Portrait eines Süchtigen als junger Mann – Bill Clegg

Bill Clegg erzählt in “Portrait eines Süchtigen als junger Mann” seine eigene Geschichte. Bill Clegg ist Anfang 30, als er Mitbegründer einer erfolgreichen Literaturagentur in Manhattan wird, die es ihm ermöglichte, eine Menge Geld mit dem zu verdienen, was er gerne macht: dem Lesen von Büchern. Auch im Privatleben ist er glücklich: Er lebt in einer langjährigen Partnerschaft mit dem Filmemacher Ira Sachs, der im Buch das Pseudonym Noah erhält. Bill Clegg sieht gut aus, hat einen liebenden Partner und das Bankkonto ist prall gefüllt – niemand konnte damals ahnen, dass sich hinter dieser erfolgreichen Fassade ein zerbrechlicher Mann befindet.

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2005 verliert Bill Clegg für kurze Zeit jeglichen Bezug zu der Welt, die ihn umgibt. Er ist gerade einmal 33 Jahre alt, als er für zwei Monate in ein Delirium aus Crack, Alkohol und Sex stürzt. Es ist ein beispielloser Absturz, ein Absturz, der Bill Clegg alles entreißt, was ihm wichtig ist und alles zerstört, was er sich in jahrelanger Arbeit selbst aufgebaut hat. Er verliert nicht nur die Literaturagentur, sondern auch seinen Lebenspartner – die Beziehung zu Noah zerbricht an den Lügen und den Drogen. Irgendwann erträgt Noah nicht mehr die ständige Angst, die er um seinen Freund hat. 

“Ich weiß noch nicht, dass ich – hier und an ähnlichen Orten – über einen Monat so weitermachen werde. Dass ich dabei fast zwanzig Kilo abnehmen werde und mit 34 dann weniger wiege als in der achten Klasse.”

In dem Portrait eines Süchtigen als junger Mann legt Bill Clegg eine erschütternde Beichte ab und erzählt seine Geschichte, die Geschichte eines erfolgreichen und talentierten jungen Mannes, aus dem innerhalb kürzester Zeit ein paranoides und zum Skelett abgemagertes Wrack wird, das den Tag nur noch mithilfe von Alkohol und Drogen übersteht.

“Der schleichende Horror der letzten Wochen: Rückfall; weg von Noah, meinem Freund, knapp acht Tage vor Ende des Sundance Film Festivals; E-Mail an meine Geschäftspartnerin Kate, dass sie mit unserer Firma machen kann, was sie will, weil ich nicht wiederkomme; An- und Abmeldung in einer Entzugsklinik in New Canaan, Connecticut; die Übernachtungen im 60 Thompson Hotel und das Abtauchen in die kniestige Cracklandschaft von Marks Wohnung mit den Schnorrern, die immer da sind, wenn es jemand krachen lässt.”

Doch die Geschichte, die Bill Clegg erzählt, besteht eigentlich aus zwei Geschichten. In mehreren Rückblenden versetzt er sich zurück in seine Kindheit. Während alle anderen Abschnitte des Buches aus der Ich-Perspektive erzählt werden, werden die Passagen aus der Kindheit von einem personalen Erzähler erzählt, als müsste Bill Clegg sich selbst von diesen Ereignissen abschneiden, um sie überhaupt erzählen zu können. Er erzählt von einem Jungen, der nicht pinkeln konnte. Der manchmal Stunden auf der Toilette brauchte, ohne am Ende einen Erfolg verzeichnen zu können. Als er fünf Jahre alt ist, beginnen die Probleme, für die selbst ein Arzt keine Lösung finden kann. Seine Eltern reagieren mit Unverständnis, mit Ablehnung, mitunter sogar mit Herablassung. Diese Passagen erklären nicht die Sucht von Bill Clegg, sie sind keine Entschuldigung für sein Verhalten, aber sie sind vielleicht ein kleiner Baustein dessen, was später passiert.

