56 pm

      Liebe buechermaniac,

      ich finde es auch wichtig, dieses andere Amerika, das angesichts der bunten und schillernden Welt im restlichen Amerika sehr wahrscheinlich leicht in Vergessenheit gerät, thematisiert wird. Jesmyn Ward gelingt dies beeindruckend authentisch, mit viel Empathie und einer Menge Wärme beschreibt sie ihre Figuren mit all deren Mängeln und Fehlern, aber auch mit den liebenswerten Seiten. Wenn du dich doch noch einmal für das Buch entscheiden solltest, wünsche ich dir viel Freude bei der Lektüre.

      Viele Grüße
      Mara

  • Reply
    Muromez
    January 12, 2014 at 2:15 pm

    Schöne Besprechung, die mein Interesse weckt.

    Überaus gelungen finde ich ebenso das Cover, was mich allein zum Buch greifen lassen würde.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 13, 2014 at 12:44 pm

      Lieber Muromez,

      danke für deine lieben Worte, ich freue mich darüber, dass ich dich neugierig machen konnte. Auch mir gefällt das Cover ausgezeichnet, das Buch war eines derjenigen, das ich nur schweren Herzens nach der Lektüre wieder zurück ins Regal gestellt habe, so nah ist es mir gegangen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Zeilenkino
    January 13, 2014 at 9:06 pm

    Mir hat “Vor dem Sturm” ebenfalls sehr gut gefallen und es gehört für mich neben “Wir Tiere” von Justin Torres zu den stärksten us-amerikanischen Debütromanen, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Dabei hat mich vor allem Wards poetische Beschreibung dieses archaischen Lebens berührt, die Verbindung des beinahe als mythisch erlebten Sturms und der intimen Familiengeschichte.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 15, 2014 at 1:02 pm

      “Wir Tiere” hat mir ja auch sehr gut gefallen, ich habe es als sehr eindrücklich empfunden. “Vor dem Sturm” hat mir noch ein klitzekleines bisschen besser gefallen, wie auch immer finde ich es aber toll, dass es im vergangenen Jahr so tolle neue Stimmen in der US-amerikanischen Literatur gab – ich freue mich schon auf mehr. 🙂

  • Reply
    danares
    January 15, 2014 at 4:52 pm

    Ohne viele Worte: Vielen Dank für diese tolle Empfehlung, Mara! 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 16, 2014 at 6:12 pm

      Gern geschehen, ich freue mich doch sehr, dass ich dich neugierig machen konnte! 😀

  • Reply
    Jesmyn Ward: Vor dem Sturm | Bücherwurmloch
    January 17, 2014 at 10:05 am

    […] sieht übrigens auch Mara von Buzzaldrins Bücher […]

  • Reply
    Mariki
    January 17, 2014 at 10:05 am

    Das ist so ein tolles Buch! Du hast es perfekt beschrieben.
    http://buecherwurmloch.wordpress.com/2014/01/17/jesmyn-ward-vor-dem-sturm/

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (3) | Buzzaldrins Bücher
    August 18, 2015 at 6:50 pm

    […] Ward – Vor dem Sturm […]

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