Aleksander Hemon wurde 1964 in Sarajewo geboren, seit Ausbruch des Bosnienkriegs lebt er in Chicago. In Deutschland wurde er vor allem durch seinen Roman “Lazarus” bekannt, der mehrfach auf der SWR- und ORF-Bestenliste stand. “Das Buch meiner Leben” ist seine neuste Veröffentlichung und erschien im vergangenen Jahr im Knaus Verlag. Matthias Fienbork war für die Übersetzung verantwortlich.
“Der Krieg war gekommen, und nun warteten wir darauf, wer überleben, wer töten und wer sterben würde.”
Aleksander Hemon ist Schriftsteller, Immigrant und Vater. Er ist Vater einer Tochter, die lebt und Vater einer Tochter, die verstorben ist. Der Gedanke, dass dieser Mann nicht nur ein Leben lebt, sondern mehrere, ist nicht abwegig, deshalb ist die Wahl des Titels – “Das Buch meiner Leben” – beinahe zwangsläufig. Aleksander Hemon erzählt in diesem Buch seine eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte, die 1964 in Sarajewo beginnt, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester aufwächst. 28 Jahre später, im Jahr 1992, immigriert er in die USA. Ein kultureller Austausch führt ihn nach Chicago. Der Krieg hat ihn aus seiner geliebten Heimat vertrieben. 1993 folgen seine Eltern, seine Schwester und der Familienhund Mek – sie treffen als Flüchtlinge in Hamilton (Ontario) ein.
“Einwanderung führt zu einer Art Selbstverleugnung. In der Emigration bildet sich ein kompliziertes Verhältnis zur Vergangenheit heraus, zu dem Ich, das früher an einem anderen Ort lebte, wo die Eigenschaften, die uns ausmachten, nicht zur Disposition standen.”
Die Immigration spaltet das Leben von Aleksander Hemon in ein Vorher und Nachher. Nüchtern, aber erfrischend ehrlich und immer wieder humorvoll, zieht Aleksander Hemon Bilanz. Er erinnert sich zurück an sein Leben in Sarajewo, das zunehmend vom Bosnienkrieg überschattet wurde. Er erinnert sich an Momente, in denen er um das Leben seiner Freunde fürchtet, an Momente, in denen er um das Leben seines geliebten Hundes fürchtet. Er erinnert sich aber auch an eine natürliche Bindung, die zwischen ihm und seinem Heimatland bestand. In dem Leben, das er in Bosnien geführt hat, hat er sich wohl gefühlt – in einer abgelegenen Hütte verbringt er mit Mek häufig seine Wochenenden, liest manchmal zehn Stunden am Stück. Doch irgendwann lassen die Bomben sich nicht mehr überhören.
“Nach den Erfahrungen meiner Schwester bin ich oft geneigt, auf die Frage ‘Was sind Sie’ stolz zu antworten: ‘Schriftsteller.’ Aber das passiert selten, denn es ist nicht nur prätentiös, sondern auch ungenau – als Schriftsteller empfinde ich mich nur, wenn ich schreibe. Ich sage also, ich sei kompliziert. Ich würde auch gern hinzufügen, dass ich im Grunde genommen ein Wirrwarr unbeantwortbarer Fragen bin, ein Haufen anderer.”
Als Immigrant in Amerika beginnt für ihn ein ganz neuer Lebensabschnitt: der Verlust der Heimat und der Sprache ist einschneidend. Den harten Akzent legt er nur langsam ab. Aleksander Hemon blickt zurück auf seine ersten Wochen in Amerika und darauf, wie es ihm gelungen ist, sich diese neue Welt zu erschließen. Mit dem Sprechen von Englisch tut er sich lange schwer, doch bereits früh beginnt er damit, Englisch als seine Schreibsprache zu nutzen. Es entstehen erste schriftstellerische Texte.
“Zehn Stunden am Stück zu lesen hatte immer einen besonderen Effekt: Es versetzte mich in eine Art Trance, in der ich durchschnittlich vierhundert Seiten pro Tag schaffte. Das Buch verwandelte sich in einen großen Raum, in dem ich mich bewegte, selbst beim Essen, beim Wandern, beim Schlafen – ich bewohnte ihn. In der Woche, die ich für Krieg und Frieden brauchte, träumte ich regelmäßig von Bolkonski und Natascha.”