Quelle: http://portraitofanaddict.com/

Beim Lesen wird schnell deutlich, dass Alkohol und Drogen bereits früh das Leben von Bill Clegg bestimmt haben. Den ersten Schluck Alkohol trinkt er bereits mit 12 Jahren, danach gibt es kaum eine Phase in seinem Leben, in dem Alkohol keine Rolle spielt. Während seines Studiums kifft und kokst er, später probiert er dann Crack. Doch Bill Clegg glaubt lange daran, dass er all dies noch unter Kontrolle hat. Er glaubt, dass er entscheiden kann, wann er wieder aufhören möchte. Doch diese Entscheidung wird ihm im Jahr 2005, als er zwei Monate lang lediglich nur noch eine Marionette der Drogen ist, abgenommen.

“Ich merke nichts von dem, was passiert ist oder noch passieren wird, während das Konstrukt, das mein Leben war, aus den Fugen geht – Schloss für Schloss, Klient für Klient, Dollar für Dollar, Vertrauen für Vertrauen.”

Nimmt man “Porträt eines Süchtigen als junger Mann” erst einmal in die Hand, ist es schwer, es wieder zur Seite zu legen. Bill Clegg zieht einen hinein in eine dunkle Welt des Untergrunds, eine Welt voller Drogen, eine schmutzige Welt der Hotelzimmer, überzogen von einer klebrigen Schicht aus Schweiß und Sperma, eine Welt, die man kaum betreten oder gar aushalten kann, wenn man nüchtern ist. Der Absturz wird schonungslos geschildert, auch dunkelste Momente werden nicht ausgespart und verschwiegen. Es ist bestürzend und erschreckend, wie Bill Clegg auf der Jagd nach der nächsten Crackpfeife das letzte bisschen Selbstachtung und Würde verliert. Es ist erschreckend, dass selbst die unerschütterliche Liebe und Sorge seines Freundes ihn nicht vor diesem bodenlosen Absturz bewahren können. Manchmal wollte ich dieses Buch weglegen, es zuklappen, weil ich vor lauter Scham angesichts dessen, was Bill Clegg tut, nicht mehr weiterlesen konnte.

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“Ich frage mich, ob irgendwo in diesem Haufen der Krümel steckt, der den Infarkt, den Hirnschlag oder den Herzanfall herbeiführt. Den Anfall, der all das zu einem jähen, willkommenen Ende bringt. Der Brustkorb wummert, die Finger sind versengt, und ich fülle meine Lunge mit Rauch.”

Bill Clegg durchlebt eine Hölle, die zwei Monate dauert. Zu Beginn dieser Zeit hatte er einen Freund, eine Literaturagentur und 70.000 Dollar auf dem Konto. Am Ende hat er nichts mehr. Doch es gelingt ihm , durch diese Hölle hindurch zu gehen und einen Weg hinaus zu finden. Nicht unbeschadet, aber immerhin immer noch am Leben. Es war ein Selbstmordversuch, der ihn in den Entzug führt. Es ist der erste Schritt auf dem Weg in ein gesünderes Leben. So ist es fast schon zwangsläufig, dass Bill Clegg sein Buch für diejenigen geschrieben hat, die sich noch inmitten dieser tosenden Hölle befinden: “Für alle, die noch da draußen sind”. 

In den Regalen von Buchhandlungen gibt es viele Bücher über die verheerenden Auswirkungen der Sucht, selten zuvor habe ich jedoch eines auf einem so hohen literarischen Niveau gelesen. Bill Clegg hat einen eleganten Roman geschrieben, der in eine wunderbare Sprache gegossen wurde.  “Portrait eines Süchtigen als junger Mann” ist eine schmerzhafte Lektüre: intelligent, scharfsinnig und ohne ein Fünkchen Selbstmitleid erzählt Bill Clegg seine Geschichte. Ich kann ihm nur möglichst viele Leser und Leserinnen wünschen.

Interessanterweise hat auch Ira Sachs, der langjährige Freund von Bill Clegg, die gemeinsame Beziehung aufgearbeitet, dabei entstanden ist der Film “Keep the lights on”.

16 Comments

  • Reply
    wildgans
    February 19, 2014 at 4:30 pm

    Harter Stoff! Hervorragende Rezension!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:20 pm

      Ich danke dir! 😀 Der Stoff ist in der Tat hart, aber lesenswert – wenn man es aushält.

  • Reply
    Henni
    February 19, 2014 at 4:42 pm

    Respekt, wieder mal eine ausgezeichnete Rezension, Mara!
    Du hast dir verdammt viel Mühe gegeben und dieses Buch auch sehr ernst genommen.
    Ich finde deine Sichtweise auf dieses Buch ist sehr respektvoll, es ist für dich ein Erlebnis, was du nur durch die Geschichte erfahren hast.
    Ich habe jetzt Lust auf mehr und werde es gleich auf meine Wunschliste packen!

    Was mich noch interessieren würde: Hast du den Film auch gesehen?

  • Reply
    masuko13
    February 19, 2014 at 8:11 pm

    Du triffst irgendwie meist genau den richtigen Nerv. Auch ich bin total beeindruckt. Muß in das Buch unbedingt mal reinschauen. Und der Film kommt auch auf meine Liste. Danke!!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:19 pm

      Liebe Masuko,

      den Film wollen wir auch unbedingt schauen, bereits der Trailer ist unheimlich viel versprechend. Ich finde es besonders interessant, dass es diesen Film gibt, da ich dies als Perspektiverweiterung empfinde. Beim Lesen habe ich mich immer wieder kopfschüttelnd gefragt, warum Ira Sachs das nur mitmacht, warum er nicht geht … da erhoffe ich mir auf jeden Fall Antworten durch den Film.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    haushundhirschblog
    February 19, 2014 at 9:58 pm

    Wir haben das Buch nicht gelesen. Aber wie Du hier darüber schreibst, wie Du Szenen lebendig werden lässt, diese Thematik, die sich jeweils in den unterschiedlichsten Nuancen zeigt und darstellt, das gefällt uns sehr!

    Und auch das gefällt uns:
    “In den Regalen von Buchhandlungen gibt es viele Bücher über die verheerenden Auswirkungen der Sucht, selten zuvor habe ich jedoch eines auf einem so hohen literarischen Niveau gelesen.”

    Wir bleiben aufmerksam und bedanken uns herzlich, liebe Mara, für Deine feine Rezension
    mb und dm

  • Reply
    lesenslust
    February 20, 2014 at 12:32 am

    Wow, harter Tobak. Also ist die Geschichte biographisch und erzählt aus dem Leben des Autors selbst? =)

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:17 pm

      Ja, es ist die eigene Geschichte von Bill Clegg. 🙂

  • Reply
    lesenslust
    February 20, 2014 at 12:37 am

    Das finde ich bemerkenswert, wenn man sein vergangenes Leben & seine Fehlentscheidungen in einem Buch für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Das ist ja fast so, als wolle er sich noch einmal den Spiegel vorhalten. Ich glaube, einfach war das nicht.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:17 pm

      Ich denke auch, dass das Schreiben dieses Buches in der Tat einen therapeutischen Effekt gehabt haben kann für Bill Clegg, er hat sich zumindest schonungslos mit den Dämonen seiner Vergangenheit auseinandergesetzt, dafür gebührt ihm auf jeden Fall Respekt. 🙂

  • Reply
    danares
    February 20, 2014 at 9:06 am

    Unabhängig von der sehr interessanten Thematik: Das Cover im Retro-Stil finde ich sehr gelungen. Ein richtiger Hingucker.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:16 pm

      Oh ja, das Cover hat mich auch zunächst zum Buch greifen lassen – muss ich gestehen, ich bin froh, das der Inhalt hält, was das Cover versprochen hat.

  • Reply
    kulturellematrix
    February 20, 2014 at 12:23 pm

    Das klingt sehr interessant.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 20, 2014 at 1:15 pm

      Freut mich, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂

  • Reply
    Lesenswertes #4 | unregelmäßige Gedankensplitter
    February 21, 2014 at 9:34 am

    […] buzzaldrins bücher findet ihr eine Rezension zu Portrait of an addict as a young man (rezensiert wird die […]

  • Reply
    The Man Booker Prize 2015 | Buzzaldrins Bücher
    July 29, 2015 at 11:44 am

    […] Ich hoffe auf Übersetzungen der Bücher von Anne Enright, Tom McCarthy und Hanya Yanagihara. Bill Clegg und Anne Tyler sind die einzigen Autoren, die ich bereits kenne und deren Bücher ich sehr gerne […]

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