Im Juli 2010 ist Aleksander Hemon nicht mehr nur der bosnische Immigrant, sondern ein international erfolgreicher Schriftsteller. Seine beiden Leben hat er so gut er konnte in Einklang bringen können, um eine Identität hat er lange gerungen, doch durch das Schreiben ist es ihm gelungen, ihr nahe zu kommen. Zu Hause warten auf ihn seit einiger Zeit seine neue amerikanische Frau Teri und die beiden Töchter Isabel und Ella. Doch in diesem Moment des größten Glücks und innerer Zufriedenheit muss er die Erfahrung machen, dass sein neues Leben genauso brüchig ist, wie das alte. Glück ist nie fest, es kann einem so durch die Finger rinnen: Isabel erkrankt mit neun Monaten an einem aggressiven Hirntumor. Der Moment der Diagnose ist ein Moment, der das Leben von Aleksander Hemon erneut in ein Vorher und ein Nachher teilt. Er fühlt sich, als wäre er unter Wasser geraten, als würde er in einem Aquarium leben.
“Ich konnte nach draußen sehen, die Leute draußen konnten mich sehen (sofern sie überhaupt Notiz von mir nahmen), aber wir lebten und atmeten in zwei völlig separaten Welten. Isabels Krankheit und unsere Erfahrungen hatten nichts mit den anderen Leuten zu tun, betrafen sie nicht.”
Aleksander Hemon gelingt mit “Das Buch meiner Leben” eine unprätentiöse und lesenswerte Erzählung seines eigenen Lebens, die gespickt ist mit viel Humor (“Unsere Familie war keine demokratische Veranstaltung.”), aber auch mit tieferen Gedanken über den verheerenden Krieg in Bosnien und der Situation des Flüchtlings in Amerika. Er wirft Fragen zur Immigration und Identitätsbildung auf. Darüber hinaus reflektiert Aleksander Hemon die Bedeutung des Schreibens und den Tod seiner eigenen Tochter. Das Sterben eines eigenen Kindes muss wohl immer ein kaum beschreibbarer Moment sein, der das Leben in zwei Hälften teilt: in ein glückliches Vorher und ein bedeutungsleeres Nachher. Es sind wohl diese Passagen, die sich mit dem Sterben seiner kleinen Tochter beschäftigen, die mich am stärksten berührt haben.
“[…] wie tritt man aus solch einem Moment? Wie lässt man sein totes Kind da und kehrt zurück in den leeren Alltag dessen, was man als sein Leben bezeichnen könnte?”
In “Das Buch meiner Leben” setzt sich Aleksander Hemon lesenswert und sehr berührend mit den Momenten des Lebens auseinander, die das, was man Leben nennt, in ein Vorher und Nachher unterteilen. Wie geht man mit einschneidenden Veränderungen um, die sich nicht mehr umkehren lasen? “Das Buch meiner Leben” ist ein intensives Zeugnis über die Leben, die Aleksander Hemon lebt und die Kraft des Erzählens, des Schreibens und die Macht der Worte.
11 Comments
kulturellematrix
February 23, 2014 at 12:25 pmKommt auf jeden Fall auf meine Leseliste!
buzzaldrinsblog
February 23, 2014 at 12:32 pmFreut mich, ich fand es sehr lesenswert! 🙂
Petra Wiemann
February 23, 2014 at 12:33 pmWieder eine tolle Rezension von dir, die meine Leseliste erweitert! Besonders der Aspekt der Teilung in getrennte Lebensabschnitte durch ein einschneidendes Erlebnis spricht mich sehr an.
Karo
February 23, 2014 at 6:01 pmOh, ich habe gerade richtig Gänsehaut beim Lesen deiner Rezension bekommen. Das Buch klingt wirklich unglaublich bewegend und lebensweise, so wie du es beschreibst. Wirklich ein toller Tipp!
buzzaldrinsblog
February 24, 2014 at 6:13 amGerne, ich freue mich sehr, dass ich dich mit diesem Tipp neugierig machen konnte! Das Buch ist wirklich unheimlich lesenswert! 🙂
dasgrauesofa
February 23, 2014 at 6:28 pmLiebe Mara,
eine tolle Buchvorstellung und ein Autor, den ich noch gar nicht wahrgenommen habe. Möchte ich gerne lesen, kommt auf meine Liste. Vielleicht läuft es mir ja morgen im Buchladen ganz zufällig über den Weg…
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
February 24, 2014 at 6:12 amLiebe Claudia,
ich drücke dem Buch ganz fest die Daumen für eine zufällige Begegnung mit dir. 😉 Mir war Aleksander Hemon bisher auch unbekannt, auch wenn ich “Lazarus” im Regal stehen habe – gelesen hatte ich es noch nicht. Das werde ich aber nun unbedingt nachholen.
Liebe Grüße
Mara
seitengeraschel
February 23, 2014 at 9:29 pmDie Rezension hat es mir mal wieder angetan und das getextmarkerte Zitat… wow, richtig toll. Danke dafür.
buzzaldrinsblog
February 24, 2014 at 6:11 amGern geschehen, ich freue mich, dass ich dich neugierig machen konnte – das Zitat hat es mir auch angetan! 🙂
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